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Früchte des Zorns

TitelblattKrieg - Krise - Friedensbewegung

In Gefahr und höchster Not bringt der Mittelweg den Tod

Dezember 1983


Lauer Herbst - und kalter Winter?

Cruise MissileWas eine Bewegung im Bewußtsein ihrer Anhänger bedeutet und welche objektive Rolle in der Geschichte sie tatsächlich einnimmt, muß nicht dasselbe sein. Die Friedensbewegung hat - begünstigt durch ihre Zusammensetzung und durch ihre Struktur - schon immer zwischen Radikalisierung und Anpassung laviert und steht mittlerweile an einem entscheidenden Punkt. Denn so aufrichtig und zum Teil unbekümmert die Beweggründe der Mehrzahl ihrer Mitglieder auch sein mögen - was sie als politische Kraft in ihrer Gesamtheit hinterläßt, selbst wenn die Raketen längst stationiert sind, weist über ihren unmittelbaren Anlaß und ihr erklärtes Ziel hinaus und birgt die Gefahr in sich, daß zwar nicht die Pershing 2, wohl aber die radikale Linke und zentrale Inhalte ihres bisherigen Selbstverständnisses auf der Strecke bleiben.

Dem widerspricht nicht, daß es innerhalb der Friedensbewegung von Beginn an minoritäre Gruppen gegeben hat, die deren Abgleiten zur verstaatlichen Protestform durch die hartnäckige Behauptung autonomer Handlungsspielräume aufzuhalten versucht haben. Die Gegendemonstranten in Krefeld [47], jene Frauen, die im Hunsrück [48] auf ein Militärgelände vordringen und es kurzfristig besetzen konnten, die vielen Friedensinitiativen, die die Blockaden nicht nur als spielerische Selbstdarstellung, sondern als ernsthaften Versuch der Störung und Behinderung der Kriegstreiberei begriffen und praktiziert haben - sie alle standen für die Hoffnung auf eine massenhafte Radikalisierung, die tatsächlich an die Wurzeln des Systems geht, sich von Kriegsangst nicht blind machen läßt, sondern die atomare Drohung als letzte Konsequenz der Ausbeutungs- und Vernichtungsstrategien des hauseigenen Imperialismus begreift, der sich tagtäglich auf allen Ebenen reproduziert und uns nicht nur zu Opfern, sondern auch ständig zu Mittätern macht. Der Kampf gegen die "Nachrüstung" - wollte er wirklich ernst machen - hätte die Grundlage und Legitimation des Systems in Frage stellen müssen und schien gerade deshalb prädestiniert, zur Klammer und Vermittlung zwischen den unverbundenen sozialen, ökologischen, feministischen und anderen gesellschaftlichen Teilbewegungen zu werden, sie zu vereinheitlichen und zu potenzieren.

Dies war offensichtlich ein Trugschluß. Statt den imperialistischen Zusammenhang zwischen Rüstung und Krise, 3. Welt- Elend und Sozialabbau, Sexismus und Rassismus usw. herauszuschälen und an all diesen Demarkationslinien neue Fronten aufzumachen, ist genau das Gegenteil eingetreten.

Aus allen gesellschaftlichen Bereichen haben sich Leute zurückgezogen und auf die "Hauptgefahr" hin konzentriert und organisiert. Die überdimensionale Bedrohung schärfte nicht den Blick für Ursachen und Zusammenhänge, sondern ließ Angst und Verzweiflung ins Kraut schießen, bewegte sich immer weiter weg von den Wurzeln, wo sich die Frage "wer wen?" konkret stellt und auch mit schwachen Kräften effektiver Widerstand machbar ist. Die Dialektik, daß sich die Kämpfe, je größer und globaler die "Gefahr" ist, umso gezielter und heftiger gegen die Fundamente der Macht richten müssen, diese Dialektik hat die Friedensbewegung - ob bewußt oder unbewußt, sei dahingestellt - außer Kraft gesetzt.

Dagegen konnten sich auch die Versuche des autonomen Teils der Friedensbewegung, real zu behindern, zu stören, zu sabotieren, nicht durchsetzen. Die Hoffnung, der Protest gegen die "Nachrüstung" werde sich radikalisieren und zur Konfrontation mit dem Regime eskalieren, indem die Autonomen ihren sozialen und antiimperialistischen Widerstand eng an Formen und Inhalte der organisierten Friedensbewegung orientierten, hat sich nicht eingelöst. Die alte Erfahrung, daß sich eine Bewegung nicht von innen heraus kritisieren läßt, sondern sich Kritik inhaltlich und praktisch in einer Gegenbewegung verwirklichen muß, scheinen wir offensichtlich immer wieder von Neuem machen zu müssen.

Davon unberührt bleibt die Tatsache, daß viele im Protest gegen die Stationierung individuelle Erfahrungen gemacht haben, die ihnen niemand mehr nehmen kann - grundsätzliche Erfahrungen, nicht nur im Verhältnis zur Macht und ihrer Arroganz und Gewalt, sondern auch im Verhältnis zu sich selbst, zur eigenen gesellschaftlichen Rolle, zu den Beziehungen untereinander. In diesen Teilen der Friedensbewegung hat sich ein Widerstandspotential herauskristallisiert, dessen Bedeutung sich in den kommenden Auseinandersetzungen bewahrheiten wird. Und wenn aus dem Innenministerium Befürchtungen laut werden, daß sich die militanten Kerne der Friedensbewegung zur "neuen terroristischen Generation" entwickeln könnten, so spricht daraus nicht nur Propagandaabsicht, sondern auch das Eingeständnis, daß die Verstaatlichung des Protests nicht restlos geglückt ist. Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß die Teile der Friedensbewegung, die den Zusammenhang von "Nachrüstung" und Imperialismus thematisiert und praktisch angegriffen haben, stets in der Minderheit geblieben sind. In ihrer Mehrheit will die Friedensbewegung davon nicht wissen.

Im Gegenteil: die Analyse der Welt in die Kategorien des Klassenkampfes wird überlagert von einem scheinmoralischen Dualismus, der nicht zwischen oben und unten, sondern zwischen gut und böse unterscheidet. Das neue und doch so uralte Ideal, das zugleich gefährlich ist, weil es letztlich immer vor den materiellen Bedingungen kapituliert, ist wieder mal der friedfertige Mensch, der Klassenwidersprüche als Ausdruck menschlichen Fehlverhaltens begreift und sich ihre Lösung aus einer umfassenden moralischen "Runderneuerung" erhofft, während er hinter Konfrontationen und Kampf von unten die gleichen aggressiven Triebkräfte wittert wie in den menschenvernichtenden imperialistischen Globalstrategien. Aus dieser Sicht kann Friede nur die Folge massenhafter "persönlicher Abrüstung" und "moralischer Aufrüstung" sein und keinesfalls das mögliche Resultat einer Entwicklung, in deren Verlauf um die Abschaffung von Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnissen gekämpft wird. Hier hat das fadenscheinige Argument, daß man zunächst einmal mit sich selbst ins Reine kommen müsse, um die Sache des Friedens überhaupt glaubwürdig vertreten zu können, seine Basis; hier gilt, daß die Hände zum Beten gefaltet werden, damit sie sich nicht zu Fäusten ballen können.

ArompilzIn diesem moralisch- religiösen Weltbild schließen sich Engagement für den Frieden und Klassenkampf antagonistisch aus, weil der Kampf als solcher das Problem ist, gegen das man sich zusammengeschlossen hat. Die Friedensbewegung in ihrer Masse will nicht Widersprüche vorantreiben und austragen, sondern sich gegen sie abschotten. Sie sucht Oasen der Ruhe in einer Welt voller schreiender Gegensätze. Die Friedensgemeinde ist nicht nur Rückhalt angesichts der atomaren Bedrohung, sondern zugleich Objekt jener Vision von Ganzheit, von "heiler Welt", die in der Realität in die Brüche geht. Vielleicht erklärt sich aus diesem überwältigenden Harmoniebedürfnis die kaum begreifliche Mischung aus demonstrativer Angst und beschaulicher Gelassenheit, der man auf den Kundgebungen der Friedensbewegung begegnet. Vielleicht liegt darin der Grund für die offensichtliche Diskrepanz zwischen der Dramatik, mit der die Folgen eines Atomkriegs ausgemalt werden und der penetranten Harmlosigkeit ihrer Aktionsformen. Die Demutsgesten und die Opferbereitschaft, die Frömmelei und der missionarische Eifer, die innere Leere, ja Seichtheit, die einem auf Friedensfesten entgegenschlägt - all dies sind Indizien dafür, daß der Protest gegen die Raketen vor allem als Pazifisierung nach innen, als Entschärfung der "Zeitbombe", die jedes Herz sein könnte, verstanden und gehandhabt wird.

Es läßt sich wahrscheinlich nicht genau ausmachen, ob die Entpolitisierung und Moralisierung der Friedensbewegung die Bedingung oder der Preis für den Einstieg und den zunehmenden Einfluß der Grün- Alternativen, der Kirchen, der traditionellen Kommunisten und Sozialisten und schließlich der Integrationsapostel aus den Reihen der Sozialdemokratie - die, noch im Besitz der Macht, genauso knallhart stationiert hätte - waren. Gleichwohl ist ihnen allen der Vorwurf zu machen, daß sie der gemütlichen Grundstimmung innerhalb der Friedensbewegung nicht entgegengewirkt, sondern sie vielmehr genährt und genutzt haben, um ihr plattes Konzept der Verbreiterung, das in dem bloßen Anwachsen einer Bewegung bereits ein Zeichen für ihre Stärke sieht, durchzusetzen.

Doch weder dieser Vorwurf, noch die xte Auflage der "wer hat uns verraten?"- Klage, noch die richtige und absolut notwendige Kritik an Führungscliquen, Staatsverträgen und "Standleitungen" beantworten die brisante Frage, ob das konservative Grundmotiv innerhalb der Friedensbewegung lediglich deshalb so breite Resonanz findet, weil es nicht praktisch mit einer klassenkämpferischen Bewegung und Kultur konfrontiert wird oder ob heute - angesichts der ständig eskalierenden Drohungsspirale - breite Volksbewegungen nur zu den Bedingungen eines derartigen moralisch- religiösen Weltbilds zu haben sind und ob sich wirklich das Prinzip Hoffnung immer weniger am Menschen und seiner Fähigkeit, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen - also am Klassenkampf - festmacht, sondern sich jenseits aller materiellen Verhältnisse "Rettung und Heil" aus einer klassennegierenden, herrschaftsverbrüdernden "moralischen Umkehr" verspricht. Die weltweite Renaissance der Religionen, Sekten, Mythen und Mysterien könnte hierfür ein Indiz sein. Wie auch immer - die Hintergründe dieses Phänomens haben wenig Mysteriöses an sich. "Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur", schreibt Marx und die Drangsal wird täglich neu geschürt. In unablässiger Folge spucken die Administrationen der Macht globale Endzeitstudien und Katastrophenszenarios aus, nichts wird hinterm Berg gehalten, bemäntelt oder beschönigt. Noch nie hat ein System die verheerenden, menschenvernichtenden Konsequenzen seiner Herrschaft derart offen und offensiv propagiert und von sich aus - ohne jegliche Zensur - ständig neues Tatsachenmaterial über seine überdimensionale Bedrohlichkeit ins Volk lanciert. Die sich überschlagenden Konjunkturen von Angst und Schrecken haben Methode, entspringen eiskaltem Machtkalkül, sind eine Waffe. So werden die Raketen nicht klammheimlich untergeschoben - wie vor ihnen Generationen von Waffensystemen - sondern schon vor ihrer Fertigstellung in alle Kanäle der gesellschaftlichen Kommunikation gepreßt. Verhandlungen werden inszeniert, um das heiße Thema ständig am Köcheln zu halten:

"Gute Durchsetzungsbedingungen erwarten sich die Politstrategen davon, daß zwar der konkrete Inhalt der Konsultationen geheim bleibt, das Verfahren und der Zweck allerdings offensiv in die Öffentlichkeit getragen wird, damit die möglicherweise erforderlich werdenden Opfer und Kollektivmaßnahmen innenpolitisch gestützt werden." (aus: Die Sicherheit des Westens - Neue Dimensionen und Aufgaben).

Weil der Imperialismus Proteste gegen die militärische Eskalation nicht von vornherein ausschalten kann, zieht er alle Register, um dessen Stoßrichtung in seinem Sinne zu steuern und die berechtigte Kriegsangst zur "Massenpsychose" umzudrehen, die er im Interesse der Durchsetzung des Projekts der Zukunft mobilisieren kann. Damit wird selbstverständlich nicht die Angst vor der atomaren Aufrüstung gegenstandslos oder als Paranoia denunziert. Denunziert werden muß aber ihre absichtsvolle und manipulative Inszenierung durch die Macht:

  • Denunziert werden muß jeglicher Versuch, Katastrophenstimmung zu schüren und wachzuhalten, damit das Regime umso freiere Hand bei der Umsetzung des imperialistischen Projekts nach innen hat. Im Schatten der Vernichtungsdrohung wird die "Wende" angepeilt, wird die Auflösung des "Wohlfahrtsstaats" [49] betrieben, werden die Weichen zu einer neuen Politik der Verarmung, der Vertreibung und Vernichtung gestellt. Die Krisenstrategen verschaffen sich freie Bahn, indem sie Folgen der Krise als das kleinere Übel und notwendiges Opfer verkaufen, das zur Vermeidung einer weitaus größeren Katastrophe gebracht werden muß. Die Utopie einer freien Gesellschaft fällt einer politischen Moral anheim, deren einziger Wert im physischen Überleben der Menschheit besteht.
  • Denunziert werden muß jeder Versuch, Endzeitstimmung propagandistisch anzuheizen, um dem gesellschaftlichen Individuum seine Ausgeliefertheit und seine Machtlosigkeit einzuhämmern. Das Gefühl der überwältigenden Bedrohung wird in dem Maße zur Legitimationsgrundlage für den imperialistischen Staat, wie "Lösungen" nicht mehr gegen die Herrschenden, sondern nur noch im Verein mit ihnen möglich erscheinen. Je brutaler die Krise exekutiert wird, umso stärker wächst das Heer der eifrigen kleinen Polit- und Militärstrategen, die den Mächtigen dieser Welt Ratschläge andienen, was sie wie besser machen könnten. Auf allen Kanälen wird der Dialog mit der Macht wieder geknüpft, richtet sich die Hoffnung auf Parlamente, Ministerien, Abgeordnete, ja selbst den Sicherheitsapparat und es gerät dabei in Vergessenheit, daß "die Beziehung einer Emanzipationsbewegung zur Politik nicht partizipativ sein darf, sondern destruktiv sein muß" (Agnoli [50])
  • Und schließlich muß jeder Versuch denunziert werden, jene Mischung aus apokalyptischer Grundstimmung, abstrakter Friedenssehnsucht und sozialer Begriffslosigkeit, die für die Friedensbewegung so typisch ist, dazu auszunutzen, um ganz anderen Forderungen und Zielen die Legitimation einer Massenbasis zu verschaffen. Die Übungen in Machtunterwerfung, die Dressur von Gewaltfreiheit, der Konsenszwang in Bezugsgruppen sind nicht so harmlos, wie sie auf den ersten Blick aussehen. Das darin verwurzelte Gefühl moralischer Überlegenheit könnte sich in Verbindung mit der immer wieder geschürten Angst vor totaler Vernichtung leicht als hochbrisantes Gemisch erweisen, das seine Sprengkraft allerdings in ganz anderen Konstellationen entfaltet. Die Grenzen zwischen missionarischem Eifer und Kreuzzugsmentalität sind bekanntlich fließend. Die Gefahr liegt nicht allein darin, daß die Friedensbewegung Resignation und Verzweiflung hinterläßt, sondern daß sie zum Durchlauferhitzer einer politischen Programmatik wird, die ihre ursprünglichen Intentionen bis zur Unkenntlichkeit verzerrt.

ButtonWie leicht das dumpfe Gefühl der Bedrohung umschlagen kann, gegen ausgemachte "Störenfriede" mobilisierbar ist, haben die organisierten Teile der Friedensbewegung in ihrer Reaktion auf das autonome und militante Spektrum - insbesondere nach Krefeld - anschaulich vorgeführt. Die Heftigkeit und Wut, mit der dort auf der Seite des Staates gegen die "Chaoten" vom Leder gezogen wurde, ist lediglich die häßliche Fratze, die Kehrseite des Ideals vom guten Menschen. Es mag persönliche Motive und auch sonst gute Gründe geben, warum es in bestimmten Situationen falsch oder fragwürdig ist, seine Ziele mit gewaltsamen Mitteln zu verfolgen. Wo Gewaltfreiheit aber zum unantastbaren Prinzip erhoben wird, an dem sich gut und böse scheiden, geht es nicht um Argumente, sondern um Unterordnung und Gehorsam. Mit ihren Distanzierungen und Denunziationen haben die Friedensfunktionäre vor allem eines klargestellt: daß sie den Maßstab, dem sie sich verpflichtet fühlen mögen, längst als Machtanspruch über die gesamte Bewegung verstehen und handhaben.

Natürlich steht dahinter weniger Moral als vielmehr politisches Kalkül: es setzt auf "den historischen Kompromiß im Innern", der im übergeordneten "Interesse der Erhaltung als Gattung" (Bahro) geschlossen werden soll und als dessen Wegbereiter und Garant die Führungsschicht der Friedensbewegung nach unten abwiegelt und nach oben Verträge schließt - ganz so als ließe sich der Verzicht auf die Raketen gegen das Angebot der Sozialpartnerschaft einhandeln. Wenn Robert Jungk [52] behauptet, daß, wer "Nie wieder Krieg" sagt, auch "Nie wieder Bürgerkrieg" sagen müsse, dann stellt er die wirkliche Alternative der Geschichte - Sozialismus oder Barbarei, Bürgerkrieg oder Völkermord - endgültig auf den Kopf. So verhindert man nicht imperialistische Kriege, sondern im Gegenteil: so strickt man mit am inneren Frieden als eine ihrer zentralen Vorausetzungen.

Dennoch: im lähmenden Streit um die Gewaltfrage droht unterzugehen, daß der "historische Kompromiß" nur Vehikel ist, um ganz anderen Zielen Nachdruck zu verleihen. Organisierte Teile der Friedensbewegung schicken sich an, ihr politisches Süppchen auf deren Rücken zu kochen. Ihre Kritik an der "Nachrüstung" geht weiter über die Raketenfrage hinaus und mündet in der Perspektive einer blockfreien Großmacht Europa. Wenn die Hegemonialmächte den Krieg wollen und man selbst den Frieden - so die fatale Logik - dann muß man selbst nur stark genug werden, um die anderen zur "Vernunft" bringen zu können. "Wir müssen leider selbst gefährlich werden, um den Frieden zu wahren", hat Manes Sperber die Perspektiven der Friedensbewegung aus französischer Sicht abgesteckt, als ihm der Friedenspreis übergeben wurde. Ist es nur Schlamperei, daß sich kein Bastian [54] und keine Petra Kelly [55] dagegen empört haben - oder ist es stillschweigendes Einverständnis? Und da in Europa nichts läuft, ohne daß an der "deutschen Frage" gerührt wird, ist von links das Problem der Wiedervereinigung aufgeworfen worden. Im vorgeblichen Interesse der Abrüstung wird so an der Fiktion eines "progressiven" deutschen Nationalismus gewerkelt - eines Nationalismus, in dessen Namen nicht nur zwei verheerende Weltkriege entfesselt, sondern auch jene Endlösung, jener Holocaust inszeniert wurden, als deren zukünftiges Opfer die Friedensbewegung heute demonstratives Massensterben veranstaltet. Geschichte verkehrt!

Die Legende von der "Geisel" Europa und die Parole von der "besetzten" BRD, die zwischen den Supermächten USA und UdSSR zermalmt zu werden droht, tragen nicht nur zur Verharmlosung und Entschärfung des westdeutschen und westeuropäischen Imperialismus bei. Sie dienen den grün- sozialdemokratischen Politstrategen darüberhinaus zur Begründung einer souveränen europäischen und deutschen Politik, deren materielle Basis selbst gar nicht mehr zur Debatte steht:

"Wir bemühen uns, eine eigene europäische Politik zu betreiben - wenn dies die konkrete Alternative ist, dann sage ich ja, die unterstütze ich. Ich würde sie auch dann unterstützen, wenn sie eine lupenreine kapitalistische wäre." (Dan Diner/SB [56])

Zum lupenreinen Kapitalismus gehört der Expansionismus wie das Salz zur Suppe. Ein lupenreiner Kapitalismus hält sich nicht an die Grenzen des Nationalstaats, sondern muß auf der Jagd nach Profiten diese immer wieder überschreiten. Lupenreiner Kapitalismus hat wenig mit Frieden und dafür umso mehr mit Imperialismus und Krieg zu tun. Das gilt auch und in zunehmendem Maß für das westdeutsche Kapital, dessen Wiedererstarken in dem scheinbar progressiven Postulat nach "Überwindung des Blocksystems" lediglich ideell nachvollzogen wird. Die innerimperialistische Kräfteverschiebung schlägt sich in der Forderung nach einer neuen Nachkriegsordnung nieder. Dem westeuropäischen - namentlich dem westdeutschen - Kapital soll endlich das Stück vom Kuchen der weltweiten Ausbeutung zugestanden werden, das seinem ökonomischen Gewicht angemessen ist.

"Blockfreiheit" - im Namen des Friedens massenwirksam vermittelt - das ist das Wasser auf die Mühlen derer, die sich von einem "neutralen" Westeuropa Spielraum für einen flexibleren imperialistischen Kurs versprechen.

Daß die innerimperialistische Konkurrenz hinter den globalstrategischen Interessen der NATO- Staaten gegenüber dem Rest der Welt zurücksteht, haben wir gesagt. Ein "blockfreies" Europa ist keineswegs neutral, bedeutet nicht Abkopplung vom Westen, also Schwächung des imperialistischen Lagers, sondern Verdopplung seiner Macht. Die Revision von Jalta [57], die quer durch die politischen Parteien propagiert wird, zielt auf die Überwindung der europäischen Teilung unter westlicher Flagge, zielt nicht auf ein "atomwaffenfreies", sondern auf ein kapitalistisches Europa von Polen bis Portugal.

Wer heute einem "linken Patriotismus" das Wort redet und die Friedensbewegung für ein "blockfreies" Europa zu mobilisieren versucht, ohne dessen ökonomisch- politische Strukturen anzugreifen, darf sich nicht wundern, wenn unterm Strich eine nationalchauvinistische Bewegung dabei herauskommt, die - bewußt oder auch nicht - im Kielwasser imperialistischer Destabilisierungspolitik schwimmt.

Die Friedensbewegung darf nicht ausgewogen, sie muß einseitig antiimperialistisch sein oder sie entwickelt sich zum Auffangbecken nationalistischer Emotionen, von denen noch immer die Herrschenden profitiert haben. Warum fordern die Grün- Alternativen in schönster Ausgewogenheit "Abrüstung in Ost und West", statt dem Mythos einer Bedrohung aus dem Osten, der schon immer zur Legitimation westlicher Aufrüstung hat herhalten müssen, entgegenzutreten? Warum stoßen sie sich nicht daran, wenn sie mit ihren Initiativen zu einem günstigen Zusammenschluß der Friedensbewegung West mit einer "unabhängigen" Friedensbewegung Ost, ebenso mit ihren Aktionen auf dem Alexanderplatz [58] oder mit ihrer vorbehaltlosen Solidarität mit der "Solidarnosc" [59] und der "Charta 77" [60] stets Beifall von den falschen Rängen ernten? Und warum können sie nicht über den US- Imperialismus, über Grenada reden, ohne im selben Atemzug Schweinereien der Sowjetunion aufzuzählen? Mit der Mobilisierung antiamerikanischer und antikommunistischer Ressentiments lassen sich in der BRD leicht Mehrheiten gewinnen. Ein Beispiel von politischer Stärke im Sinne von Emanzipation ist das nicht. Im Gegenteil - so verstandene "europäische Politik" leistet einem Befreiungsnationalismus Vorschub, der nichts mit der Linken zu tun hat und seine politische Basis dort finden wird, wo der deutsche Patriotismus schon immer beheimatet war: im reaktionären und rechtsradikalen Lager.

Der "linke Patriotismus" ist nicht die Ausnahme, sondern er liegt im Trend. Anstatt die konservative Erneuerung von oben mit einer radikalen Gegenkultur zu konfrontieren, schwimmt die Friedensbewegung in deren Sog. Wenn die neuen grünen Philosophen den "Wertkonservativismus" entdecken und "Abschied vom Proletariat" [61] nehmen, um in Zukunft in den trüben "Reservaten konservativer Provenienz" zu fischen, müssen sie als erstes mit ihrer linken Vergangenheit brechen und fundamentale emanzipatorische Positionen über Bord werfen. Die Friedensfrauen revidieren das Selbstverständnis der Frauenbewegung, indem sie den Kampf gegen Unterdrückung, gegen Sexismus, gegen strukturelle Gewalt hinter das große gemeinsame Ziel des Friedens zurückstellen. Und wenn Teile der Frauenbewegung sich wieder auf genuin weibliche Normen und Verhaltensweisen besinnen, um in der "Natur" der Frau bereits alle Eigenschaften angelegt zu sehen, die in den Wertmaßstäben der Friedensbewegung in Form von Opferbereitschaft, Unterwürfigkeit, Absage an Konfrontation und Kampf ihre Entsprechung gefunden haben, so begünstigen sie damit die biologische Zementierung einer "Weiblichkeit", die längst als Produkt von Herrschaft begriffen und bekämpft worden war.

Die schleichende Einnistung reaktionärer Ziele und Inhalte im progressiven Gewand ist nicht zuletzt Ausdruck und Resultat linker Versäumnise. Nicht die Rechten haben sich in den sozialen Bewegungen breitgemacht, sondern die Krise der Linken hat dazu beitragen, daß dort Unklarheiten und Positionen herumgeistern, von denen letztlich die Rechten profitieren. So hat die apokalyptische Vision von der Auslöschung der Menschheit als Argument gegen die Atomenergie bereits in linken Teilen der AKW- Bewegung eine Rolle gespielt, beinhaltete die Warnung vor dem nuklearen Gau, der ganze Bevölkerungsteile vernichten würde, den propagandistischen Appell an die globale Betroffenheit einer abstrakten Volksgemeinschaft, deren Überlebensinteresse vor sozialen und politischen Interessen rangiert, von rechts also leicht gegen die Klassenfrage ausgespielt werden kann. Und selbst in linksradikalen Gruppen wurde unter Antiimperialismus vor allem Anti- US- Imperialismus verstanden, während die Aufrüstung der westeuropäischen Staaten und ihre zunehmende Bedeutung auf dem Weltmarkt praktisch unter den Tisch gefallen sind. Auf einem solchen Boden konnte die Legende von der "besetzten" BRD, konnte der "linke Patriotismus" prächtig gedeihen.


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