Vorbemerkung Kapitel VII
Das Atomprogramm
1959 wurde unter dem Vorsitz des damaligen (ersten) Atom- Ministers
Franz Josef Strauß das Atomgesetz zur Nutzung der Kernenergie
verabschiedet. Dieses war von der "Atom- Kommission" vorbereitet
worden, der neben Regierungsmitgliedern die Deutsche Bank, Siemens,
AEG, Esso und Energiekonzerne wie RWE angehörten. Ziel des
Atomprogramm war es, "alle Bestrebungen zu fördern, die
mit der Entwicklung und Nutzung der Atomenergie zusammenhängen",
wobei diese Entwicklung und Nutzung sowohl militärische wie
zivile Bereiche umfaßt.
Die Entwicklung der Anti- AKW- Bewegung
Die Widerstandsbewegung gegen dieses Atomprogramm nahm ihren Anfang
1974/75 in Wyhl - im "Dreyeckland" zwischen Deutschland,
Frankreich und der Schweiz.
Gegen den geplanten Bau eines AKW wehrten sich vor allem die betroffenen
Winzer, Bauern und Fischer aus der Region aus Angst um ihre wirtschaftliche
Existenz. Sie gründeten Bürgerinitiativen, erhoben Einspruch
und organisierten Kundgebungen und Demonstrationen. Als trotz des
Protestes die 1. Teilerrichtungsgenehmigung erteilt wurde, erfolgte
am 18. Februar 1975 die Bauplatzbesetzung durch die Bevölkerung.
Die brutale Räumung des besetzten Bauplatzes am 20. Februar
1975 löste eine breite Mobilisierung aus. Drei Tage später
fand eine Kundgebung mit mehr als 28.000 Teilnehmern statt, der
Bauplatz wurde erneut besetzt. Bei Verhandlungen zwischen VertreterInnen
der Bürgerinitiativen, der Landesregierung und den Betreibern
im Herbst 1975 konnten die AKW- GegnerInnen erreichen, daß
der Bau des Kraftwerks ausgesetzt wurde und die Betreiber auf Schadensersatzansprüche
und Strafanzeigen gegen die Platzbesetzer verzichteten. Damit hatte
die Anti- AKW- Bewegung einen großen Erfolg erreicht - der die
Bewegung anfangs entscheidend prägte.
Im
Sommer 1974 wurden die Pläne für den Bau des AKWs in Brokdorf
bekannt. Angesichts der Erfahrungen in Wyhl wurde diesmal der Bauplatz
in der Nacht zum 26. Oktober 1976 von Polizei und Werkschutz besetzt,
um den Baubeginn sicherzustellen. Nach der ersten Demonstration
von ca. 8.000 am 30. Oktober 1976 - bei der eine kurzfristige Besetzung
des Bauplatzes durch die AKW- GegnerInnen gelang - kamen zur Demonstration
am 13. November 1976 fast 45.000 AKW- GegnerInnen. Seit Brokdorf
engagierte sich - vor allem durch die räumliche Nähe zu
Hamburg - auch die städtische Linke zunehmend in der Anti-
AKW- Bewegung. Der Staat reagierte mit massivem Einsatz von Schlagstöcken,
Chemical Mace, Wasserwerfern und sicherte das Baugelände mit
Betonmauern und Wassergräben.
Innerhalb der Anti- AKW- Bewegung vollzog sich nach und nach eine
Spaltung zwischen den Befürwortern von Bauplatzbesetzungen
und den sog. gemäßigten AKW- GegnerInnen. Bei der dritten
großen Brokdorf- Demonstration am 19. Februar 1977 mobilisierten
die Bauplatzbesetzer direkt zum Baugelände, die eher gewaltfreie,
"gemäßigte" Fraktion rief zur einer Kundgebung
in Itzehoe, mehrere Kilometer vom Bauplatz entfernt, auf.
Einen Monat später fand die erste Demonstration - getragen
von einem breiten Bündnis - gegen das geplante AKW in Grohnde
statt. Hier gelang es den militanten AKW- GegnerInnen, eine große
Bresche in den Bauzaun zu reißen, eine Platzbesetzung wurde
jedoch von Bundesgrenzschutz- Hundertschaften verhindert.
Krise der AKW- Bewegung
Die Anti- AKW- Bewegung war mit zunehmender polizeilicher Präsenz
und staatlicher Repression konfrontiert:
So
wurde in Malville/ Frankreich bei einer internationalen Großdemonstration
gegen den "Superphenix" der AKW- Gegner Michel Vitalon
bei heftigen Auseinandersetzungen mit der französischen Spezialeinheit
CRS getötet. Als am 24. September 1977 von Anti- AKW- Gruppen
aus der BRD, Holland, Frankreich und Belgien zu einer Kundgebung
gegen den Schnellen Brüter nach Kalkar aufgerufen wurde, begann
eine Pressekampagne von Landes- und Bundespolitikern, in der die
AKW- GegnerInnen als "Chaoten" und "Terroristen"
diffamiert und vor einer Beteiligung an dieser Demonstration gewarnt
wurde. In einem "beispiellosen Großeinsatz der Polizei"
wurden im gesamten Bundesgebiet Kontrollstellen eingerichtet und
innerhalb eines Tages 125.000 Personen überprüft. Rund
20.000 TeilnehmerInnen blieben in den Kontrollen auf Autobahnen
etc. stecken; die 50.000 DemonstrantInnen, die den Kundgebungsplatz
erreichten, erwartete ein massives Polizeiaufgebot mit Wasserwerfern,
Hubschraubern und Panzerwagen.
Mittlerweile war deutlich geworden, daß der Erfolg von Wyhl
nicht wiederholt und kein AKW mehr verhindert werden konnte, weder
durch Verhandlungen noch durch Massenmilitanz und Platzbesetzungen.
Zur gleichen Zeit vertiefte sich die Spaltung zwischen Gewaltfreien
und Militanten, zwischen außerparlamentarischer Bewegung und
denjenigen, die auf Parteien und den Staatsapparat einwirken wollten
(und später z.T. an der Gründung der "Grünen"
beteiligt waren); auch die Erfahrungen der Linken im "Deutschen
Herbst" zeigten in der Anti- AKW- Bewegungen ihre Auswirkungen.
Dennoch fanden in dieser Phase zahlreiche dezentrale militante Aktionen
statt.
Erst zwei Jahre später nahmen Demonstrationen und Blockaden
wieder zu: Auslöser waren zum einen der Beginn der Probebohrungen
in Gorleben (geplanter Standort für eine Wiederaufbereitungsanlage),
zum anderen die Reaktorkatastrophe in Harrisburg/USA.
Die Zusammensetzung der Anti- AKW- Bewegung
Die Motivationen der AKW- GegnerInnen für ihren Widerstand
sind unterschiedlich, sie reichen von der Angst vor der Vernichtung
der Umwelt - parallel zu einem stärker werdenden ökologischen
Bewußtsein - , der Verteidigung der eigenen sozialen und wirtschaftlichen
Existenz wie in Wyhl bis zum Kampf gegen den "Atomstaat"
- ein Synonym für den totalitären Überwachungs- und
Polizeistaat (siehe Beispiel Traube in Vorwort Nr. 3)
Die Anti- AKW- Bewegung war - nach der Frauenbewegung - die erste
Massenbewegung mit übergreifender sozialer Zusammensetzung.
Damit war das bisherige Konzept der Linken, sich in ihrer politischen
Arbeit auf "die Klasse" zu beziehen (Betriebsarbeit, Stadtteilarbeit,
Knastgruppen etc.) zur Disposition gestellt.
Die Revolutionären Zellen
erklären daher in dem Interview von 1980, daß ihre Auseinandersetzung
mit der Anti- AKW- Bewegung erst im Sommer 1977 begonnen habe, da
ihnen "die soziale Basis dieser Bewegung sehr suspekt"
gewesen sei.
In den 70er Jahren hatten sie sich in erster Linie auf "Jugendliche,
Frauen und Arbeiter" (aus "Revolutionärer Zorn 1")
bezogen, ihre Hoffnung auf Verbreiterung ihrer Politik setzte an
der subjektiven Erfahrung von Unterdrückung an und darauf,
daß aus der eigenen Erfahrung gesamtgesellschaftliche Verhältnisse
in einem kapitalistischen, patriarchalen System erkannt und bekämpft
wurden.
Die Anti- AKW- Bewegung war die erste Massenbewegung, die konkrete
Ziele wie die Abschaffung der AKWs und den Kampf gegen Umweltzerstörung
formulierte und von Anfang an den Charakter einer Teilbereichsbewegung
hatte.
Kennzeichnend für die Anti- AKW- Bewegung war die politische
Breite, sie setzte sich aus Gruppen mit sehr unterschiedlicher Motivation
und sozialer bzw. politischer Herkunft zusammen.
Mit
dem Einstieg der Linken in die AKW- Bewegung seit Brokdorf entstand
der Versuch, in diesem breiten Bündnis politischen Einfluß
auf Ziele und Aktionen der Bewegung zu nehmen. Gleichzeitig war
dies der Beginn einer (Macht-)Auseinandersetzung mit politischen
Strömungen innerhalb der Bewegung, die eine Infragestellung
der gesellschaftlichen Verhältnisse ablehnten und eine Zusammenarbeit
mit Trägern der staatlichen Gewalt anstrebten. Die Gewaltfrage
wurde zum Instrument der Spaltung, um linksradikale Positionen auszugrenzen.
Diese Auseinandersetzung, die sich teilweise bis Mitte der 80er
Jahre hinzog, wird auch in dem Startbahn- Papier und dem Diskussionsbeitrag
"Krieg- Krise- Friedensbewegung" immer wieder aufgegriffen.
Wie viele AKW- GegnerInnen setzten sich die RZ mit der Perspektive
der Anti- AKW- Arbeit auseinander, als die Massenmilitanz an ihre
Grenzen stieß und suchten neue Formen und Inhalte für
die Fortführung des Widerstandes.
Als Antwort auf diese Krise schlagen sie eine Erweiterung der inhaltlichen
Bezugspunkte vor, z.B. die Dimension der Umweltzerstörung insgesamt,
um auch in den Städten eine Handlungsperspektive zu entwickeln
und die Fixierung auf die - meist ländlichen - Standorte der
AKW's aufzuheben, verweisen auf den internationalen und militärischen
Aspekt der Atomtechnologie und den Ausbau der BRD in einen Überwachungs-
und Atomstaat.
Als praktische Umsetzungsform empfehlen sie ihr eigenes Konzept
der dezentralen klandestinen Aktionen, an den Orten, an denen Betreiber
oder Planer von AKWs angreifbar sind.
So richteten sich ihre Aktionen gegen die Firma MAN, Nürnberg,
wegen deren Beteiligung am Atomgeschäft mit Südafrika,
gegen die Firma Klein, Schanzlin und Becker, dem weltgrößten
Pumpenhersteller für AKWs, die Nordwestdeutsche Kraftwerke
als größtem Atomanlagenbetreiber in Norddeutschland,
sowie die Firmen Interatom und die Gesellschaft für Reaktorsicherheit.
Im Mai 78 legten sie eine Bombe beim Wach- und Kontrolldienst Nord,
der massiv an der Überwachung der Bauplätze und der Niederschlagung
des Widerstands beteiligt war und brannten den Wagen des für
den Einsatz gegen die Kalkar- DemonstrantInnen verantwortlichen leitenden
Schutzpolizeidirektors in Duisburg ab.
Mit ihrem Anschlag auf den Wetterturm in Ahaus stießen sie
bei der ansässigen BI auf die Kritik, "schlampig recherchiert"
zu haben, da der Turm seit langem außer Betrieb sei und keinerlei
reale Funktion erfülle. Die RZ arbeite zwangsläufig abgehoben,
diese Aktion habe die Zusammenarbeit von BI und Linken in Ahaus
keinen Schritt weitergebracht, "das hat für uns nichts
mit der abstrakten Gewaltfrage zu tun, sondern mit konkreten Zusammenhängen,
in denen kontinuierliche Arbeit geleistet wird".
Die Anmerkungen zu diesem
Kapitel befinden sich im Buch auf Seite 726 ff.
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