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Presse

Datum:
Januar 2001

Zeitung:
Wochenzeitung (Zürich)

Titel:
Die Kronzeugen-Prozesse gegen die Revolutionären Zellen in Deutschland

Die Kronzeugen-Prozesse gegen die Revolutionären Zellen in Deutschland

Hallo "Daniel", ciao "Angie"

Zwei Kronzeugen und ein Aussenminister - in mehreren Verfahren soll mit der Geschichte der bewaffneten Linken abgerechnet werden. Am 16. Januar tritt Joschka Fischer als Zeuge im Frankfurter Opec-Prozess auf.

"Ich meine, es gibt keine leibhaftige Revolution, auf die man als gutes Beispiel mit dem Finger zeigen kann. Wir wussten nicht viel, aber das wussten wir. Unter den Pflastersteinen hat noch nie der Strand gelegen. Sondern Macht."

Jean-Claude Izzo, "Chourmo"

Kronzeuge werden

Berlin im Dezember. Vor dem Kammergericht in Berlin-Schöneberg betritt Tarek Mousli durch einen unterirdischen Seiteneingang den Verhandlungsraum. Unter seinem dunklen Rollkragenpulli zeichnen sich die Konturen einer schusssicheren Weste ab. Zwei Beamte des Bundeskriminalamt (BKA) flankieren den grossgewachsenen 41-jährigen Mann. Weitere Zivilbeamte sind im Zuschauerraum verteilt. Sie tragen Funkknöpfe in den Ohren und überwachen die etwa 50 Leute im Publikum. Mousli, einst autonomer Streetfighter und Karatelehrer, befindet sich im Zeugenschutzprogramm des BKA. 1999 wurde er als mutmassliches Mitglied der Revolutionären Zellen (RZ) in Berlin verhaftet. In der Untersuchungshaft wechselte er die Seite. Er stellte sich den Ermittlern als Kronzeuge zur Verfügung. Seine Aussagen führten zur Ausstellung von sechs Haftbefehlen gegen Personen in Frankfurt am Main, Berlin und Kanada.(siehe WoZ Nr.22/2000) Im Tausch garantierte die Bundesanwaltschaft ihrem Zeugen Strafverschonung, eine neue Identität und Existenz. Mousli verdient beim BKA seitdem monatlich 2400 Mark netto, zuzüglich Sozialversicherung, Krankenkasse, Miete, Telefon, Auto und persönlicher Eskorte.

So gesehen erscheint die Verhandlung vor dem 2.Strafsenat des Berliner Kammergericht gegen Mousli wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, des Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion und Verstosses gegen das Sprengstoffgesetz" eine reine Formsache. Wenn auch für Mousli eine unangenehme. Der Kronzeuge vermeidet jeglichen Blickkontakt mit den ZuschauerInnen. In den 80er Jahren war er eine feste Grösse in der Westberliner Autonomen-Szene. Im links-alternativen Mehringhof betrieb er eine Karateschule. Aufgrund seiner Behauptungen durchsuchten Spezialeinheiten in den letzten zwölf Monaten zweimal den Gebäudekomplex. Dem Vorsitzenden Richter Eckhart Dietrich erläutert Mousli, wie schwer es ihm gefallen sei, auch Leute wie seinen "besten Freund" Lothar E., einst Hausmeister im Mehringhof, zu belasten. Aus dem Publikum zischt es: "Du schmieriger Hund". Eine Frau ruft, bevor sie aus dem Saal stürmt: "Ich wünsche dir, dass du an deinen Aussagen erstickst".

Zumeist verläuft die Verhandlung in der Strafsache Mousli jedoch im Plauderton. Richter Dietrich, ein jovialer älterer Herr, verliest einzelne Punkte aus der Anklageschrift, die ihm die Generalbundesanwälte vorgelegt haben. Der Kronzeuge bestätigt die Aufzeichnungen und korrigiert den Richter höflich. Dieser spricht auch noch bei der Urteilsverkündung irrtümlich von "Roten Zellen". Mousli war nach eigenen Angaben von 1985 bis 1990 unter dem Decknahmen "Daniel" ein nachgeordnetes Mitglied einer Gruppe der RZ in Berlin. Die Bundesanwaltschaft ordnet dieser Gruppe 40 Anschläge zu. Bei den Knieschuss-Attentaten auf den Leiter der Berliner Ausländerbehörde Harald Hollenberg (1986) und den Abschieberichter Günther Korbmacher (1987) sowie einem Sprengstoffanschlag auf die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber in Berlin (1987) hätte er im Hintergrund den Funkverkehr überwacht und die Fluchtwege gesichert. Da er an den Tatausführungen nicht unmittelbar beteiligt gewesen sei, könne er auf andere Beteiligte oftmals nur vom Hörensagen schliessen.

Dies tut er sehr freizügig. Aus Gesten und Andeutungen will er zum Beispiel in Rudolf Sch. "den Schützen der RZ" identifiziert haben. Bevor Mousli zum Kronzeugen mutierte, hatten die Fahnder allerdings ihn selbst in Verdacht. Im Sommer 1999 verhörten sie Karmen T., eine frühere Freundin Mouslis. Sie gab zu Protokoll, er habe sich ihr gegenüber gebrüstet, auf Korbmacher geschossen zu haben. Vor dem Kammergericht zog Bundesanwalt Rainer Griesbaum jetzt die früheren Aussagen der Zeugin in Zweifel. Ob sie nicht etwas missverstanden habe? Die Nachfragen des Bundesanwalts erreichen ihr Ziel. "Hundertprozentig beschwören würde ich das nicht," sagt die Zeugin schliesslich.

Ganze vier Verhandlungstage dauert dieses erste Verfahren gegen ein mutmassliches Mitglied der Berliner RZ. In seinem Schlusswort entschuldigt sich Mousli für die Taten. Einige ZuschauerInnen werfen ihm Pfennig-Münzen zu. Sein Rechtsanwalt spricht seinen längsten Satz in diesem Verfahren: "Ich schliesse mich sämtlichen Anträgen der Bundesanwaltschaft an." Richter Dietrich tut dies ebenso. Der Kronzeugen erhält wie angekündigt zwei Jahre Haft auf Bewährung. Bis zum nächsten Zeugenauftritt im Frühjahr entschwindet er mit seinen Leibwächtern wieder in den unterirdischen Katakomben des Kammergerichts. Bereits am 27.April 2000 hatte ihn die Bundesanwaltschaft - "gegen Auflagen" - aus der Untersuchungshaft entlassen.

Kronzeugen-Tango

Frankfurt am Main im Januar. Vor dem Landgericht läuft seit Oktober der Prozess gegen Hans-Joachim Klein. Dieser gehörte bis 1977 den frühen RZ an. Nachdem seine KampfgefährtInnen Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann bei der Flugzeugführung in Entebbe ums Leben kamen, beschloss er auszusteigen. Er, der bis dahin unter dem Kampfnamen "Angie" zu den Hardlinern der 70er-RZ gehörte, schickte in einer theatralischen Geste Brief und Revolver an den "Spiegel". Seinen Abgang spickte er mit Denunziationen gegen den verbliebenen Rest der Gruppe.

Ideologisch flankierten ihn bei seinem Ausstieg die Frankfurter Spontis um Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer. Vor dem Abtauchen in den Untergrund gehörte Klein zur gemeinsamen militanten Szene in Frankfurt. Als Klein den RZ den Rücken kehrte, hatten die Spontis ihren Kronzeugen gefunden, um die gerade vollzogene eigene Abkehr von militanter Politik plausibler zu gestalten. Klein wurde zum Schützling dieser Szene. Cohn-Bendit und andere organisierten ihm das Exil in Frankreich. Dafür reklamierten sie seine bei Rowohlt 1979 erschienenen Memoiren für sich. Die "Rückkehr in die Menschlichkeit", so der Titel von Kleins Schrift, sollte dem Eintritt in die Grünen und dem Bekenntnis zu "gewaltfreier Politik" eine stärkere moralische Autorität verleihen. Wie ein Blick in die Archive zeigt, tat sie das auch. Ohne den Sieg in solchen linken Debatten wäre Fischer schwerlich Aussenminister geworden. Klein bezahlte seinen Part mit der kompletten (Selbst-) Demontage seiner Person. Angeleitet von Lektor Cohn-Bendit geriet er zum grossmäuligen Prolet, der nach schwerer Kindheit und angefixt von den StudentInnen in die Guerilla "rutscht". Erwacht, nach der grossen Knallerei, wird aus dem Draufgänger so ein Opfer, dass sich um "den Rest des Lebens beschissen" fühlt. "Es ist die Geschichte der linksradikalen Bewegung in Frankfurt", kommentierte dies der "Pflasterstrand", Zentralorgan der Frankfurter Spontis. Wäre es nicht den anderen fast ebenso ergangen? Und dem entsprechend edel musste Klein auch weiterhin handeln. Nachdem er den Pfad der Revolution verlassen hatte, durfte er nicht ohne Umweg einfach zur Polizei gehen. Er musste den mühsamen "dritten Weg" beschreiten. Was in seinem Fall hiess, dass er 21 Jahre lang in Frankreich geparkt wurde und solche Sätze schrieb: "Der Kronzeugen-Tango jedenfalls liegt mir nicht im Blut."

Nach Enttarnung und Festnahme 1998 bot er den Ermittlern sofort seine Dienste an. Die Kronzeugenregelung scheint ihm die einzige Möglichkeit, einer langjährigen Haftstrafe zu entgehen. Seine Beteiligung an dem Überfall auf die Konferenz der OPEC-Ölminister in Wien 1975 steht ausser Zweifel. Das gemischte deutsch-palästinensische unter dem Kommando von Illich Ramírez Sánchez ("Carlos") tötete in Wien drei Menschen. Klein, selber angeschossen, wurde zusammen mit den Geiseln ausgeflogen. Der Frankfurter Staatsanwalt Volker Rath bezichtigt ihn nun des dreifach gemeinschaftlich begangenen Mords und Geiselnahme. In einem Fall ist er verdächtig, selbst der Todesschütze gewesen zu sein. Lediglich das letztere streitet er ab.

Wer war "Sharif"?

Neben Klein mit auf der Anklagebank: Rudolf Sch. Klein identifizierte ihn in den Verhören 1999 "eindeutig und ohne jeden Zweifel" als jenen Mann, der ihn für den Opec-Überfall angeworben hätte. Rudolf Sch. hätte schon in den 70er-RZ unter den Decknamen "Max" und "Scharif" agiert. Von der Richtigkeit dieser Aussage hängt für Klein und die Anklagebehörde einiges ab. Die Ankläger bezichtigen Rudolf Sch. allein wegen Kleins Behauptung der Beihilfe zum Mord beim OPEC-Überfall. Und für Klein wäre die Verurteilung von Rudolf Sch. aufgrund seiner Aussagen eine Voraussetzung, um in den Genuss der strafverschonenden Kronzeugenregelung zu gelangen.

Vor Gericht erschien im November jedoch Gerd-Hinrich Sch. Und der wiederholte, was er bereits Anfang der 90er Jahre in einer Vernehmung durch das BKA eingeräumt hatte: Er war mit Brigitte Kuhlmann liiert und firmierte in den 70er-RZ unter dem Decknahmen "Max" und "Sharif". An RZ-Aktionen war er nur am Rande beteiligt. 1977 hat er sich gänzlich aus den RZ verabschiedet und arbeitet heute als Agrarbiologe in Nicaragua. Stasi-Unterlagen bestätigen die Aussagen von Gerd-Hinrich Sch. Zähneknirschend kündigte die Staatsanwaltschaft jetzt an, die Anklage gegen Rudolf Sch. wegen Beteiligung am OPEC-Überfall fallen zu lassen. (Nun sollen die Aussagen des Kronzeugen Mousli für andere Verfahren gegen Rudolf Sch. genügen.)

Für den verhinderten Kronzeugen Klein gerät der Prozessverlauf immer mehr zu einer peinlichen Vorführung. Unter Tränen schilderte Cohn-Bendit wie der "naive" Klein mit seiner "James-Bond-Welt" in den Untergrund entglitt. Bis kurz vor seiner Fetsnahme habe der grüne Europaabgeordnete den Aussteiger immer wieder gedrängt, sich freiwillig den Behörden zu stellen. Am 16.Januar wird Aussenminister Joscka Fischer ähnliches von sich geben, wahrscheinlich etwas weniger emotional und etwas deutlicher auf Abstand zum einstigen Schützling bedacht. Der 20 Jahre später zum Kronzeugen gewordene Mousli hat es insofern um einiges leichter: Er unternimmt erst gar keinen Versuch, seinen Verrat politisch oder moralisch zu legitimieren. Die Szene existiert ohnehin nicht mehr. Aber auch Mousli, die modernisierte Variante des Kronzeugen, legt Wert darauf, in der Verhandlung als Zweifler und sanftmütiger Mensch zu erscheinen. Ob ihn diese neue Sensibiltät auch durch die kommenden Verfahren trägt?

Enormer Aufwand gegen entwaffnete Linke

Anfang der 90er Jahre lösten sich die Revolutionären Zellen (RZ) auf. Sie hatten sich in den 80er Jahren als bewaffneter Arm der sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik verstanden. Im Gegensatz zur Roten Armee Fraktion (RAF) setzten sie Gewalt niedrig dosiert und eher symbolisch ein. Die "Feierabend-Guerilleros" verübten überwiegend Anschläge gegen Sachen. Die RZ begründeten viele ihrer Aktionen zuletzt mit einer unter der Kohl-Administration schleichend betriebenen Einschränkung der Bürger- und Menschenrechte. In den 80er Jahren hatte sich der Ton in der Bundesrepublik gegen Zugewanderte oder Asylsuchende deutlich verschärft. Unter der Obhut deutscher Behörden waren auch einige "Ausländer" in westdeutschen "Verwahranstalten" zu Tode gekommen. In zwei "Bestrafungsaktionen" schossen die RZ einem leitenden Beamten der Berliner Ausländerbehörde sowie einem für Asylverfahren zuständigen Richter in die Beine. Diese beiden Attentate waren die einzigen, in denen die 80er-RZ gezielt Menschen verletzte. Ihre Aktionen suchten sie in der Regel in ausführlichen und relativ weitverbreiteten Schriften zu erklären.

In den 70er Jahren hingegen erschien die Politik der RZ wesentlich desperater. Ein Teil der Gruppierung war in ein internationales Netzwerk verflochten. So arbeitete ihr "internationalistischer" Flügel mit der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) zusammen. Das Blutbad auf dem Flugplatz von Entebbe bezeichnete 1976 Fiasko und Ende dieser Politik. Anders als die RAF gestanden die RZ begangene Fehler öffentlich ein. Sie orientierten sich nach Entebbe neu, ohne jedoch auf Gewalt als Mittel von Politik zu verzichten.

In der juristisch zweifelhaften Figur des Kronzeugen scheinen die 80er-RZ und ihr populär gewordener Mythos vom "bewaffneten Reformismus" heute vom Justizapparat und längst abgeschlossen geglaubten Ereignissen eingeholt zu werden. Mit den beiden RZ-Aussteigern Tarik Mousli und Hans-Joachim Klein wollen die Ankläger belegen, dass ein Mitglied der 80er-RZ bereits bei Aktionen wie dem Überfall auf die OPEC-Konferenz 1975 in Wien involviert gewesen sei. Ungeklärt ist auch weiterhin, wer 1981 (offenbar versehentlich) den hessischen Wirtschaftsminister Heinz Herbert Karry erschoss. Die Fahnder versuchen, den Gruppen aus den verschiedenen Phasen der RZ eine starke personelle Verschränkung nachzuweisen. Ein solcher Beleg könnte vor Gericht und in der Öffentlichkeit härtere Strafen gegen die mutmasslichen Mitglieder der 80er-RZ legitimieren. Den im Zusammenhang mit der Berliner RZ-Gruppe Inhaftierten werden schliesslich Taten angelastet, die mehrheitlich wegen Geringfügigkeit verjährt sind. Gerade gegen die 80er-RZ wird heute mit einem enormen Aufwand ermittelt. So waren allein bei der ersten Hausdurchsuchung im Alternativzentrum Mehringhof in Berlin Ende 1999 tausend Beamte im Einsatz. Ausgerechnet in dem von über 50 Gruppen genutzten und öffentlich zugänglichen Gebäudekomplex vermutete die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe das zentrale Waffen- und Sprengstofflager der RZ. Der Tipp kam vom Kronzeugen Mousli. Auch bei einer zweiten Durchsuchung wurde nichts gefunden. Der enorme Fahndungsaufwand lässt sich juristisch kaum mit der Gefährlichkeit einer seit nun fast zehn Jahren aufgelösten "kriminellen Vereinigung" erklären. So scheint den 80er-RZ vor allem aus politischen Gründen der späte Prozess gemacht zu werden. Dieses Verfahren wird voraussichtlich im Frühjahr beginnen.

Andreas Fanizadeh

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