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Krieg
- Krise - Friedensbewegung
In Gefahr und höchster Not bringt der Mittelweg den Tod
Dezember 1983
Lauer Herbst - und kalter Winter?
Was
eine Bewegung im Bewußtsein ihrer Anhänger bedeutet und
welche objektive Rolle in der Geschichte sie tatsächlich einnimmt,
muß nicht dasselbe sein. Die Friedensbewegung hat - begünstigt
durch ihre Zusammensetzung und durch ihre Struktur - schon immer
zwischen Radikalisierung und Anpassung laviert und steht mittlerweile
an einem entscheidenden Punkt. Denn so aufrichtig und zum Teil unbekümmert
die Beweggründe der Mehrzahl ihrer Mitglieder auch sein mögen
- was sie als politische Kraft in ihrer Gesamtheit hinterläßt,
selbst wenn die Raketen längst stationiert sind, weist über
ihren unmittelbaren Anlaß und ihr erklärtes Ziel hinaus
und birgt die Gefahr in sich, daß zwar nicht die Pershing
2, wohl aber die radikale Linke und zentrale Inhalte ihres bisherigen
Selbstverständnisses auf der Strecke bleiben.
Dem widerspricht nicht, daß es innerhalb der Friedensbewegung
von Beginn an minoritäre Gruppen gegeben hat, die deren Abgleiten
zur verstaatlichen Protestform durch die hartnäckige Behauptung
autonomer Handlungsspielräume aufzuhalten versucht haben. Die
Gegendemonstranten in Krefeld [47],
jene Frauen, die im Hunsrück [48]
auf ein Militärgelände vordringen und es kurzfristig besetzen
konnten, die vielen Friedensinitiativen, die die Blockaden nicht
nur als spielerische Selbstdarstellung, sondern als ernsthaften
Versuch der Störung und Behinderung der Kriegstreiberei begriffen
und praktiziert haben - sie alle standen für die Hoffnung auf
eine massenhafte Radikalisierung, die tatsächlich an die Wurzeln
des Systems geht, sich von Kriegsangst nicht blind machen läßt,
sondern die atomare Drohung als letzte Konsequenz der Ausbeutungs-
und Vernichtungsstrategien des hauseigenen Imperialismus begreift,
der sich tagtäglich auf allen Ebenen reproduziert und uns nicht
nur zu Opfern, sondern auch ständig zu Mittätern macht.
Der Kampf gegen die "Nachrüstung" - wollte er wirklich
ernst machen - hätte die Grundlage und Legitimation des Systems
in Frage stellen müssen und schien gerade deshalb prädestiniert,
zur Klammer und Vermittlung zwischen den unverbundenen sozialen,
ökologischen, feministischen und anderen gesellschaftlichen
Teilbewegungen zu werden, sie zu vereinheitlichen und zu potenzieren.
Dies war offensichtlich ein Trugschluß. Statt den imperialistischen
Zusammenhang zwischen Rüstung und Krise, 3. Welt- Elend und
Sozialabbau, Sexismus und Rassismus usw. herauszuschälen und
an all diesen Demarkationslinien neue Fronten aufzumachen, ist genau
das Gegenteil eingetreten.
Aus allen gesellschaftlichen Bereichen haben sich Leute zurückgezogen
und auf die "Hauptgefahr" hin konzentriert und organisiert.
Die überdimensionale Bedrohung schärfte nicht den Blick
für Ursachen und Zusammenhänge, sondern ließ Angst
und Verzweiflung ins Kraut schießen, bewegte sich immer weiter
weg von den Wurzeln, wo sich die Frage "wer wen?" konkret
stellt und auch mit schwachen Kräften effektiver Widerstand
machbar ist. Die Dialektik, daß sich die Kämpfe, je größer
und globaler die "Gefahr" ist, umso gezielter und heftiger
gegen die Fundamente der Macht richten müssen, diese Dialektik
hat die Friedensbewegung - ob bewußt oder unbewußt,
sei dahingestellt - außer Kraft gesetzt.
Dagegen konnten sich auch die Versuche des autonomen Teils der
Friedensbewegung, real zu behindern, zu stören, zu sabotieren,
nicht durchsetzen. Die Hoffnung, der Protest gegen die "Nachrüstung"
werde sich radikalisieren und zur Konfrontation mit dem Regime eskalieren,
indem die Autonomen ihren sozialen und antiimperialistischen Widerstand
eng an Formen und Inhalte der organisierten Friedensbewegung orientierten,
hat sich nicht eingelöst. Die alte Erfahrung, daß sich
eine Bewegung nicht von innen heraus kritisieren läßt,
sondern sich Kritik inhaltlich und praktisch in einer Gegenbewegung
verwirklichen muß, scheinen wir offensichtlich immer wieder
von Neuem machen zu müssen.
Davon unberührt bleibt die Tatsache, daß viele im Protest
gegen die Stationierung individuelle Erfahrungen gemacht haben,
die ihnen niemand mehr nehmen kann - grundsätzliche Erfahrungen,
nicht nur im Verhältnis zur Macht und ihrer Arroganz und Gewalt,
sondern auch im Verhältnis zu sich selbst, zur eigenen gesellschaftlichen
Rolle, zu den Beziehungen untereinander. In diesen Teilen der Friedensbewegung
hat sich ein Widerstandspotential herauskristallisiert, dessen Bedeutung
sich in den kommenden Auseinandersetzungen bewahrheiten wird. Und
wenn aus dem Innenministerium Befürchtungen laut werden, daß
sich die militanten Kerne der Friedensbewegung zur "neuen terroristischen
Generation" entwickeln könnten, so spricht daraus nicht
nur Propagandaabsicht, sondern auch das Eingeständnis, daß
die Verstaatlichung des Protests nicht restlos geglückt ist.
Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß die Teile
der Friedensbewegung, die den Zusammenhang von "Nachrüstung"
und Imperialismus thematisiert und praktisch angegriffen haben,
stets in der Minderheit geblieben sind. In ihrer Mehrheit will die
Friedensbewegung davon nicht wissen.
Im Gegenteil: die Analyse der Welt in die Kategorien des Klassenkampfes
wird überlagert von einem scheinmoralischen Dualismus, der
nicht zwischen oben und unten, sondern zwischen gut und böse
unterscheidet. Das neue und doch so uralte Ideal, das zugleich gefährlich
ist, weil es letztlich immer vor den materiellen Bedingungen kapituliert,
ist wieder mal der friedfertige Mensch, der Klassenwidersprüche
als Ausdruck menschlichen Fehlverhaltens begreift und sich ihre
Lösung aus einer umfassenden moralischen "Runderneuerung"
erhofft, während er hinter Konfrontationen und Kampf von unten
die gleichen aggressiven Triebkräfte wittert wie in den menschenvernichtenden
imperialistischen Globalstrategien. Aus dieser Sicht kann Friede
nur die Folge massenhafter "persönlicher Abrüstung"
und "moralischer Aufrüstung" sein und keinesfalls
das mögliche Resultat einer Entwicklung, in deren Verlauf um
die Abschaffung von Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnissen
gekämpft wird. Hier hat das fadenscheinige Argument, daß
man zunächst einmal mit sich selbst ins Reine kommen müsse,
um die Sache des Friedens überhaupt glaubwürdig vertreten
zu können, seine Basis; hier gilt, daß die Hände
zum Beten gefaltet werden, damit sie sich nicht zu Fäusten
ballen können.
In
diesem moralisch- religiösen Weltbild schließen sich
Engagement für den Frieden und Klassenkampf antagonistisch
aus, weil der Kampf als solcher das Problem ist, gegen das man sich
zusammengeschlossen hat. Die Friedensbewegung in ihrer Masse will
nicht Widersprüche vorantreiben und austragen, sondern sich
gegen sie abschotten. Sie sucht Oasen der Ruhe in einer Welt voller
schreiender Gegensätze. Die Friedensgemeinde ist nicht nur
Rückhalt angesichts der atomaren Bedrohung, sondern zugleich
Objekt jener Vision von Ganzheit, von "heiler Welt", die
in der Realität in die Brüche geht. Vielleicht erklärt
sich aus diesem überwältigenden Harmoniebedürfnis
die kaum begreifliche Mischung aus demonstrativer Angst und beschaulicher
Gelassenheit, der man auf den Kundgebungen der Friedensbewegung
begegnet. Vielleicht liegt darin der Grund für die offensichtliche
Diskrepanz zwischen der Dramatik, mit der die Folgen eines Atomkriegs
ausgemalt werden und der penetranten Harmlosigkeit ihrer Aktionsformen.
Die Demutsgesten und die Opferbereitschaft, die Frömmelei und
der missionarische Eifer, die innere Leere, ja Seichtheit, die einem
auf Friedensfesten entgegenschlägt - all dies sind Indizien
dafür, daß der Protest gegen die Raketen vor allem als
Pazifisierung nach innen, als Entschärfung der "Zeitbombe",
die jedes Herz sein könnte, verstanden und gehandhabt wird.
Es läßt sich wahrscheinlich nicht genau ausmachen, ob
die Entpolitisierung und Moralisierung der Friedensbewegung die
Bedingung oder der Preis für den Einstieg und den zunehmenden
Einfluß der Grün- Alternativen, der Kirchen, der traditionellen
Kommunisten und Sozialisten und schließlich der Integrationsapostel
aus den Reihen der Sozialdemokratie - die, noch im Besitz der Macht,
genauso knallhart stationiert hätte - waren. Gleichwohl ist
ihnen allen der Vorwurf zu machen, daß sie der gemütlichen
Grundstimmung innerhalb der Friedensbewegung nicht entgegengewirkt,
sondern sie vielmehr genährt und genutzt haben, um ihr plattes
Konzept der Verbreiterung, das in dem bloßen Anwachsen einer
Bewegung bereits ein Zeichen für ihre Stärke sieht, durchzusetzen.
Doch weder dieser Vorwurf, noch die xte Auflage der "wer hat
uns verraten?"- Klage, noch die richtige und absolut notwendige
Kritik an Führungscliquen, Staatsverträgen und "Standleitungen"
beantworten die brisante Frage, ob das konservative Grundmotiv innerhalb
der Friedensbewegung lediglich deshalb so breite Resonanz findet,
weil es nicht praktisch mit einer klassenkämpferischen Bewegung
und Kultur konfrontiert wird oder ob heute - angesichts der ständig
eskalierenden Drohungsspirale - breite Volksbewegungen nur zu den
Bedingungen eines derartigen moralisch- religiösen Weltbilds
zu haben sind und ob sich wirklich das Prinzip Hoffnung immer weniger
am Menschen und seiner Fähigkeit, die Verhältnisse zum
Tanzen zu bringen - also am Klassenkampf - festmacht, sondern sich
jenseits aller materiellen Verhältnisse "Rettung und Heil"
aus einer klassennegierenden, herrschaftsverbrüdernden "moralischen
Umkehr" verspricht. Die weltweite Renaissance der Religionen,
Sekten, Mythen und Mysterien könnte hierfür ein Indiz
sein. Wie auch immer - die Hintergründe dieses Phänomens
haben wenig Mysteriöses an sich. "Religion ist der Seufzer
der bedrängten Kreatur", schreibt Marx und die Drangsal
wird täglich neu geschürt. In unablässiger Folge
spucken die Administrationen der Macht globale Endzeitstudien und
Katastrophenszenarios aus, nichts wird hinterm Berg gehalten, bemäntelt
oder beschönigt. Noch nie hat ein System die verheerenden,
menschenvernichtenden Konsequenzen seiner Herrschaft derart offen
und offensiv propagiert und von sich aus - ohne jegliche Zensur
- ständig neues Tatsachenmaterial über seine überdimensionale
Bedrohlichkeit ins Volk lanciert. Die sich überschlagenden
Konjunkturen von Angst und Schrecken haben Methode, entspringen
eiskaltem Machtkalkül, sind eine Waffe. So werden die Raketen
nicht klammheimlich untergeschoben - wie vor ihnen Generationen
von Waffensystemen - sondern schon vor ihrer Fertigstellung in alle
Kanäle der gesellschaftlichen Kommunikation gepreßt.
Verhandlungen werden inszeniert, um das heiße Thema ständig
am Köcheln zu halten:
"Gute Durchsetzungsbedingungen erwarten sich die Politstrategen
davon, daß zwar der konkrete Inhalt der Konsultationen geheim
bleibt, das Verfahren und der Zweck allerdings offensiv in die Öffentlichkeit
getragen wird, damit die möglicherweise erforderlich werdenden
Opfer und Kollektivmaßnahmen innenpolitisch gestützt
werden." (aus: Die Sicherheit des Westens - Neue Dimensionen
und Aufgaben).
Weil der Imperialismus Proteste gegen die militärische Eskalation
nicht von vornherein ausschalten kann, zieht er alle Register, um
dessen Stoßrichtung in seinem Sinne zu steuern und die berechtigte
Kriegsangst zur "Massenpsychose" umzudrehen, die er im
Interesse der Durchsetzung des Projekts der Zukunft mobilisieren
kann. Damit wird selbstverständlich nicht die Angst vor der
atomaren Aufrüstung gegenstandslos oder als Paranoia denunziert.
Denunziert werden muß aber ihre absichtsvolle und manipulative
Inszenierung durch die Macht:
- Denunziert werden muß jeglicher Versuch, Katastrophenstimmung
zu schüren und wachzuhalten, damit das Regime umso freiere
Hand bei der Umsetzung des imperialistischen Projekts nach innen
hat. Im Schatten der Vernichtungsdrohung wird die "Wende"
angepeilt, wird die Auflösung des "Wohlfahrtsstaats"
[49] betrieben, werden
die Weichen zu einer neuen Politik der Verarmung, der Vertreibung
und Vernichtung gestellt. Die Krisenstrategen verschaffen sich
freie Bahn, indem sie Folgen der Krise als das kleinere Übel
und notwendiges Opfer verkaufen, das zur Vermeidung einer weitaus
größeren Katastrophe gebracht werden muß. Die
Utopie einer freien Gesellschaft fällt einer politischen
Moral anheim, deren einziger Wert im physischen Überleben
der Menschheit besteht.
- Denunziert werden muß jeder Versuch, Endzeitstimmung
propagandistisch anzuheizen, um dem gesellschaftlichen Individuum
seine Ausgeliefertheit und seine Machtlosigkeit einzuhämmern.
Das Gefühl der überwältigenden Bedrohung wird in
dem Maße zur Legitimationsgrundlage für den imperialistischen
Staat, wie "Lösungen" nicht mehr gegen die Herrschenden,
sondern nur noch im Verein mit ihnen möglich erscheinen.
Je brutaler die Krise exekutiert wird, umso stärker wächst
das Heer der eifrigen kleinen Polit- und Militärstrategen,
die den Mächtigen dieser Welt Ratschläge andienen, was
sie wie besser machen könnten. Auf allen Kanälen wird
der Dialog mit der Macht wieder geknüpft, richtet sich die
Hoffnung auf Parlamente, Ministerien, Abgeordnete, ja selbst den
Sicherheitsapparat und es gerät dabei in Vergessenheit, daß
"die Beziehung einer Emanzipationsbewegung zur Politik nicht
partizipativ sein darf, sondern destruktiv sein muß"
(Agnoli [50])
- Und schließlich muß jeder Versuch denunziert werden,
jene Mischung aus apokalyptischer Grundstimmung, abstrakter Friedenssehnsucht
und sozialer Begriffslosigkeit, die für die Friedensbewegung
so typisch ist, dazu auszunutzen, um ganz anderen Forderungen
und Zielen die Legitimation einer Massenbasis zu verschaffen.
Die Übungen in Machtunterwerfung, die Dressur von Gewaltfreiheit,
der Konsenszwang in Bezugsgruppen sind nicht so harmlos, wie sie
auf den ersten Blick aussehen. Das darin verwurzelte Gefühl
moralischer Überlegenheit könnte sich in Verbindung
mit der immer wieder geschürten Angst vor totaler Vernichtung
leicht als hochbrisantes Gemisch erweisen, das seine Sprengkraft
allerdings in ganz anderen Konstellationen entfaltet. Die Grenzen
zwischen missionarischem Eifer und Kreuzzugsmentalität sind
bekanntlich fließend. Die Gefahr liegt nicht allein darin,
daß die Friedensbewegung Resignation und Verzweiflung hinterläßt,
sondern daß sie zum Durchlauferhitzer einer politischen
Programmatik wird, die ihre ursprünglichen Intentionen bis
zur Unkenntlichkeit verzerrt.
Wie
leicht das dumpfe Gefühl der Bedrohung umschlagen kann, gegen
ausgemachte "Störenfriede" mobilisierbar ist, haben
die organisierten Teile der Friedensbewegung in ihrer Reaktion auf
das autonome und militante Spektrum - insbesondere nach Krefeld
- anschaulich vorgeführt. Die Heftigkeit und Wut, mit der dort
auf der Seite des Staates gegen die "Chaoten" vom Leder
gezogen wurde, ist lediglich die häßliche Fratze, die
Kehrseite des Ideals vom guten Menschen. Es mag persönliche
Motive und auch sonst gute Gründe geben, warum es in bestimmten
Situationen falsch oder fragwürdig ist, seine Ziele mit gewaltsamen
Mitteln zu verfolgen. Wo Gewaltfreiheit aber zum unantastbaren Prinzip
erhoben wird, an dem sich gut und böse scheiden, geht es nicht
um Argumente, sondern um Unterordnung und Gehorsam. Mit ihren Distanzierungen
und Denunziationen haben die Friedensfunktionäre vor allem
eines klargestellt: daß sie den Maßstab, dem sie sich
verpflichtet fühlen mögen, längst als Machtanspruch
über die gesamte Bewegung verstehen und handhaben.
Natürlich steht dahinter weniger Moral als vielmehr politisches
Kalkül: es setzt auf "den historischen Kompromiß
im Innern", der im übergeordneten "Interesse der
Erhaltung als Gattung" (Bahro) geschlossen werden soll und
als dessen Wegbereiter und Garant die Führungsschicht der Friedensbewegung
nach unten abwiegelt und nach oben Verträge schließt
- ganz so als ließe sich der Verzicht auf die Raketen gegen
das Angebot der Sozialpartnerschaft einhandeln. Wenn Robert Jungk
[52] behauptet, daß,
wer "Nie wieder Krieg" sagt, auch "Nie wieder Bürgerkrieg"
sagen müsse, dann stellt er die wirkliche Alternative der Geschichte
- Sozialismus oder Barbarei, Bürgerkrieg oder Völkermord
- endgültig auf den Kopf. So verhindert man nicht imperialistische
Kriege, sondern im Gegenteil: so strickt man mit am inneren Frieden
als eine ihrer zentralen Vorausetzungen.
Dennoch: im lähmenden Streit um die Gewaltfrage droht unterzugehen,
daß der "historische Kompromiß" nur Vehikel
ist, um ganz anderen Zielen Nachdruck zu verleihen. Organisierte
Teile der Friedensbewegung schicken sich an, ihr politisches Süppchen
auf deren Rücken zu kochen. Ihre Kritik an der "Nachrüstung"
geht weiter über die Raketenfrage hinaus und mündet in
der Perspektive einer blockfreien Großmacht Europa. Wenn die
Hegemonialmächte den Krieg wollen und man selbst den Frieden
- so die fatale Logik - dann muß man selbst nur stark genug
werden, um die anderen zur "Vernunft" bringen zu können.
"Wir müssen leider selbst gefährlich werden, um den
Frieden zu wahren", hat Manes Sperber die Perspektiven der
Friedensbewegung aus französischer Sicht abgesteckt, als ihm
der Friedenspreis übergeben wurde. Ist es nur Schlamperei,
daß sich kein Bastian [54]
und keine Petra Kelly [55]
dagegen empört haben - oder ist es stillschweigendes Einverständnis?
Und da in Europa nichts läuft, ohne daß an der "deutschen
Frage" gerührt wird, ist von links das Problem der Wiedervereinigung
aufgeworfen worden. Im vorgeblichen Interesse der Abrüstung
wird so an der Fiktion eines "progressiven" deutschen
Nationalismus gewerkelt - eines Nationalismus, in dessen Namen nicht
nur zwei verheerende Weltkriege entfesselt, sondern auch jene Endlösung,
jener Holocaust inszeniert wurden, als deren zukünftiges Opfer
die Friedensbewegung heute demonstratives Massensterben veranstaltet.
Geschichte verkehrt!
Die Legende von der "Geisel" Europa und die Parole von
der "besetzten" BRD, die zwischen den Supermächten
USA und UdSSR zermalmt zu werden droht, tragen nicht nur zur Verharmlosung
und Entschärfung des westdeutschen und westeuropäischen
Imperialismus bei. Sie dienen den grün- sozialdemokratischen
Politstrategen darüberhinaus zur Begründung einer souveränen
europäischen und deutschen Politik, deren materielle Basis
selbst gar nicht mehr zur Debatte steht:
"Wir bemühen uns, eine eigene europäische Politik
zu betreiben - wenn dies die konkrete Alternative ist, dann sage
ich ja, die unterstütze ich. Ich würde sie auch dann unterstützen,
wenn sie eine lupenreine kapitalistische wäre." (Dan Diner/SB
[56])
Zum lupenreinen Kapitalismus gehört der Expansionismus wie
das Salz zur Suppe. Ein lupenreiner Kapitalismus hält sich
nicht an die Grenzen des Nationalstaats, sondern muß auf der
Jagd nach Profiten diese immer wieder überschreiten. Lupenreiner
Kapitalismus hat wenig mit Frieden und dafür umso mehr mit
Imperialismus und Krieg zu tun. Das gilt auch und in zunehmendem
Maß für das westdeutsche Kapital, dessen Wiedererstarken
in dem scheinbar progressiven Postulat nach "Überwindung
des Blocksystems" lediglich ideell nachvollzogen wird. Die
innerimperialistische Kräfteverschiebung schlägt sich
in der Forderung nach einer neuen Nachkriegsordnung nieder. Dem
westeuropäischen - namentlich dem westdeutschen - Kapital soll
endlich das Stück vom Kuchen der weltweiten Ausbeutung zugestanden
werden, das seinem ökonomischen Gewicht angemessen ist.
"Blockfreiheit" - im Namen des Friedens massenwirksam
vermittelt - das ist das Wasser auf die Mühlen derer, die sich
von einem "neutralen" Westeuropa Spielraum für einen
flexibleren imperialistischen Kurs versprechen.
Daß die innerimperialistische Konkurrenz hinter den globalstrategischen
Interessen der NATO- Staaten gegenüber dem Rest der Welt zurücksteht,
haben wir gesagt. Ein "blockfreies" Europa ist keineswegs
neutral, bedeutet nicht Abkopplung vom Westen, also Schwächung
des imperialistischen Lagers, sondern Verdopplung seiner Macht.
Die Revision von Jalta [57],
die quer durch die politischen Parteien propagiert wird, zielt auf
die Überwindung der europäischen Teilung unter westlicher
Flagge, zielt nicht auf ein "atomwaffenfreies", sondern
auf ein kapitalistisches Europa von Polen bis Portugal.
Wer heute einem "linken Patriotismus" das Wort redet
und die Friedensbewegung für ein "blockfreies" Europa
zu mobilisieren versucht, ohne dessen ökonomisch- politische
Strukturen anzugreifen, darf sich nicht wundern, wenn unterm Strich
eine nationalchauvinistische Bewegung dabei herauskommt, die - bewußt
oder auch nicht - im Kielwasser imperialistischer Destabilisierungspolitik
schwimmt.
Die Friedensbewegung darf nicht ausgewogen, sie muß einseitig
antiimperialistisch sein oder sie entwickelt sich zum Auffangbecken
nationalistischer Emotionen, von denen noch immer die Herrschenden
profitiert haben. Warum fordern die Grün- Alternativen in schönster
Ausgewogenheit "Abrüstung in Ost und West", statt
dem Mythos einer Bedrohung aus dem Osten, der schon immer zur Legitimation
westlicher Aufrüstung hat herhalten müssen, entgegenzutreten?
Warum stoßen sie sich nicht daran, wenn sie mit ihren Initiativen
zu einem günstigen Zusammenschluß der Friedensbewegung
West mit einer "unabhängigen" Friedensbewegung Ost,
ebenso mit ihren Aktionen auf dem Alexanderplatz [58]
oder mit ihrer vorbehaltlosen Solidarität mit der "Solidarnosc"
[59] und der "Charta
77" [60] stets
Beifall von den falschen Rängen ernten? Und warum können
sie nicht über den US- Imperialismus, über Grenada reden,
ohne im selben Atemzug Schweinereien der Sowjetunion aufzuzählen?
Mit der Mobilisierung antiamerikanischer und antikommunistischer
Ressentiments lassen sich in der BRD leicht Mehrheiten gewinnen.
Ein Beispiel von politischer Stärke im Sinne von Emanzipation
ist das nicht. Im Gegenteil - so verstandene "europäische
Politik" leistet einem Befreiungsnationalismus Vorschub, der
nichts mit der Linken zu tun hat und seine politische Basis dort
finden wird, wo der deutsche Patriotismus schon immer beheimatet
war: im reaktionären und rechtsradikalen Lager.
Der "linke Patriotismus" ist nicht die Ausnahme, sondern
er liegt im Trend. Anstatt die konservative Erneuerung von oben
mit einer radikalen Gegenkultur zu konfrontieren, schwimmt die Friedensbewegung
in deren Sog. Wenn die neuen grünen Philosophen den "Wertkonservativismus"
entdecken und "Abschied vom Proletariat" [61]
nehmen, um in Zukunft in den trüben "Reservaten konservativer
Provenienz" zu fischen, müssen sie als erstes mit ihrer
linken Vergangenheit brechen und fundamentale emanzipatorische Positionen
über Bord werfen. Die Friedensfrauen revidieren das Selbstverständnis
der Frauenbewegung, indem sie den Kampf gegen Unterdrückung,
gegen Sexismus, gegen strukturelle Gewalt hinter das große
gemeinsame Ziel des Friedens zurückstellen. Und wenn Teile
der Frauenbewegung sich wieder auf genuin weibliche Normen und Verhaltensweisen
besinnen, um in der "Natur" der Frau bereits alle Eigenschaften
angelegt zu sehen, die in den Wertmaßstäben der Friedensbewegung
in Form von Opferbereitschaft, Unterwürfigkeit, Absage an Konfrontation
und Kampf ihre Entsprechung gefunden haben, so begünstigen
sie damit die biologische Zementierung einer "Weiblichkeit",
die längst als Produkt von Herrschaft begriffen und bekämpft
worden war.
Die schleichende Einnistung reaktionärer Ziele und Inhalte
im progressiven Gewand ist nicht zuletzt Ausdruck und Resultat linker
Versäumnise. Nicht die Rechten haben sich in den sozialen Bewegungen
breitgemacht, sondern die Krise der Linken hat dazu beitragen, daß
dort Unklarheiten und Positionen herumgeistern, von denen letztlich
die Rechten profitieren. So hat die apokalyptische Vision von der
Auslöschung der Menschheit als Argument gegen die Atomenergie
bereits in linken Teilen der AKW- Bewegung eine Rolle gespielt,
beinhaltete die Warnung vor dem nuklearen Gau, der ganze Bevölkerungsteile
vernichten würde, den propagandistischen Appell an die globale
Betroffenheit einer abstrakten Volksgemeinschaft, deren Überlebensinteresse
vor sozialen und politischen Interessen rangiert, von rechts also
leicht gegen die Klassenfrage ausgespielt werden kann. Und selbst
in linksradikalen Gruppen wurde unter Antiimperialismus vor allem
Anti- US- Imperialismus verstanden, während die Aufrüstung
der westeuropäischen Staaten und ihre zunehmende Bedeutung
auf dem Weltmarkt praktisch unter den Tisch gefallen sind. Auf einem
solchen Boden konnte die Legende von der "besetzten" BRD,
konnte der "linke Patriotismus" prächtig gedeihen.
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