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Presse

Datum:
23.08.2001

Zeitung:
Wochenzeitung (Zürich)

Titel:
Ein autonomer Streetfighter als Zeuge der Anklage

Ein autonomer Streetfighter als Zeuge der Anklage

Abgerechnet wird zum Schluss

Im Mammut-Verfahren gegen die Revolutionären Zellen in Berlin hat die Einvernahme des Kronzeugen Tarek Mousli begonnen.

Die Vorsitzende Richterin am Kammergericht Moabit in Berlin, Gisela Hennig, ruft den Zeugen der Anklage, Tarek Mousli. Es ist mitten im Hochsommer und der 11. Verhandlungstag im Prozess gegen die Revolutionären Zellen (RZ). Mousli, 42 Jahre, Autonomer und Karatelehrer aus Berlin, fungiert als Kronzeuge der Anklage im Verfahren gegen fünf mutmassliche Mitglieder der RZ, der so genannten Feierabend-Guerilla Westdeutschlands. Den Behörden schien der "Komplex RZ" bis zuletzt ein grosses Rätsel. Die RZ zeichneten als nahe an den sozialen Bewegungen operierende Gruppierung für zahlreiche Anschläge verantwortlich. Ihre Aktionen richteten sich in den achtziger Jahren in der Hauptsache gegen Ausländer- und Asylbehörden. Anfang der Neunziger lösten sich die RZ auf. Jahre später holen die Fahndungsbehörden nun zum grossen Schlag gegen die Ex-Militanten aus. In Berlin und Westdeutschland durchsuchten schwerbewaffnete Anti-Terroreinheiten Ende 1999 zahlreiche Wohngemeinschaften und alternative Gebäudekomplexe. (siehe WoZ 1/2001). Nun sitzen fünf der Inhaftierten in Berlin auf der Angeklagebank. Sie sollen laut Mousli führende Kader der RZ gewesen sein. Die Beschuldigten sind um die fünfzig Jahre alt und drängen sich mit ihren zehn VerteidigerInnen auf der einen Seite des Gerichtssaals. Nach einem zähen Verhandlungsbeginn im Frühjahr, begann nun die mit Spannung erwartete Einvernahme des Zeugen Mousli. Begleitet von vier PersonenschützerInnen des Bundeskriminalamt (BKA) nahm er erstmals im Juli auf der Bank gegenüber den Angeklagten Platz. Der Auftritt des hünenhaften Mannes wurde lange erwartet. Wird Mousli, der frühere Autonome auch im Angesicht der einstigen Freunde bei seinen Anschuldigungen bleiben?

Ein unübliches Verfahren

Der Kronzeuge erscheint im lindgrünen Hemd, trägt dunkle Krawatte und eine graue Hose. Die schwarzen Schuhe glänzen ordentlich. Die ihn von früher kennen, staunen nicht schlecht. Offensichtlich soll eine Perücke helfen, sein derzeitiges Outfit zu verbergen. Seine Augen verschwinden hinter den getönten Gläsern einer überdimensioniert wirkenden Brille. Das BKA, welches Mousli als Entgelt für den Verrat, Straffreiheit und eine neue Existenz garantiert, scheint sehr um die Sicherheit des Zeugen besorgt. Die Personenschützer behalten Publikum und Anklagebank angespannt im Auge. Wie bei "Terrorimus-Prozessen" üblich, kommt ohnedies nur in den Saal, wer zuvor Security gecheckt wurde.

Mousli ist der erste aus dem Umfeld der Gruppierung aus den achtziger Jahren, der sich entschloss, auszupacken. Was ihn dazu bewegte, ist nur schwer zu ermitteln. In der linken Szene kursieren alle möglichen Gerüchte. Viele können sich nicht vorstellen, dass Mousli, einst auch Verbandspräsident der Berliner Karatekas, wegen der ihm zur Last gelegten kleineren und zumeist verjährten RZ-Delikte zum Singvogel wurde.

Gerüchte machen die Runde

Womöglich gäbe es eine Geschichte hinter der Geschichte. Mousli könne auch in ganz andere Straftaten verwickelt sein und so vom BKA erpresst werden. Die Beschuldigungen Mouslis richten sich gegen die halbe Berlin-Kreuzberger Autonomen-Szene. Für Haftbefehle reichten sie im Falle des 52jährigen Harald G. von der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration aus dem Berliner Alternativzentrum Mehringhof; den 50jährigen Axel H. von der Hausverwaltung des Mehringhofs; den 52jährigen Matthias B., der bis zu seiner Verhaftung Leiter des Akademischen Auslandsamtes der Technischen Universität Berlin war; sowie die Frankfurter GaleristInnen Sabine E. (54) und Rudolf Sch. (58). Rudolf Sch. wurde allerdings bereits Anfang des Jahres im Frankfurter OPEC-Prozess von ganz ähnlich lautenden Vorwürfen freigesprochen. Die Generalbundesanwaltschaft aus Karlsruhe verfügte allerdings, dass gegen Rudolf Sch. in Berlin erneut zu verhandeln wäre - ein unübliches Verfahren.

Die besondere Gefährlichkeit der RZ

Den fünf Angeklagten wirft die Bundesanwaltschaft die "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" nach dem Sonderparagraphen129a vor. Den Angeklagten aus Berlin wird darüber hinaus die Beteiligung an dem Sprengstoffanschlag auf die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber (ZSA) in Berlin im Februar 1987 zur Last gelegt. Dieses Sprengstoffdelikt ist noch nicht verjährt. Es entstand ein Sachschaden von rund 4000 Franken. Jüngeren Datums ist auch der missglückte Sprengstoffanschlag auf die Siegessäule in Berlin. Während des Golfkriegs 1991 sollen drei der Angeklagten hier zur Tat geschritten sein. Verjährt, aber dennoch Gegenstand des Verfahrens, sind zwei so genannte Kieschussattentate aus den achtziger Jahren. Im Oktober 1986 schoss eine RZ den Leiter der Berliner Ausländerbehörde, Harald Hollenberg, ins Bein. Im September 1987 galten die Schüsse dem Vorsitzenden Richter des Asylsenats am Bundesverwaltungsgericht in Berlin, Günther Korbmacher. Die verjährten Körperverletzungsdelikte Delikte wurden mit der Begründung ins laufende Verfahren integriert, sie belegten "die besondere Gefährlichkeit der terroristischen Vereinigung RZ". Die Verteidigung lies gleich zu Beginn der Vernehmungen des Kronzeugen wissen, dass sie erst dann ausführlich von ihrem Fragerecht Gebrauch machen werde, wenn das Gericht den ersten Durchgang durch die verschiedenen Komplexe beendet habe. Im bisherigen Prozessverlauf wurde Mousli so fast ausschließlich von Richterin Hennig befragt. Das unmittelbar einsetzende Geklapper der anwaltlichen Laptops, sobald Mousli einen Satz sagte, dürfte den Kronzeugen daran erinnern, dass bei dem im Herbst anstehenden Verhandlungstagen noch einiges auf ihn zu kommen wird. Auch die drei Bundesanwälte wirken bei den bisherigen Befragungen Mouslis sehr angespannt. Sie sitzen hinter einer Glasscheibe im rückwertigen Teil des Saals und hören ihrem Zeugen aufmerksam zu. Mousli ist ihr "wesentliches Beweismittel" in einem jahrelang vorbereiteten Großverfahren. Den Kronzeugen scheint der auf ihn lastende Druck wenig anzuhaben. Flüssig und konzentriert, in fast schon druckreifer Form beantwortetet er die Fragen der Richterin nach Biographie, politischen Werdegang und der Berliner Autonomenszene in den achtziger Jahren. Der Kronzeuge spricht langsam und deutlich. In Hunderten von Stunden haben ihn die Verhörexperten des BKA auf diese Situation vor Gericht vorbereitet. Allein für die Periode vom 23. November 1999 bis zum 24 Januar 2000 vermerken die Akten, dass er 44 Mal den Verhörbeamten vorgeführt wurde. Nicht dokumentiert sind weitere so genannte informellen Gespräche. Dass diese und weitere ebenfalls nicht dokumentierte Vernehmungen stattgefunden haben, wird im Laufe der richterlichen Befragung deutlich. Die Verteidigung erhob denn auch gegenüber der Presse den Vorwurf, dass es "eine Vielzahl von Hinweisen" gäbe, dass Mousli "nach allen Regeln der Kunst für die Verhandlung präpariert wurde". Glaubt man den hunderten Seiten der Vernehmungsprotokolle hat sich Mousli seit dem 22. Dezember1999 ganz dem BKA zur Verfügunge gestellt. An diesen Tag unterschrieb er eine entsprechende Verpflichtungserklärung und wurde ins Zeugenschutzprogramm des BKA übernommen. In der Folge erhielt er eine neue Idendität und selbst die nicht unerheblichen Schulden aus seinem früheren Leben übernahm der deutsche Staat. Monatlich stehen dem Kronzeugen neben allfälligen Unterhaltskosten für geheimen Wohnort, Versicherungen, Auto, usw. seither zustätzlich 2000 Franken netto zur Verfügung.

Erleben, Hören und Erfinden

Nach Mouslis Angaben sollen in Berlin in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre bis zu Beginn der neunziger Jahre zwei RZ-Gruppen tätig gewesen sein. Einer davon will er angehört haben. Insbesondere die Ermordung des früheren RZ-Mitglieds Gerd Albartus durch eine palästinensische Gruppe 1987 habe ihn veranlasst, langsam den Ausstieg zu suchen. Allerdings habe er die RZ auch weiterhin logistisch unterstützt. 1995 hatten die Behörden im Keller einer Freundin von Mousli ein Sprengstoffdepot entdeckt. Die Fahnder behaupten, erst 1998 einen Zusammenhang zu Mousli und den RZ bemerkt zu haben. Mousli behauptet, der Angeklagte Harald G. hätte ihn damals gebeten, den Sprengstoff zu verwahren. Im April 1999 wurde Mousli ein erstes Mal verhaftet, ein zweites Mal im Mai 1999. Die Vorwürfe lauteten auf "Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" und illegalen "Besitz von Sprengstoff". Dennoch wurde er schon bald wieder auf freien Fuss gesetzt. Im August 1999 erweitete die Bundesanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen Mousli um den Vorwurf der "Rädelsführerschaft in den RZ". Mouslis frühere Freundin, in deren Keller der Sprengstoff gefunden wurde, belastete ihn schwer. Am 23. November wurde er erneut verhaftet. Für Mousli hatte sich die Situation nun erheblich verschlechtert. Das ihm angedrohte Strafmaß hatte sich erhöht. Mit den gegen ihn demonstrativ durchgeführten Ermittlungen verlor er seine Anstellungen als Trainer beim Berliner sowie beim Deutschen Karateverband. Wie der leitende Bundesanwalt Rainer Griesbaum vor Gericht ausführte, willigte Mousli schliesslich in den Deal ein: zwei Jahre Haft auf Bewährung, gegen ein paar "Knüller". Und Mousli begann die erwarteten "Knüller" zu liefern, für die er dann in den Genuss der Kronzeugenregelung gelangte. Ein Raunen geht durch die Reihen der rund fünfzig Personen auf den Zuschauerrängen als Mousli die von ihm Beschuldigten charakterisiert. Harald G. (angeblicher Decknahme "Sigi") und Axel H. (angeblicher Deckname "Anton") bezeichnet er als "sehr lieb" und hilfsbereit. Einen anderen, Lothar E., der innerhalb der Organisation "Sebastian" geheissen habe, bezeichnet er sogar als einen "engen Freund". Ihn zu belasten, sei ihm äusserst schwer gefallen. Weniger aufs Gemüt schlägt ihm, andere die er weniger gut kannte, zu den "sehr dominaten Hardlinern" in der Berliner RZ zu erklären. Mouslis Aussagen setzen sich aus einem schier undurchdringlichen Konglomerat von tatsächlich Erlebtem, vielleicht Gehörtem und wahrscheinlich Erdachtem zusammen. Gewissheiten wie "'Jon' und 'Judith' waren Mitbegründer der RZ", relativieren sich bei Nachfrage zu blossen Vermutungen: "Ich bin mir bei 'Jon' immer noch sicher. Das habe ich so gehört. Bei 'Judith' nicht, weil ich es nicht mehr so in Erinnerung habe." Es gibt aber noch handfestere Widersprüche. Die Behauptung Mouslis, Harald G. sei am Anschlag auf die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber beteiligt gewesen, ist falsch. Harald G. befand sich zum angegebenen Zeitpunkt in Polizeigewahrsam. Nach Mousli soll Rudolf Sch. auf Hollenberg 1986 geschossen haben. Hollenberg selbst will aber eine Frau gesehen haben. Selbst der Abgleich der DNA der Angeklagten mit an den Tatorten gefundenen Spuren war in sämtlichen Fällen negativ. Dennoch geben sich die Vertreter des Generalbundesanwalts nach wie vor siegessicher. Was bleibt ihnen auch anderes übrig. Und so ist ein langer, indizienreicher Prozess zu erwarten, der bis ins nächste Jahr fortgesetzt wird.

Dominique John

MAIL
http://www.freilassung.de/presse/berlin/woz230801.htm