Vorbemerkung Kapitel X
Widerstand gegen den NATO- Nachrüstungsbeschluß
Gegen den NATO- Nachrüstungsbeschluß im Dezember 1979
zur Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Westeuropa entwickelte
sich eine breite Friedens- und Anti- Kriegs- Bewegung, die Hunderttausende
mobilisierte und zur bislang wohl größten außerparlamentarischen
Protestbewegung der BRD wurde. Diese Bewegung setzte sich aus unterschiedlichen
- teilweise gegensätzlichen - politischen Strömungen zusammen.
Die Anti- Kriegs- Bewegung
Die
Anti- Kriegs- Bewegung wurde überwiegend von Linksradikalen
aus dem autonomen und antiimperialistischen Spektrum getragen. Der
Auslöser für diese Bewegung, die den Widerstand gegen
die NATO, gegen Krieg und Imperialismus zu ihren zentralen Themen
machte, war die militante Demonstration gegen die öffentliche
Rekrutenvereidigung am 6. Mai 1980 in Bremen. Die Linksradikalen
mobilisierten im September 1980 gegen die NATO- Herbstmanöver
in Hildesheim, aus ihren Reihen kamen auch die Gruppen, die Munitionstransporte
beobachteten und blockierten, und die "Krieg dem Krieg"-
Initiativen.
In den folgenden Jahren initiierten sie mehrere große, z.T.
militante Demonstrationen: im September 1981 in Berlin gegen den
US- Außenminister und ehemaligen NATO- Oberbefehlshaber Haig,
ein Jahr später, am 11. Juni 1982, ebenfalls in Berlin, gegen
den Besuch des amerikanischen Präsidenten Reagan anläßlich
eines NATO- Gipfeltreffens.
Im Sommer 1983 demonstrierten sie gegen den Besuch des amerikanischen
Vizepräsidenten Bush in Krefeld. Gleich zu Beginn zerschlugen
SEK- Einheiten diese Demonstration, viele Demonstranten wurden -
zum Teil schwer - verletzt. Von den Festgenommenen wurden einige
zu Haftstrafen bis zu 2 Jahren verurteilt.
Die Friedenbewegung
In der Friedensbewegung fanden sich u.a. pazifistische, kirchliche
und sozialdemokratische KriegsgegnerInnen, ehemalige K- Gruppen- Mitglieder
oder auch diejenigen, die zuvor in Bürgerinitiativen, z.B.
gegen AKWs, gearbeitet haben, zusammen.
Um
eine möglichst breite Beteiligung der Bevölkerung zu erreichen,
setzten sie Gewaltfreiheit als Voraussetzung für ihre Aktionen
durch und mobilisierten anfangs unter der Parole "Frieden schaffen
ohne Waffen". Diese Beschränkung führte unter anderem
dazu, daß bei der ersten großen Friedensdemonstration
im Oktober 1981 in Bonn ein Vertreter verschiedener - bewaffnet
kämpfender - Befreiungsbewegungen wieder ausgeladen wurde,
der in seiner Rede auf die in der 3.Welt herrschenden Kriege hinweisen
wollte, darauf, daß Friede in der 3.Welt nicht allein Nicht-
Krieg bedeutet, sondern "nationale Unabhängigkeit, soziale
Gerechtigkeit, kulturelle Identität, [...] das Ende der alltäglichen
Gewalt, der ungerechten Strukturen, des Hungers, des Elends, des
Terrors der Herrschenden." Er wurde von den Organisatoren am
Reden gehindert, da sein Redebeitrag ein "politisches Manifest"
sei und daher nicht auf die Kundgebung einer Friedensbewegung gehöre.
Diese Haltung wurde jedoch innerhalb des folgenden Jahres modifiziert,
auch unter dem Einfluß der zahlreichen Dritte- Welt- Gruppen,
die sich auch in der Friedensbewegung engagierten. Sie gehörten
auch zu den Initiatoren der Demonstration gegen den Besuch des amerikanischen
Präsidenten Reagan zum NATO- Gipfel am 10. Juni 1982 in Bonn,
an der ca. 500.000 Menschen teilnahmen.
Eine zentrale Motivation in der Friedensbewegung war die Angst
vor einer atomaren Vernichtung der BRD als dem Schlachtfeld, auf
dem die Supermächte USA und Sowjetunion ihren Machtkampf austragen
würden. Aus dieser Haltung resultierte nicht nur die Einschätzung
der deutschen Bevölkerung als Geisel der USA, sondern auch
die häufige Weigerung, weltpolitische Zusammenhänge und
Interessen - auch der deutschen Regierung - zur Kenntnis zu nehmen.
Spaltung und Distanzierung
Von Sprechern der "offiziellen Friedensbewegung" wurde
die Ausgrenzung der Linksradikalen, die die weltpolitischen Zusammenhänge
thematisierten und praktische Aktionen unternahmen, mittels der
"Gewaltfrage" immer weiter vorangetrieben. Sie setzten
das Prinzip der Gewaltfreiheit in ihrem Einflußbereich durch,
distanzierten sich von militanten Aktionen und arbeiteten eng mit
dem Staatsapparat zusammen. So war die Leitung der Demonstration
in Bonn 1982 durch eine direkte Standleitung mit der polizeilichen
Einsatzzentrale verbunden, um der Polizei bei der Ergreifung von
"Störern und Chaoten" behilflich zu sein. Später
wurde bekannt, daß sich Sprecher der Friedensbewegung an De- Eskalationsgesprächen
mit Vertretern der Polizei, des Innen- und des Verteidigungsministeriums
und des Militärs beteiligten.
Die linksradikale Anti- Kriegs- Bewegung versuchte weiterhin, vor
allem auf lokaler Ebene Bündnisse mit Teilen der Friedensbewegung
aufrechtzuerhalten, um ihre politischen Positionen zu vermitteln
und Einfluß auf die Friedensbewegung zu nehmen. Bei der Anti- Bush- Demonstration
in Krefeld 1983 zeigte sich jedoch, daß sie politisch isoliert
war, als der harte Polizeieinsatz gegen die autonomen und antiimperialistischen
Gruppen von Sprechern der Friedensbewegung gerechtfertigt, sogar
begrüßt wurde, ohne daß sich nennenswerter Protest
von der Basis regte.
Nach der Stationierung der Mittelstreckenraketen im Herbst 1983
zerfiel die Friedensbewegung: In der Anti- Kriegs- Bewegung wurden
bis 1986 die Blockaden von Munitionstransporten und des NATO- Herbstmanövers
1984 fortgesetzt.
Die Revolutionären Zellen und die Rote Zora
schreiben angesichts dieser Entwicklung Ende 1983 die Analyse "Krieg
- Krise - Friedensbewegung" mit dem Untertitel "In
Gefahr und höchster Not bringt der Mittelweg den Tod".
Sie kritisieren den Eurozentrismus und die "klammheimliche
Lust am Weltuntergang" der Friedensbewegung als Entwicklung,
die ungewollt oder beabsichtigt keine Perspektive von Klassenkampf
und Befreiung enthalten würde. In der Proklamation von Gewaltfreiheit
als allem übergeordneten Prinzip würden alle Mittel zur
Durchsetzung politischer Ziele aus der Hand gegeben.
Sie setzen dem die Analyse der politischen Zusammenhänge,
der Rolle der BRD innerhalb der NATO, der politisch- ökonomischen
Situation in den Ländern der 3. Welt entgegen.
Um die behauptete "Bedrohung aus dem Osten" zu widerlegen,
stellen die RZ/ Rote Zora in dem Kapitel "Der
Ostblock - ein blinder Fleck in der politischen Geographie der Linken"
die wirtschaftliche Lage und die Ziele der Sowjetunion denen des
Westens und der NATO gegenüber und kommen zu dem Ergebnis,
daß die Stationierung der Mittelstreckenraketen einer der
letzten Schritte zur Unterwerfung des Ostblocks unter die Interessen
des Imperialismus sei.
Im letzten Teil gehen sie nochmals auf die Entpolitisierung der
Friedensbewegung und die Zunahme nationaler Positionen ein und regen
eine Diskussion über Strategien und Ziele an, die sich an der
Klassenfrage und dem Internationalismus orientiert.
Auch wenn der Text erschien, als sich die Friedensbewegung als
Massenerscheinung weitgehend aufgelöst hatte, erreichte er
jedoch die wohl weiteste Verbreitung von allen bisherigen theoretischen
Erörterungen der RZ. Durch Veröffentlichungen in der taz
und vielen Nachdrucken in kleineren Zeitungen ging er über
den Rezeptionsbereich der linksradikalen Szene hinaus.
Die Anmerkungen zu diesem
Kapitel befinden sich im Buch auf Seite 735 ff.
[Zurück zum Inhaltsverzeichnis]
[weiter]
|