Aktion gegen das Humangenetisches Institut Münster
(August 86)
Wir waren am 5.8. im Humangenetischen Institut in Münster,
um uns einige Akten anzueignen und um möglichst viel durch
Feuer zu zerstören.
Abschaffung aller humangenetischen Institute und Beratungsstellen!
Stop der Bio- und Gentechnologie!
Die Bio- und Gentechnologie ist eine entscheidende Schlüsseltechnologie
im gegenwärtigen imperialistischen Umstrukturierungsprozeß.
Ihre Anwendung in der Nahrungsmittelproduktion (Hungerpolitik),
Kriegsforschung, für neue Produktionsverfahren und als soziales
Kontroll- und Steuerungsmittel dient allein der Profit- und Herrschaftssicherung.
Es geht den HERRschenden nicht um qualitative Verbesserungen der
Lebensbedingungen, sondern darum, sämtliche menschlichen Lebensbereiche
den Interesssen der Verwertbarkeit, Kontrolle, Machtsicherung und
technischer Machbarkeit zu unterwerfen.
Selbst
die Katastrophe von Tschernobyl [15]
wird die Bio- und Gentechnologie nutzen, ihren Anteil an der Planung
einer katastrophalen Normalität akzeptabel und profitabel zu
machen: die genetische Aussonderung der Menschen gemäß
vergifteter Umwelt und miserabler Arbeitsbedingungen, für den
quantitativen und qualitativen Bedarf dieses Systems. Studien zur
Prüfung erhöhter genetischer Empfindlichkeit gegenüber
Radioaktivität werden am HUMANGENETISCHEN INSTITUT in MÜNSTER
seit einigen Jahren durchgeführt.
Dieses Institut ist ein Baustein für die in der BRD angestrebten
flächendeckenden genetischen und sozialen Kontrollen über
menschliches Leben und Reproduktion. Nach der Kosten- Nutzen- -
Analyse wird die Verminderung der Fortpflanzung von behinderten,
nicht verwertbaren, nicht angepaßten Menschen (z.B. die Bewohner
von sog. Asozialen- Siedlungen/W. Lenz vom Institut) und die Steigerung
der Geburtenrate von wünschenswertem, leistungsfähigem,
ökologisch weniger anfälligem Menschenmaterial propagiert.
Die Nähe zur faschistischen Auslese- Ausmerze- Politik ist
nicht weit hergeholt, sie personifiziert sich in Münster in
dem führenden NS- Rassehygieniker v.Verschuer, der ab 51 Direktor
des Instituts war. Als solcher hat er eine umfassende Erhebung (2
Millionen Personen) über krankhafte Erbmerkmale durchgeführt,
Grundlage für ein Machwerk über den Nutzen frühkindlicher
Euthanasie [16] (1958):
16.000 Kinder kamen zur Vernichtung in Betracht. Diese Forschungen
sind im Genetik- Register des Instituts festgehalten, werden weiter
ausgebaut und verarbeitet.
Verschuers Nachfolger haben die traditionellen Ziele nicht
aufgegeben, die faschistische Ideologie ist durch die wissenschaftlich
untermauerte Sorge um "die drohende Verschlechterung des Erbgutes"
(Tünte) und eine "Eugenik der Gesundheitspolitik"
weiterentwickelt worden.
Als Erforschung genetisch bedingter Krankheiten ausgewiesen, wird
in den aktuellen Schwerpunkten des Instituts Grundlagenforschung
betrieben, die die Voraussetzung schafft für eine umfassende
genetische Selektionspolitik, die bisher in den Bereichen pränatale
Diagnostik (vorgeburtliche Aussonderung/Vernichtung) und Arbeitnehmer/innen-
Screening (Aussonderung bzgl. der Schadstoffbelastbarkeit am Arbeitsplatz)
praktisch betrieben wird.
Geforscht und gearbeitet wird in Münster an der Lokalisierung
von Genen und Chromosomen (Genkartierung), an der möglichst
weitreichenden Erfassung genetischer Merkmale, an der Entwicklung
technischer Verfahren zur Erfassung und Manipulierbarkeit erblicher
Defekte, an der Herstellung des Zusammenhangs zwischen genetischer
Abweichung und Sozialstruktur und an der EDV- gerechten Verarbeitung
des erhobenen Datenmaterials.
Überregional fließt das gesammelte Datenmaterial in
verschiedene Zentralregister ein und wird weiterkoordiniert mit
dem bereits bestehenden Gesundheitskontrollapparat. Es wird hiermit
die Basis geschaffen für eine aggressive Sozialpolitik, die
entlang der Kosten- Nutzen- Analyse die Vernicht sog. "unwerten"
Lebens offensiv betreibt ... (in der Vorlage unleserlich [17])
... wird über die Zusammenarbeit mit der Uni- Frauenklinik
sichergestellt. Zudem (???) eine Beratung Mittel zur Durchsetzung
der Normalität genetischer Nachwuchsplanung, Akzeptanzstudien
werden gleich mitbetrieben.
Das Ganze wird verkauft als individuelle Lebens- und Gesundheitsfürsorge.
Unter dem verinnerlichten Druck, Normen zu erfüllen - verbunden
mit Angst, die von oben bewußt geschürt wird, oder Hoffnung
auf individuelles Lebensglück - liefern die ratsuchenden Frauen
das Material für eine Forschung, die sich gegen die Frauen
selbst richtet: weitere Enteignung der Frauen von ihrem Körper,
die gesamte menschliche Reproduktion soll ausschließlich unter
den Zugriff und der Kontrolle medizinischer Techniker stattfinden,
damit die Frauen für Mann/Staat/Kapital gesunde und leistungsfähige
Kinder produzieren. Anderssein, das den herrschenden Interessen
widerspricht, wird zum genetischen Defekt. Die Verantwortung, diesen
Defekt zu vermeiden, wird jeder einzelnen Frau zugeschoben.
Daß sich diese Politik vor allem gegen Ausländerinnen,
Frauen der unteren sozialen Klasse und Behinderte richtet, zeigt
sich an den sozialhygienischen Zwangsmaßnahmen, denen sie
durch Abtreibungs- und Sterilisations"empfehlungen" unterworfen
sind und von denen sie in der Zukunft durch die Verweigerung der
Kostenübernahme im Falle einer Behinderung betroffen sein werden
- wie schon heute in den USA.
Der Bevölkerungspolitik hier nach den Kriterien der Verwertbarkeit
entspricht auf brutalste und mörderische Weise die Vernichtung
breiter Teile der Bevölkerung in den drei Kontinenten.
Frauen müssen sich dieses Gesamtzusammenhangs und ihrer Verantwortung
bewußt sein, wenn sie die "Dienste" dieser Institute
in Anspruch nehmen.
Mit der genetischen Klassifizierung der Menschen schaffen sich
die HERRschenden ein Instrumentarium, die Menschen in ihren sozialen
Zusammenhängen zu erfassen und zu kontrollieren, sie den Bedingungen
von Ausbeutung und Verwertung zu unterwerfen und so die patriarchale
Klassenherrschaft erneut zu festigen.
Wir bekämpfen diese Technologie nicht wegen ihrer Nichtberechenbarkeit
oder unabsehbarer Folgen, wie oft argumentiert wird, sondern wir
kämpfen gegen die beabsichtigte und tagtäglich praktizierte
Normalität dieser Technologie, die die Vernichtung, Unterdrückung
und Unterwerfung von Menschen sehr berechnend plant und durchführen
hilft. Nicht die Katastrophe ist das, was uns bedroht, sondern daß
es einfach so weitergeht.
Kampf dem imperialistisch- patriarchalen Normalzustand!
Rote Zora
Zweite Erklärung zu Aktionen gegen das Humangenetische
Institut Münster
(Januar 1987)
Die sexistische Arbeitsteilung und Ausbeutung und die Gewalt gegen
Frauen ist für uns Bestandteil des patriarchalen Herrschaftssystems,
ohne das Imperialismus in der Dritten Welt und hier nicht begriffen
werden kann.
Im Kampf gegen die Bio- und Gentechnologie sehen wir einen Ansatzpunkt,
unseren Widerstand gegen dieses System, gegen jegliche Unterdrückung,
für Frauenbefreiung weltweit zu entwickeln. Wir sehen unseren
Kampf hier nicht losgelöst von den Verhältnissen, die
der Imperialismus in der Dritten Welt bewirkt, sondern als konkreten,
praktischen Anti- Imperialismus, indem wir versuchen, den reibungslosen
Ablauf der Kapitalstrategien und sein Eingreifen in die Strukturen
der Dritten Welt hier zu behindern.
Anlaß für unsere Aktion und diese Veröffentlichung
war für uns die Tatsache, daß die Humangenetik ein wesentlicher
Ansatzpunkt in der öffentlichen Auseinandersetzung über
die Gen- und Reproduktionstechnik war/ist. Die Diskussion um die
Humangenetik spiegelt eine Perspektivlosigkeit in der Frauenbewegung
wieder, zumindest wenn sie so wie in Berlin auf der ANTIGENA geführt
wird. Wo sind die Forderungen und Ansätze geblieben, die den
von den Herrschenden vorgegebenen Rahmen und deren Denkmuster sprengen?
Wo fordern wir unsere feministischen Utopien noch ein?
Die Behinderten in Berlin forderten die Schließung der Humangenetischen
Beratungsstellen. Diese Einrichtungen sind die Schaltstellen für
die gesundheitliche Erfassung möglichst vieler Menschen, für
die Selektion von erwünschtem und unerwünschtem Nachwuchs,
für die Verbreitung der Idee, alle gesellschaftlichen Probleme
- vom Alkoholismus über Allergien, Kriminalität und Behinderung
- seien biologischer Natur und medizinisch reparierbar.
Gegen die Forderung der Behinderten erhob sich massiver Protest
unter den Frauen: es müsse jeder Frau zugestanden werden zu
entscheiden, ob sie ein behindertes Kind wolle, jede Frau müsse
diese Entscheidung selbstständig treffen und die Forderung
nach Schließung würde ein Tabu einrichten.
Dabei ist ein ganz anderes Tabu längst schon in unsere Köpfe
eingepflanzt: Das Tabu, über die bestehenden gesellschaftlichen
Verhältnisse hinwegzudenken und zu fordern: das Recht, anders
zu sein als der Durchschnitt; das Recht, sich entgegen aller Proganda
von Humangenetikern, Medizinern und Sozialpolitikern eine Welt vorzustellen
und darum zu kämpfen, in der Kranke und Behinderte integriert
sind. Eine Welt, in der sie keine Last sind. Eine Welt, in der die
ganzen krankmachenden Umweltbedingungen und gesellschaftlichen Verhältnisse
verschwunden sind.
Die Propaganda der Humangenetiker, Bevölkerungspolitiker und
auch unsere eigene Angst stellen das Problem auf den Kopf: Ein Giftmüllskandal,
ein Atomunfall sind Anlaß, die Humangenetik anzupreisen und
gegen die Opfer herrschender Politik zu wenden.
Sie sagen, daß den Frauen geholfen werden soll. Sie bekommen
Informationen an die Hand, die sie zu einer selbstbestimmten Entscheidung
über Abtreibung/Sterilisation führen sollen.
Und die "Selbstbestimmung" hat spätestens dort ihre
Grenzen, wo sich z.B. Frauen in der Psychiatrie, in den Sonderschulen,
unangepaßte Frauen hier und vor allem auch die "überflüssigen"
und Widerstand leistenden Frauen in der "3. Welt" nicht
den bevölkerungspolitischen Zielen der Herrschenden "freiwillig"
unterwerfen - diese Tatsache bleibt bestehen, auch wenn das alles
zum "Wohl" für Behinderte, Sonderschüler, Psychiatrisierte
und Arme in der 3. Welt umgedeutet wird.
Mit Hilfe der genetischen Klassifizierung soll die Ausgrenzung
aller erreicht werden, die sich nicht bedinglos der Normalität
des kapitalistischen Arbeitsalltags unterwerfen.
Geplant wird, nach Kosten- Nutzen- Rechnungen die Versorgungskosten
für "kranke" Kinder und Erwachsene zu senken. Während
dieses Problem im Faschismus durch schlechtere Versorgung und spätere
Vernichtung des "unwerten" Lebens gelöst wurde, sind
die Methoden der heutigen Humangenetiker subtiler: Durch ihre Propaganda
"Selbstbestimmung der Frau, Verhinderung von Leiden der Behinderten
und ihrer Angehörigen" wollen sie erreichen, daß
die Frauen sich freiwillig den bevölkerungspolitischen Zielen
der Herrschenden unterwerfen.
Das Bedürfnis von Frauen nach einem gesunden Kind ist erstmal
ein Ausdruck der Situation, daß nach wie vor in diesem Staat
die Frauen die eigentliche Verantwortung für die Kinder haben
und deshalb jede Abweichung vom sogenannten Normalen zu Lasten der
Frauen geht. In der Ökonomie des kapitalistisch/patriarchalen
Systems sind Frauen immer "Manövriermasse" in der
Reproduktion und auf dem Arbeitsmarkt, die objektiv maßgeblich
zur Senkung der Lohnkosten beiträgt. Auch in dieser Logik müssen
Frauen leistungsfähige, d.h. gesunde Kinder kriegen, die sich
möglichst kostengünstig für Mann/Kapital/Staat fit
machen sollen.
Denjenigen,
die sich diesen Plänen widersetzen, droht ein ganzer Sanktionskatalog:
Einschränkung der finanziellen Möglichkeiten, wenn behinderte
Angehörige nicht mehr über die Solidargemeinschaften wie
z.B. Krankenkassen oder Rentenanstalten unterhalten werden, Einschränkung
der individuellen Möglichkeiten, wenn Frauen für die Versorgung
der Behinderten allein zuständig sind, gesellschaftliche Isolierung
oder Ausgrenzung - Psychiatrie/Zwangssterilisation, etc. Durch das
Vorsorge- und Untersuchungsangebot der Humangenetiker werden Ängste
der Frauen kanalisiert, von den eigentlichen Verursachern - wie
Chemiekonzerne, Atomlobby, Giftmüllproduzenten - abgelenkt
und individualisiert. Ein Giftmüllskandal führt eher zu
der Forderung nach Ausweitung der humangenetischen Beratung in der
Schwangerschaft als zum Sturm auf die Giftmüllproduzenten und
zu gemeinsamen Aktionen bei den Gesundheitsbehörden. Die bestehenden
Untersuchungsangebote sind schlichtweg ein Alibi und sollen der
Beruhigung der Opfer dienen.
Um die Entstehung von Krankheiten bei Neugeborenen einzugrenzen,
sind nicht die humangenetischen Beratungsstellen sinnvoll, sondern
erstens müssen die krankmachenden Umweltbedingungen, und zweitens
muß die technisierte Geburtsmedizin - aufgrund derer ca. 50
% der Behinderungen bei Neugeborenen zurückzuführen sind
- abgeschafft werden.
Die Humangenetiker kennen nur einen verschwindend kleinen Anteil
von "Störungen oder Schäden", die genetisch
bedingt sein sollen.
Wichtigstes Ziel ist es daher, für ihre Forschungen Datenmaterial
zu sammeln, das so breit wie möglich gefächert ist (hierbei
beziehen sie auch Krankheiten wie Alkoholismus oder Krebs ein).
Hier treffen sich die Interessen der Reproduktionsmediziner, der
Gentechnologen und Vorsorge- Ärzte, die Hand in Hand arbeiten.
Der Begriff "Selbstbestimmung" der Schwangeren ist in
diesem Zusammenhang fehl am Platz: Ärzte bestimmen die Untersuchungsmethoden,
Humangenetiker die Interpretation der Ergebnisse und der 218 bestimmt
die Bedingungen der Abtreibung. Rückblickend müssen wir
sagen, daß die 218- Kampagne der Frauenbewegung in der (vielleicht
auch unbewußten) Tradition der Selektion und Ausgrenzung von
Behinderten gestanden hat. Dies ist eindeutig enthalten bei der
eugenischen Indikation. [18]
Die in den letzten Jahren systematisch geschürte Angst vor
einem behinderten Kind, die Strategie, Kosten- Nutzen- Denken in
alle Köpfe zu verpflanzen, Krankheit als individuelles Verschulden
und Problem hinzustellen, hat scheinbar verfangen. Die Forderung
nach selbstbestimmter Nutzung der humangenetischen Beratung zu stellen,
heißt die Forderung nach selbstbestimmter Selektion zu erheben.
Selbstbestimmung ist nicht mehr kollektive, politische und kämpferische
Forderung gegen die Integration/Unterwerfung unter herrschende Verhältnisse,
sondern Legitimation für individualistische Prozesse. Diese
Individualisierung politischer Konflikte macht uns nicht nur schwach,
sie ist unpolititsch und läßt uns unsere Utopien aus
den Augen verlieren.
Lasst uns die humangenetischen Beratungsstellen schliessen!
Klauen wir ihnen die Datensammlungen!
Solidarisieren wir uns mit denen, die ausgemerzt und ausgegrenzt
werden sollen!
Greifen wir die an, die uns kaputtmachen!
Lasst es uns zusammen machen!
Für eine starke internationale Frauenbefreiungsbewegung!
Kampf dem imperialistisch- patriarchalen System!
Bei unserem Besuch im Humangenetischen Institut (HGI) in Münster
im August letzten Jahres ist es uns gelungen, das Archiv zu zerstören;
das jedenfalls schrieb die Presse in den nachfolgenden Tagen. Es
war das Lebenswerk von Lenz, das er im Lauf seiner Tätigkeit
am humangenetischen Institut in Münster aufgebaut hatte. Diesem
Archiv wurde laut Zeitungsmeldungen internationale Bedeutung zugeschrieben.
Einiges haben wir in der Nacht mitgenommen, alles andere ist verbrannt.
Uns ist es auch nicht in erster Linie darauf angekommen, das Archiv
auszulagern, wir wollten es vorrangig zerstören, damit die
Macht, die Weißkittel aus solchen Archiven ziehen, an einer
Stelle gebrochen wird.
Bei der Durchsicht der Akten haben wir keine spektakulären
Schweinereien aufgedeckt, wie sie etwa bei Stockenius der Fall gewesen
ist. Das heißt allerdings nicht, daß hier solche nicht
passieren, da unsere Auswahl nicht repräsentativ ist.
Wichtig für uns ist, von der Fixierung auf die Skandale wegzukommen.
Sie gehören zwar zu diesem System und sind als solche auch
zu denunzieren. Gleichzeitig haben die Skandale oft aber die Funktion,
daß sich die kritischen Wissenschaftler und Mediziner dagegen
abgrenzen können, um damit die Harmlosigkeit ihrer Arbeit zu
dokumentieren und die Akzeptanz des sozial- politischen Konzepts
der Humangenetik erhöhen.
Es ist vielmehr die alltägliche Normalität - das Erfassen
und Aufarbeiten der Daten, das Einpflanzen des Selektionsgedankens
in die Köpfe der Menschen - , die die Gefährlichkeit dieser
Institute ausmacht.
Zu den Personen
- Widukind Lenz,
langjähriger Direktor des Humangenetischen Instituts in Münster,
vor einiger Zeit von seinem Amt entpflichtet, aber noch weiter
tätig in seinem Archiv, hoffentlich nur bis zum Tag der Vernichtung
seines Lebenswerks. Er ist Anfang der 60er Jahre in Hamburg, wo
er an der Kinderklinik des Unversitätskrankenhauses Eppendorf
arbeitete, bekannt geworden durch die Arbeit an der Aufdeckung
des Zusammenhangs zwischen kindlichen Mißbildungen und dem
Schlafmitttel Contergan. Er gilt als Spezialist auf dem Gebiet
frühkindlicher Schädigungen.
- Tünte,
Leiter der Humangenetischen Beratung in Münster, Spezialist
für den Bereich Populations- und Sozialgenetik.
- O.v. Verschuer,
Studium der Medizin und Anthropologie u.a. bei Fritz Lenz (Vater
von W. Lenz, Rassenhygieniker, der für ihn persönlich
und beruflich eine große Bedeutung hatte) in München,
bei Eugen Fischer in Freiburg (ab 1927, Gründer und Leiter
des Kaiser- Wilhelm- Instituts für Anthropologie, menschliche
Erblehre und Eugenik).
Bis 1935 Mitarbeiter in Fischers Institut. Begründet dort
seinen wissenschaftlichen Ruf mit der Forschung an "Tuberkulösen
Zwillingen".
1933 Professor für Rassenhygiene und Erbbiologie.
1935- 1942 Gründer und Direktor des Instituts für Erbbiologie
und Rassenhygiene in Frankfurt. Schwerpunkt des Instituts: umfangreiche
Zwillingsforschung, [19]
Familienforschung, erbbiologische Bestandsaufnahme.
Eine der senkrecht startenden Assistenten an seinem Institut ist
Mengele [20], dem Verschuer
auch verbunden bleibt, nachdem Mengele in die SS überwechselt.
Beide Judenhasser, beide wissenschaftliche Vertreter der Ausmerze.
Herausgabe eines "Leitfadens für Rassenhygiene"
für die Nachwuchsschulung.
1942- 1945 Nachfolger Fischers als Direktor des Kaiser- Wilhelm-
Instituts. Vortragsreisen mit eher ideologischen Themen (Erbanlage
als Schicksal und Aufgabe der Bevölkerungs- und Rassenhygiene
in Europa, Erbanlage und Charakter. Verschuers Institut betreibt
eine Außenstelle in Auschwitz. Leiter: Mengele).
Nach dem Krieg (1949 Mitglied der Akademie der Wissenschaften
in Mainz) 1951 Direktor des Instituts für Humangenetik in
Münster.
Erbberatung
Die allgemeine Verunsicheruung und Angst, die z.B. durch Skandale
und deren Veröffentlichung hervorgerufen werden, lassen die
Humangenetischen Beratungsstellen (HGB) zu einer scheinbar hilfreichen
Einrichtung werden.
Die HGB kann dann die aufgeschreckten Ratsuchenden mit sachlichen
Argumenten beruhigen, mit Prozentzahlen und Verharmlosung der Schädigung
von Umweltgiften und Medikamenten.
Auf Anfragen mit speziellem "Verdacht" wird immer mit
Prozentzahlen geantwortet, zum Teil mit medizinischen Erläuterungen
zur dominant rezessiven Vererbung, die das Ausgeliefertsein gegenüber
den Risiken eher fördern als relativieren und damit verstärkte
Unsicherheit produzieren. In der Beratung Tüntes wird fast
immer entweder weitere Untersuchung und/ oder Beobachtung nahegelegt
oder im Falle der Schwangerschaft pränatale Diagnostik "empfohlen",
was ebenfalls die Unsicherheit verstärkt, die Angewiesenheit
auf medizinische Einrichtungen unterstreicht, das totale Abhängigkeitsgefühl
hervorruft. Die Verunsicherung treibt die Betroffenen in die Verfügungsgewalt
der Mediziner und Genetiker, die dann ihrerseits mit Hilfe ihres
medizinischen Apparates beruhigen.
Die Antwortschreiben auf die Anfragen der Ratsuchenden sind im
väterlich fürsorglichen Ton geschrieben und suggerieren
persönliche Anteilnahme und Betreuung nach dem Motto "in
unserer Obhut sind Sie gut aufgehoben, wir untersuchen und erforschen
genauestens, werden Ihnen eine objektive Antwort geben und das Beste
für Sie herausfinden, worüber Sie frei entscheiden können."
Es wird fast nie zur Abtreibung oder Kinderlosigkeit geraten. Aus
dem Material geht hervor, daß es derzeit nicht primär
um die Verhinderung von Behinderten geht, sondern um Stigmatisierung
(Kriterien für normal- nicht noromal), um das Sammeln und Aufarbeiten
von genetischen Daten, um die Verbreitung des Selektionsgedankens
("es ist möglich, Behinderung zu vermeiden").
Oft wird den Ratsuchenden eine weitere Beobachtung angeboten oder
Zusatzinformationen angefordert. Nach außen wirkt es wie eine
unsystematische, zufällige Sammlerleidenschaft, nach innen
wird archivert und erfaßt.
Eine besondere Bedeutung des Humangenetischen Instituts liegt in
der Zentralisierung. Es scheint zum Selbstverständnis vieler
Ärzte und Krankenhäuser zu gehören, daß sie
"interessante Fälle" an das Humangenetische Institut
schicken, damit diese aufgearbeitet werden.
Es gibt weitere Hinweise auf zentrale Datenerfassung. Sterilisationsempfehlungen
bei bestimmten Krankheitsbildern - d.h. Zwangssterilisationen -
sind die konsequente Folge dieser Wissenschaft.
Aus dem vorliegenden Material läßt sich insgesamt eine
grundlegende These formulieren: Der individuelle "Genpool"
wird verantwortlich gemacht für sogenannte Erkrankungen, Miß-
und Fehlbildungen. Exogene [21]
Schädigungswirkungen von Giften, Medikamenten, Strahleneinwirkungen
werden verharmlost. Teilweise berechtigte Ängste von Frauen
werden auf die individuelle Verantwortlichkeit hin kanalisiert.
Hochgespielt wird die Verantwortung für ein fehlerfreies Leben,
heruntergespielt dagegen die Auswirkungen von alltäglichen
Katastrophen, d.h. von der Zerstörung der Natur und Umwelt
bis zur HERRschenden Techno- und Pharma- Medizin.
Medikamente, Strahlen und Gifte
Aus den Antwortschreiben von Lenz geht die Verharmlosung von Drogen,
Tabletten, Strahlen etc. hervor, gegenüber dem "schwerwiegenderen"
Problem des Alkoholismus. Seiner Ansicht nach gilt für Mutationen,
daß der Einfluß des Lebensalters weitaus größer
ist als der von erheblichen Strahlenmengen. Auch eine Chemotherapie
ist unbedeutend.
Diese Strategien der Verharmlosung, deren sich die Herren Humangenetiker
bedienen, basieren immer auf der Beweisführung der Betroffenen.
Kein Pharmaproduzent muß die nicht- schädigende Wirkung
seines Medikamentes beweisen, bevor es auf dem Markt kommt. Erst
die Erfahrungen in der Praxis - also die reinen Menschenversuche
- bringen den Beweis für schädigende oder nicht- schädigende
Wirkung auf den Menschen, den Fötus. An diesem Prinzip hält
sich auch der Lenz. Liegen ihm keine größeren Untersuchungsreihen
über eine Medikamenteneinnahme während der Schwangerschaft
und der Vergleich mit Neugeborenen vor, oder hat es bisher keine
ihn hellhörig machenden Rückmeldungen aus den Krankenhäusern
bzw. Kinderkliniken, die einen Verdacht der Korrelation von Behinderung
und spezifischem Medikament aufkommen lassen, gegeben, stellt er
der Pharmaindustrie Unbedenklichkeitsbescheinigungen aus. Ab und
zu mit der Frage gekoppelt, allerdings nur an die Kollegen in den
Krankenhäusern, ob noch weitere Fälle bzgl. dieses Präparates
bekannt sind.
Wenn ein Medikament wie z.B. Reparil schon jahrzehntelang in der
Schwangerschaft verabreicht wurde "ohne daß jemals der
Verdacht einer teratogenen (zur Fehlbildung führenden) Wirkung
aufgetaucht ist", kann das verschiedene Gründe haben,
aber es ist nicht der Beweis, daß das Medikament keine teratogene
Wirkung hat. Kein Verdacht bedeutet nicht den Ausschluß. Die
Unbedenklichkeitsbescheinigungen liegen vollkommen im Interesse
der Pharma- Industrie, mit denen er regen Kontakt pflegt, wie weiter
unten dokumentiert. Zynisch klingen auch seine Antworten auf Nachfragen
nach den Hinweisen entsprechender Beipackzettel der Medikamente:
"... darf während der Schwangerschaft nicht verabreicht
werden" oder andere warnende Hinweise: Sie dienen allein dazu,
die Firmen "vor sinnlosen Prozessen zu schützen"
oder ähnlich von ihm formuliert.
Die Unbedenklichkeit gegenüber Medikamenten begründet
Lenz mit dem unverfrorenen Vergleich "anderer Substanzen unserer
natürlichen und künstlichen Umwelt, [...] die wir ohne
es zu wissen aufnehmen". Absolut abwieglerisch wird Lenz zum
Thema "Dioxin". Seine Korrespondenz mit Boehringer Ingelheim,
die in ihm einen Verbündeten gegen die "Verunglimpfung"
von Dioxin- Gift gefunden haben, verdeutlicht seine guten Kontakte
zur Pharmaindustrie und das Interesse, sein Wissen, sein Fachansehen
auch in ihren Dienst zu stellen.
Auch Schering pflegt den Kontakt zur Humangenetik.
Die Loyalität gegenüber Industrie und HERRschender Medizin
ist absolut durchgängig.
Die sprachliche Zurückhaltung von Lenz, auch mit dem Umgang
der Amniozentese [22],
ist der Tatsache geschuldet, daß er einer Generation entstammt,
die durch den Nationalsozialismus behaftet ist. Von der Berührung
mit sozialer Eugenik sind seine Beratungen weiter entfernt als dies
bei seiner Instituts- Nachfolgegeneration der Fall ist; Tünte
spricht hier eine deutlichere Sprache.
Sozialgenetik
1971 wird an die Deutsche Forschunggesellschaft (DFG) ein Förderungsantrag
"Genetische Erhebung" gestellt, aus dem hervorgeht, daß
Tünte die "Sozialgenetik" als neue Fachdisziplin
vorantreiben will. In Forschungsberichten, die 1975 als Jahresbericht
an die Deutsche Forschungsgesellschaft gehen, wird dieses Vorhaben
konkretisiert.
Ziel dieser Forschung ist es, die "sozialen Dimensionen genetischer
Erkrankung sichtbar und meßbar zu machen, um ein umfassendes
Konzept zur Intensivierung der genetischen Beratung zu entwickeln,
in dem neben den genetischen Fragen auch die sozialen und psychologischen
Aspekte Berücksichtigung finden:" Daraus erwächst
die Möglichkeit, nicht norm- gerechtes Verhalten als Krankheit
zu definieren und möglichst breit zu erfassen. Als Arbeitsbegriff
für Behinderung gilt "die Einschränkung in Bezug
auf eine oder mehrere Aktivitäten, welche in Übereinstimmung
mit dem Alter, Geschlecht und der sozialen Rolle der jeweiligen
Person, als die allgemein wesentlichen und grundlegenden Bestandteile
des Alltagslebens angesehen werden." Die von der "Leistungsgesellschaft"
an den einzelnen gestellten Anforderungen sind der Maßstab
für normgerechtes Verhalten.
Der soziale Anspruch, mit dem Tünte seinen Forschungsapparat
zu legitimieren versucht - nämlich die Umweltbedingung an Behinderung
durch Vorurteile und Stigmatisierung aufzudecken - entlarvt sich
in seinen eigenen Schlußfolgerungen: "Soziale Strukturen
beeinflussen die Manifestation der zu Nüftluxation disponenten
Erbanlagen, wenn z.B. infolge ärmlicher Lebensbedingungen eine
rechtzeitige Diagnose und eine optimale Behandlung unterbleiben."
..."die Frage der gesellschaftlichen Belastung durch Erbkrankheiten
ist für die Sozialgenetik von zentraler Bedeutung." Natürlich
hebt Tüne hervor, daß Sozialgenetik eine wertfreie Wissenschaft
ist und grenzt sie als solche gegen die Eugenik ab. Wenn er aber
die gesellschaftliche und finanzielle Belastung von Erbkrankheit
ins Spiel bringt - im Zusammenhang mit Überlegungen der Kosten-
Nutzen- Analyse - wird die Sprache deutlich.
Aufschlußreich schien uns die Art der Datenerhebung für
seine Untersuchungen. Einerseits griff er auf das Genetikregister
des Instituts zurück, andererseits ermittelte er über
das Einwohnermeldeamt nicht betroffene Vergleichspersonen. Die Ergebnisse
wurden computergerecht aufgearbeit. Das Ganze ist mehr als zwölf
Jahre her, wird von ihm selbst als Anfang einer neuen Forschungsrichtung
bezeichnet.
Historisch aber immer noch aktuell
Zum Schluß begeben wir uns in die Geschichte des Nationalsozialismus.
Aus dem Inhalt einer historischen Akte zu den Vortragsreisen Verschuers
im Jahre 1939- 1944 ist uns ein Vortrag vor Verwaltungsleitern der
Heil- und Pflegeanstalten in Berlin 1939 zu veröffentlichen
wichtig. Hier geht es um die Einbindung der Krankenhäuser in
die Erfassung von Zwangssterilisationen. Ein für die heutige
Zeit aktuelles Thema, wo die Datenerfassung in den Krankenhäusern
stark zunimmt - von Krebsregistern über die Diagnostikstatistik
bis zur integrierten Datenverarbeitung.
- Damals wie heute wurden und werden sogenannte Behinderungen
in der Krankenakte festgehalten, auch wenn der Krankenhausaufenthalt
damit nichts zu tun hat, und Krankengeschichten werden obligatorisch
registriert.
- Damals wie heute gab und gibt es die Diskussion, jeden Arzt
in das System der Rassenhygiene bzw. humangenetischen Beratung
einzubeziehen.
- Damals wie heute stellte und stellt sich die Frage nach der
notwendigen Ausbildung im Fach Rassenhygiene bzw. Humangenetik,
selbst für die Lehrerausbildung.
- Mit der Einrichtung der Erbkarteien sollte eine "gesundheitliche
Bestandsaufnahme unseres Volkes angestrebt" werden. Angestrebt
wird heute eine gesundheitliche Bestandsaufnahme der Bevölkerung,
eine möglichst flächendeckende Erfassung und Registrierung
der Menschen durch medizinische Institutionen, Karteien und Register,
damit die qualitative Kontrolle des "Bevölkerungsmaterials"
gewährleistet ist und bevölkerungsmanipulierende Maßnahmen
ergriffen werden können.
- Damals wie heute gab und gibt es gleiche Methoden und Vorgehensweisen
der Erforschung: Familienforschung und Statistik, Zwilllingsforschung
und empirische Erbprognose. Heute hinzugekommen sind die biotechnischen
Möglichkeiten der Chromosomen- und Genuntersuchungen und
daran gekoppelt die EDV- mäßige statistische Verarbeitung.
- Das Objektverhältnis gegenüber menschlichem Leben
generell äußerte sich gegenüber den Frauen als
Objekt der Forschung und Mittel der Umsetzung quantitativer und
qualitativer Bevölkerungspolitik besonders in dem Interesse,
die Fruchtbarkeit der sogenannten wertvollen Frauen optimal auszubeuten.
Das "Leid der Kinderlosigkeit" war immer schon Anknüpfungspunkt
für die Durchsetzung von HERRschaftsinteressen.
Parallelen und Ähnlichkeiten von Struktur und Ideologie damals
wie heute könnten weiter fortgeführt werden, aber uns
reichts!
Auffällig ist natürlich die vorsichtige Formulierung
in heutigen Konzepten. Es ist nicht direkt von der Verantwortung
der/des Einzelnen der Volksgemeinschaft gegenüber die Rede,
sondern eher vom Leid des Individuums und der Verantwortung sich
selbst gegenüber, obwohl ab und zu auch schärfere Töne
zu vernehmen sind. Man spricht nicht von Ausmerze und Zwangsmaßnahme,
sondern ist bemüht um die Propaganda des Prinzips der Freiwilligkeit.
Wir denken, daß die dokumentierten Vergleiche an Deutlichkeit
keinen Zweifel lassen.
Rote Zora
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