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Früchte des Zorns

Aktion gegen die A+B- Stelle für Roma + Sinti, Köln

(November 89)

Uneingeschränktes Bleiberecht für Sinti und Roma!

Als im April 1919 bewaffnete Arbeiter der Münchner Räterepublik das Polizeipräsidium besetzten, da flogen zusammen mit den Akten der politischen Polizei auch tausende von "Zigeuner"- Personalakten aus den Fenstern und gingen im Hof in Flammen auf. Die revolutionären Arbeiter vernichteten die Aktenbestände der bereits 1899 in Bayern eingerichteten "Zigeunerzentrale", die mit den damals verfügbaren modernsten Polizeimethoden und in Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden im ganzen Reich das Ziel einer zentralisierten und totalen Registrierung und Überwachung der in Deutschland lebenden Sinti und Roma verfolgte.

Die Episode wirft ein Licht auf die Tradition, in der die Kölner Sozial- und Ordnungsbehörden siebzig Jahre später eine "Zigeunerdatei" über alle in Köln lebenden heimatlosen Roma angelegt haben. Seit 1986 wurden im Rahmen des sogenannten "Kölner Modells" der Roma- "Betreuung" umfangreiche Daten gesammelt, die sämtliche Lebensbereiche der Kölner Roma erfassen. Im Zusammenspiel von Ordnungs- und Sozialbehörden, Staatsanwaltschaft, Polizei und Justiz diente das Material nicht nur dazu, im tagtäglichen Kleinkrieg von Kontrolle, Diskriminierung und Terrorisierung den Roma das Überleben so schwer wie möglich zu machen. Es begründet heute die Forderung und Androhung der Abschiebung gegen Roma- Familien durch die Kölner Sozialbehörde und das Ausländeramt.

Wir sehen den Skandal dieses Vorgangs nicht in dem einen oder anderen Verstoß gegen den Datenschutz, vielmehr in der Normalität und Kontinuität der rassistischen Sondererfassung und Sonderbehandlung, der die Roma immer noch ausgesetzt sind.

SintiWer sich auch nur im Ansatz mit der Geschichte der Verfolgung von Sinti und Roma in Deutschland beschäftigt, dem erscheint die fast bruchlose Kontinuität unfaßbar, mit der die gleichen Institutionen der Verfolgung unter wechselnden Namen, aber mit den immer gleichen Methoden, Inhalten und Personal den sozialen Krieg gegen die "Zigeuner" organisierten, um durch Zwangsassimilierung, Kriminalisierung, Vertreibung und die schließliche Vernichtung im Nationalsozialmus ihre Lebensgrundlage und Lebensweise zu zerstören. Das Instrumentarium der lückenlosen Ausforschung, Überwachung und Sozialkontrolle war dabei immer Basis und Vorausetzung für alle weiteren staatlichen Maßnahmen zur Drangsalierung, die im Völkermord an einer halben Million Sinti und Roma ihren Höhepunkt fand.

Die Bestände der Münchener "Zigeunerzentrale", deren Akten den revolutionären Arbeitern in die Hände gefallen waren, wurden nach Niederschlagung der Räterepublik schnell wieder aufgebaut. Ihre Tätigkeit läßt sich bis in den Nationalsozialismus weiterverfolgen, wo sie durch Erlaß Himmlers [35] in die "Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens" als Teil des Reichskriminalpolizeiamtes und des Reichssicherheitshauptamtes überführt wurde. Die Aufgaben der modernisierten und neustrukturierten Reichszentrale bleiben dieselben. Der Bruch, den der NS markiert, liegt darin, daß er der alltäglichen verwaltungsmäßigen Repression den Vernichtungswillen hinzufügte, der die Sinti und Roma in die Gaskammern und vor die Gewehrläufe der Einsatzgruppen in den besetzten Gebieten zwang. Gleichzeitig stellte der NS die bisherige rassistische Verfolgung durch die Verstaatlichung der Rassentheorie und Rassenforschung auf eine "wissenschaftliche" Grundlage.

Zum wichtigsten Instrument der Verfolgung der "Zigeuner" im NS wurde die "Rassenhygienische und erbbiologische Forschungsstelle" des Dr. Ritter, die ab 1937 im Auftrag und mit Unterstützung des Reichssicherheitshauptamtes die "Rassische" Erforschung und Selektion der Sinti und Roma vorantrieb. Die Gutachten und Empfehlungen des "Rassenhygieneinstituts" bstimmten richtungsweisend alle staatlichen Maßnahmen der Ausgrenzung, Umsiedlung, Deportationen, Ghettoisierung, Zwangssterilisierung und am Ende den Völkermord an Sinti und Roma. Der weitgehende Abschluß der "wissenschaftlichen" Erfassung und "rassischen" Begutachtung und die darauf aufbauenden Empfehlungen bildeten die Datenbasis für Himmlers "Auschwitz- Erlaß", mit dem die systematische Deportation der deutschen und europäischen Sinti und Roma in die Vernichtungslager begann.

Das Instrumentarium und Personal der "Zigeuner"- Verfolgung überlebte den NS beinahe bruchlos. Der Geist der Ausmerze bestimmte auch nach 1945 das Vorgehen gegen die Sinti und Roma in Deutschland. Schon 1953 wurde in Bayern die "Landfahrerzentrale" beim LKA unter Leitung von Josef Eichberger - im RSHA der hauptverantwortliche Organisator von "Zigeuner"- Deportationen - eingerichtet. Sie arbeitete auf der gesetzlichen Grundlage der von den Alliierten bis dahin aufgehobenen "Landfahrerordnung", mit der die überlebenden Sinti und Roma nun wieder sondererfaßt und - behandelt wurden.

Teile der NS- "Zigeunerakten", die die Unterlagen zur Planung und Durchführung des Völkermordes an Sinti und Roma bildeten, gelangten in den Besitz der gerade eingerichteten "Landfahrerzentrale". Sie dienten der Reorganisation des polizeilichen Überwachungssystems auf der Basis der Erkenntnisse der nazistischen "Zigeunerforschung". Gleichzeitig stellt das LKA in München den Ritter- Schülern NS- Rasseakten als empirisches Material für ihre "wissenschaftlichen" Abhandlungen zum "Zigeunerproblem" zur Verfügung. Aus diesem Personal rekrutierten bis in die 70er Jahre das Bundesinnenministerium und das Bundesgesundheitsministerium ihre "Berater in Zigeunerfragen". Die bayrische "Landfahrerzentrale" wurde zwar 1970 offiziell aufgelöst. Die polizeiliche Überwachung und Verfolgung der Sinti und Romas speist sich aber noch bis heute aus dem Material, Methoden und Inhalten der "Zigeunerexperten" jener Tage. Ihr Wissen ist für die Herrschenden umso wichtiger, als im Zuge der sozialen und politischen Veränderungen in Europa die Anwesenheit von Sinti und Roma in der BRD wieder aktuell wird.

In den letzten Jahren kamen sie besonders aus den südosteuropäischen Ländern auf der Flucht vor staatlich betriebener und geduldeter Verelendung, Verfolgung, Diskriminierung und Vertreibung. In den nächsten Jahren erwarten die europäischen Sozial- und Bevölkerungsplaner im Zuge der Herstellung des Großraums Europas den Zuzug weiterer "Zigeunergruppen" aus den Südregionen der EG. Sie wollen in ihnen diejenige europäischen Bevölkerungsgruppe ausgemacht haben, die am schnellsten wächst und aufgrund ihrer Mobilität auf der Flucht vor Arbeitslosigkeit und Verelendung am ehesten in den reicheren Norden drängt. Offen und unverhohlen wird deshalb auch die gegenwärtige Politik der Vertreibung südosteuropäischer Sinti und Roma mit der Furcht vor dem Nachzug vieler Tausend begründet, wenn den bereits Ansässigen erst ein Bleiberecht eingeräumt wird.

So schändlich die rassistische Behandlung der Sinti und Roma in den Ländern des real existierenden Sozialismus auch ist, der Teufelskreis aus Verelendung, Vertreibung und Flucht ist für sie im "freien Westen" nicht aufgebrochen. Nur die wenigsten von ihnen besitzen hier einen gesicherten Aufenthaltsstatus. Für die meisten ist das Leben in polizeilich überwachten Lagern und auf Stellplätzen, miserable Existenzbedingungen, ständige Schikanen durch Behörden und Bevölkerung und die Unklarheit über das weitere Schicksal Realität. Unbemerkt von der Öffentlichkeit versuchen die Ausländerbehörden seit Jahren, die hierher geflohenen Sinti und Roma wieder loszuwerden. Die Abschiebungen wurden - z.B. in Hamburg und NRW - immer nur für kurze Zeit und nur unter dem Druck und durch den Widerstand der Betroffenen und ihrer Unterstützer ausgesetzt, während anderswo weiter abgeschoben wurde.

Eingekeilt in die Alternative: Zwangsassimilierung oder Vertreibung setzen die Behörden Sinti und Roma sozialpädagogischen und polizeilichen Sondermaßnahmen aus, bei denen die "Betreuung" oft zur Vollzugshilfe für Polizei und Abschiebungen wird. Dabei ist von vornherein klar, daß nur wenige auf einen gesicherten Aufenthalt hoffen können. Das Bleiberecht ist an kaum erfüllbare und im Ermessen der Behörden stehende Kriterien der Zwangsintegration und - assimilierung gekoppelt, mit dem die Verantwortlichen über ein Selektionsinstrument und ein abgestuftes System der Hierarchisierung und Kontrolle verfügen, das darüber entscheidet, wer bleiben darf und wer nicht. Im Wissen um die Langlebigkeit einmal erhobener Daten (NS- Akten wurden noch in den 80er Jahren EDV-isiert) haben wir uns in den Besitz von Aktenbeständen der Kölner "Anlauf- und Beratungsstelle für ethnische Minderheiten" gebracht. Wir haben gleichzeitig der Forderung der Roma und ihrer Unterstützer nach Schließung der Projekte des "Kölner Modells" Nachdruck verliehen, indem wir die Räumlichkeiten und das zurückgebliebene Material in Flammen gesetzt haben.

Die "A+B- Stelle", dem Kölner Ordnungsamt unterstellt, ist eines der beiden Projekte, in dem die Ausforschung der Roma organisiert wurde. In rund 80 Ordnern wurden hier Sozialdaten über Lebensgewohnheiten, Personen und Familienstrukturen der Kölner Roma festgehalten. Aus dem gesammelten Material haben sich Polizei und Ausländerbehörden bedient und ihre Informationen im Kleinkrieg gegen die Roma bezogen. Seit Anfang August steht die Androhung der Abschiebung durch die Kölner Ausländerbehörden im Raum: begründet und legitimiert mit den Erkenntnissen der "A+B- Stelle".

Es erübrigt sich fast, darauf hinzuweisen, daß das Asylrecht als Teil des Instrumentariums der Ausgrenzung und Abschottung gegen Sinti und Roma funktioniert: ohne jede Aussicht auf Erfolg und entgegen den realen Gründen und Ursachen, die sie zur Flucht aus den Herkunftsländern veranlaßt haben, durchlaufen Sinti und Roma das Anerkennungsverfahren als politisch Verfolgte. Danach steht ihr Aufenthalt zur Disposition der Ausländerbehörden. Wenn die Abschiebungsmaßnahmen gegen Sinti und Roma in den nächsten Wochen wieder aufgenommen werden, dann wird ein gespenstisches Szenario wahr: die "Züge in die Freiheit" [37], mit denen die DDR- Bürger in die BRD gelangen, kreuzen sich an den Grenzen nach Osteuropa mit den Deportationszügen, die Sinti und Roma in die verelendeten Regionen Europas transportieren.

Das restriktive Asylrecht und die ethnisch- völkisch legitimierten Aufenthaltstitel der Staatsbürgerschaft erweisen sich denn einmal mehr als selektives Instrument der Einwanderungskontrolle in den Händen der Herrschenden, die Flüchtlinge entlang rassistischer und nationalistischer Kriterien spalten und entscheiden, wem die Segnungen der westlichen "Freiheit und Demokratie" zustehen und wem nicht. Was bedeutet Freizügigkeit für die Arbeitsemigranten aus Nicht- EG- Ländern, für die vom Giftgas vertriebenen Kurden oder diejenigen, die in den Hunger- und Bürgerkriegsregionen ums nackte Überleben kämpfen?

Die Ausgrenzung und Abschottung der Elendsflüchtlinge und die großzügige Aufnahme der DDR- Bürger sind nur ein scheinbarer Widerspruch: Beide sind Manövriermasse in den Planungen von Staat und Kapital, mit dem der Wohlstand der imperialistischen Metropolen gegen die Ansprüche der Armen gesichert und gleichzeitig durch Einordnung der Menschen in die Hierarchie der Ausbeutung erst geschaffen wird.

Im sozial- und bevölkerungspolitischen Kalkül der Herrschenden eignen sich die gut ausgebildeten Facharbeiter aus der DDR, die seitenlang in den Spalten der Bild- Zeitung vom Kapital angeheuert werden, allemal besser zur Sanierung der Sozial- und Rentenversicherungen als die Armut aus den verelendeten Regionen der Welt, die diffamiert werden, sich nur in der BRD aus dem "Sozial- und Arbeitsamt der Welt" bedienen zu wollen. Daß die Flüchtlinge aus den Ländern der Dritten Welt, die trotz aller Abschottung den Weg hierhergefunden haben, dem Arbeitszwang durch illegale Beschäftigungen und den neuesten staatlichen Planungen zur Vernutzung am untersten Ende der Ausbeutungshierarchie ausgesetzt werden, steht hierzu nicht im Widerspruch.

RassismusIn einer Situation der nationalistischen Begeisterung und Besoffenheit, in der die Träume großdeutscher - und das heißt imperialistischer Lösungen - wieder ernsthaft erwogen werden, wird es darauf ankommen, den sozialen Widerstand zu rekonstruieren. Den Widerstand gegen die Umstrukturierungsmaßnahmen, mit denen die Sozialplaner den globalen Klassenwiderspruch unsichtbar machen sollen. Diesem Ziel dient die Verwandlung Europas in eine Festung gegen Armutsflüchtlinge genauso wie die rassistische Hierarchisierung und Selektion der Flüchtlinge und Einwanderer durch Verteilung von Wohnraum, Arbeit und Sozialleistungen. Es wird notwendig sein, der rassistischen und nationalistischen Mobilisierung und Besetzung der Flüchtlings- und Ausländerthematik durch staatliche und rechtsradikale Abgrenzungs- und Abschottungspopulisten Aktionen entgegenzusetzen, die diejenigen zum Anknüpfungspunkt nehmen, deren Existenz und Überleben hier und in den Drittweltländern in Frage gestellt wird.

Die Grenzen verlaufen nicht zwischen den Nationen, sondern zwischen oben und unten!


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