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Früchte des Zorns

TitelblattRevolutionärer Zorn Nr. 6 - Januar 1981


Power gegen die Betonsargbauer

Die beschriebene Tendenz zum Auseinanderfallen von Bewegungen und Guerilla, die ihre Gründe sowohl in der Geschichte der deutschen Linken als auch in den besonderen Organisationsbedingungen selbst hat, wurde zusätzlich dadurch begünstigt, daß wir uns einem Problem gestellt haben, dem jede Guerilla verpflichtet ist - dem Problem der Gefangenen. Nicht um der eigenen Reproduktion willen, wie behauptet worden ist, sondern weil wir eine moralische und politische Pflicht gegenüber den eingekerkerten Kämpfer/inne/n haben, deren Identitätsauslöschung durch Eliminierung aller sinnlich- konkreten Existenzerfahrungen bis hin zur Liquidierung in den Trakts erklärtes Programm ist. Zwar ist eine Politik zum Scheitern verurteilt, die den Kampf gegen die Knäste und dessen spezifische Form, die Befreiung, als höchstes Ziel verabsolutiert, anstatt ihn als einen Aspekt im Spektrum des Widerstandes insgesamt zu führen. Dennoch sahen wir gerade Mitte der 70er Jahre (die Hungerstreiks drohten zu versanden, Holger MeinsHolger Meins war tot, Erfahrungen, welchen "Preis" der Staat letztendlich verlangen würde, gab es für die BRD noch nicht) keine Alternative, wollten wir die Gefangenen nicht lediglich ihrem Schicksal in den Klauen der Gefängnistechnokratie überlassen, in einer Situation, in der die meisten zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, um sich noch sonderlich von den erschreckenden Nachrichten aus den Trakts beeindrucken zu lassen, in der verdrängt oder schon einmal als Propaganda abgetan wurde, was allen offiziellen Dementis zum Trotz dennoch bittere Wahrheit bleibt: daß in den neuen Gefängnissen Isolationsfolter als Instrument der Verhaltensmodifikation praktiziert wird. In einer solchen Situation konnte die Vermittlung zur Bewegung nicht uneingeschränktes Kriterium eigenen Handelns sein. Wollten wir nicht untätig zusehen, mußten wir uns bewußt in Widerspruch zu unseren sonstigen Vorstellungen setzen oder - wie wir es damals nannten - "Es gibt aber auch einen Teil unserer Politik, den viele Genoss/inn/en nicht verstehen und nicht akzeptieren und den auch die Massen nicht verstehen und der sie vorläufig auch nicht interessieren wird. Wir halten ihn dennoch für richtig." (Revolutionärer Zorn 1) Sich dem Problem der Gefangenenbefreiung stellen, bedeutet zunächst, sich auf eine Praxis einzulassen, die einer anderen Logik und anderen Maßstäben folgt, als die Entwicklung einer erst in Ansätzen existenten Massenguerilla. Gefangenenbefreiung setzt die Bereitschaft und die Fähigkeit voraus, sich mit militärischen Matteln auf die Ebene der machtpolitischen Konfrontation zu begeben; heißt, den Staat auf die Probe zu stellen, ihn dazu zu zwingen, Revolutionäre als "Gesprächspartner" anzuerkennen und sich ihren Forderungen zu beugen. Der Adressat einer derartigen Praxis sind die zentralen Machtinstanzen und erst in zweiter Linie die Menschen in diesem Land. In der Art und Weise, wie der Staat auf die ersten Keimformen eines bewaffneten Widerstandes in der BRD reagiert hat, nämlich mit dem Willen zur Vernichtung, mit Krieg, bekundete er zugleich seine Entschlossenheit, die bewaffneten Gruppen auf ein Terrain zu locken, auf dem sie kaum Erfahrungen hatten, auf dem sie wenigstens auf lange Sicht unterlegen sein mußten.

Peter LorenzDaß der Versuch der Gefangenenbefreiung dennoch nicht zwangsläufig damit enden muß, daß die Guerilla auf das Gleis der Isolation gerät, daß er im Gegenteil ein befreiender Akt im doppelten Sinne sein kann, weil in seiner Konsequenz nicht nur Gefangene, sondern auch neue Energien, Hoffnungen und Orientierungen "freigesetzt" werden, dafür steht in der kurzen Geschichte westdeutscher Guerilla beispielhaft die Lorenz- Entführung. Ihr Erfolg besteht ja nur zum einen - wenn auch wesentlichen - Teil in der erzwungenen Freilassung von 7 Genoss/inn/en. [30] Gleichzeitig war sie immer auch eine praktische Demonstration dessen, daß man sich mit entsprechender Entschlossenheit, mit Mut und Phantasie, mit List und Witz sowie unter Ausnutzung bestimmter politischer Konstellationen die tatsächlichen Kräfteverhältnisse punktuell auf den Kopf stellen und der staatlichen Gewalt, die von der Behauptung ihrer Unangreifbarkeit lebt, durch die Organisation revolutionärer Gegengewalt eine Schlappe beibringen kann, ohne in der Verfolgung des Ziels auf Mittel und Formen zurückgreifen zu müssen, die denen des Gegners allzu ähnlich sind, als daß in ihnen noch die Inhalte einer radikalen Utopie erkennbar wären.

Und sie widerlegte all diejenigen, die das Verhältnis von legalen und illegalen Kämpfen in ein Korsett von Etappen zwingen, die das Niveau der Interventionen schematisch in Relation zum Entwicklungsstand der gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzungen diskutieren und damit drücken, für die kurzum im Grunde jede bewaffnete Aktion verfrüht ist. Gerade am Beispiel der Lorenz- Entführung gilt es zu begreifen, daß nicht das Niveau, der Level, über die Richtigkeit einer Aktion entscheidet, sondern die Frage, ob sie zielgerichtet ist, das heißt, ob sie sich Widersprüche innerhalb des Machtblocks zunutze macht, ohne den Staat derart in den Knie zwingen zu wollen, daß für einen "Deal" (und was anderes ist der Kern einer Gefangenenbefreiung?) kein Raum mehr ist; ob sie in Inhalt und Form stimmt, also genau und deshalb nicht gegen die Guerilla umdrehbar ist, ob das Ende der Aktion gleichbedeutend mit dem Verlust der Initiative ist oder eine Gruppe noch zuzulegen hat, zumal der Machtapparat die Oberhand wieder zurückgewonnen hat. Die Alternative heißt nicht: Power oder kleine Brötchen, kleckern oder klotzen, sondern ob die Guerilla einem politischen oder militärischen Konzept folgt. Eben deshalb ließ sich die Lorenz- Entführung nicht dadurch kopieren, daß lediglich das Faustpfand heraufgesetzt wurde. Die Initiative zu behalten, meint auch und gerade, unberechenbar zu bleiben, neue Widersprüche auszunutzen, also den Staat zu überraschen und ihn nicht mit Modellen zu konfrontieren, die er bereits kennt und auf die er sich hat einstellen können.

Was schließlich zählt, ist der faktische Erfolg. Hätte die Lorenz- Entführung einen anderen Ausgang genommen, würde sie heute voraussichtlich in einer Reihe mit späteren, fehlgeschlagenen Befreiungsversuchen gehandelt. Es wäre allerdings auch zu einfach, diese Ausrichtung der Linken am Erfolg allein deren Opportunismus anzulasten.

Vielmehr ist es der Anspruch der Guerilla selbst, an dem so ihre Praxis gemessen wird. Wenn wir behaupten, eine Antwort darauf zu sein, wie gesellschaftlich insgesamt unterlegene Kräfte gleichwohl an einer Perspektive von Sieg festhalten können, so ist es müßig, darüber zu lamentieren, daß uns unsere Rückschläge vorgehalten werden. Die Hoffnung auf Sieg, und nicht die Bestärkung des Bewußtseins der eigenen Unterlegenheit, ist die Kraft, die die Herrschenden wirklich fürchten.

Bleibt also die Frage, wie wir den Erfolg unserer bisherigen Praxis selbst bewerten. Wäre das Kriterium dafür das Ausmaß an tatsächlichen Niederlagen, die wir dem Staat bereitet haben, so könnten wir vorbehaltlos jener eingangs wiedergegebenen Kritik zustimmen, die der RZ ihre mangelnde "Effizienz" zum Vorwurf macht. In der Tat sind die messbaren Erfolge auf der Ebene der machtpolitischen Konfrontationen gering. Nur, daß wir diese Ebene bewußt auch kaum gesucht haben, weil wir zum jetzigen Zeitpunkt jeglichen Versuch des Kräftevergleichs für aussichtslos halten.

Unser Ziel ist und war die Verbreitung des bewaffneten Widerstandes, war und ist die Unterstützung eines Netzes autonomer Gruppen, die als bewaffnete Tendenz innerhalb der Bewegung in ihren Städten und Regionen aus sich heraus aktionsfähig sind, die dort mit den Methoden der Subversivität Widersprüche forcieren und auf den unteren Gliederungen des Machtgefüges intervenieren, die also das Handlungsarsenal der legalen Linken um ihre Möglichkeiten der Sabotage, der Bestrafung, der Gegenwehr, der Eroberung von Lebensmöglichkeiten erweitern. Es geht uns - platt gesagt - zunächst und vor allem um die Zersetzung des Fundamentes von Herrschaft, nämlich Ohnmacht, also um die Veränderung der Menschen und nicht darum "den Staat zu kippen". Denn das Herz des Staates ist das Volk und sind nicht seine einzelnen Repräsentanten.

Ob wir in der Verfolgung dieses Zieles Fortschritte gemacht haben, läß sich nur unzureichend bemessen, weil der Maßstab dafür weder die Anzahl der Aktionen noch der bewirkte materielle, sondern der politische Schaden ist, der sich in einer langfristigen Verschiebung des Kräfteverhältnisses äußert. Und in dieser Hinsicht sind wir guter Dinge. Nicht umsonst kommt der Verfassungsschutz in seinem Jahresbericht zu dem Ergebnis, daß die Anzahl der Gruppen zugenommen habe, die aus der Illegalität heraus operierten. Nicht umsonst ist die Anschlagstafel seit dem Herbst 77 unvermindert fortgeschrieben worden, wo doch allgemein erwartet wurde, daß der Guerilla auf Dauer der Garaus bereitet worden sei. Nicht umsonst zeichnet sich in der neuen Jugendbewegung [31] eine hoffnungsvolle Verquickung von Massenmilitanz und subversiven Aktionsformen ab. Sind dies nicht Anzeichen dafür, daß es gelungen ist, dem bewaffneten Widerstand eine - wenn auch schmale - Basis in diesem Land zu verschaffen? Dieser Tendenz werden wir mit Kräften Vorschub leisten.

Das ist eine Hoffnung, keine Erfolgsgarantie. Wer die fehlende unmittelbare "Effizienz" bemängelt, die sich am greifbaren Resultat bemißt, legt nicht nur eine andere Elle an als wir, sondern spekuliert darüber hinaus darauf, daß sich die persönliche Investition kurzfristig und individuell rentiert, begreift Widerstand als notwendiges Opfer und nicht als Lebensmöglichkeit innerhalb einer Kultur, deren Ideal die Ausschaltung alles Lebenden im weitesten Sinne ist.

Das individuelle Risiko ist kein Tauschpfand, worauf sich die "Früchte" der Revolution einklagen lassen. Wenn wir uns gegen die kapitalistischen Bestimmungen des historischen Prozesses stemmen, so deshalb, weil wir damit die Möglichkeit einer Alternative verbinden. Eine Gewißheit haben wir ebenso wenig wie all die abertausende von Menschen vor uns, die im Kampf für ein menschenwürdiges Leben ins Exil vertrieben, eingelocht oder umgebracht worden sind, ohne ihr Ziel erreicht zu haben.

"Es gibt keine Notwendigkeit des Sieges der Revolution. Es ist eine Möglichkeit, eine Chance. Die kann scheitern und dann kann Barbarei herauskommen. Damit ist gemeint, daß die Geschichte eine offene Tendenz hat, wo also nichts sicher ist, sondern erst von uns sicher gemacht werden muß." (der frühe Rudi [32]).


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