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Mili's Tanz auf dem Eis

"Fortschritt" und Reproduktion

Wesentliche Grundlage marxistisch- leninistischer Befreiungskonzepte ist der bürgerlich- abendländische Fortschrittsgedanke. Nach ML- Auffassung ist der Kapitalismus mit seiner besonderen Form der Entwicklung der Produktivkräfte und der Konstituierung des Klassengegensatzes zwischen Lohnarbeit und Kapital (und der damit verbundenen Fortentwicklung patriarchaler Macht und sexistischer Arbeitsteilung - aber davon wird nicht so genau geredet) eine gesellschaftlich notwendige und damit eigentlich "fortschrittliche" Entwicklungsstufe auf dem Weg zum Kommunismus. Den Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus bildet der Sozialismus, der die kapitalistische Form des Patriarchats nicht abschaffen, sondern nur "vergesellschaften", d.h. verstaatlichen soll. Der Staat erhält Macht über die Organisierung und Aneignung der (von der gesellschaftlichen Reproduktion entfremdeten) Arbeit bzw. des Mehrwerts. Der Staat soll dann aber nicht mehr als Ausbeutungsorgan, sondern als "Verwalter der Interessen der Arbeiterklasse" begriffen werden. Der männliche Glaube an die Fortschrittlichkeit der "Entwicklung der Produktivkräfte" - innerhalb zu schaffender zentralistischer Nationalstaaten - ist nicht zu trennen vom Glauben an die Fortschrittlichkeit des patriarchalen Aufklärungs- Bürgertums im kolonialen Europa. Dieser "Fortschritt" beruhte im wesentlichen auf der Ausplünderung und Zerstörung von Reproduktionsstrukturen in nichtkapitalistischen Gesellschaften in den Drei Kontinenten und auf der Neuorganisierung von Gewalt- und Aneignungsformen gegenüber Frauen und ihrem reproduktiven und Arbeitsvermögen. Die Weiterentwicklung der Produktivkräfte geht seit der Durchsetzung des Kapitalismus einher mit der Weiterentwicklung des Widerspruchs zwischen voneinander getrennter Produktion und Reproduktion. "Ursprünglich" (gemeint ist: in einer Gesellschaft frei von Ausbeutung und Macht) stand "Arbeit" für eine umfassende gesellschaftliche Lebenspraxis: die Wiedererneuerung des Lebens und kulturelle Tätigkeiten als Ausdruck der Beziehungen zwischen den Menschen und der Natur bzw. ihrer Umwelt - im umfassenden Sinn gesellschaftliche Reproduktionsarbeit. Der Kapitalismus hat diese umfassende "Arbeit" zum Zweck ihrer Umwandlung in Kapital auf den Kopf gestellt, die "produktive" Arbeit geschaffen (zum Zweck des Mehrwert- Raubs), indem er die "Reproduktion" davon abtrennte. Damit wurde Reproduktionsarbeit von einer allgemeinen gesellschaftlichen und kulturellen Arbeit/Betätigung auf die Tätigkeiten verkürzt, die der Erhaltung der "produktiven" Arbeitskraft dienen. Mit der Trennung zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit ging die Aufspaltung in einen gesellschaftlichen und einen privaten Sektor einher. Die Reproduktion wurde ins Private verdrängt, in ihrer Bedeutung entmachtet und von den Männern allein den Frauen aufgebürdet.

Diese hierarchische geschlechtliche Arbeitsteilung wird im Sozialismus nicht aufgehoben. Die Organisierung und Verfügung über die Produktion liegt lediglich in den Händen des Staates, der den Frauen nach wie vor (u.U. staatlich abgefedert) die Aufgaben der gesellschaftlichen Reproduktion aufzwingt, noch zusätzlich zum Zwang, ihre Arbeitskraft zu verkaufen.

Die Reproduktionsfrage wird so zum Dreh- und Angelpunkt für den Kampf gegen das Patriarchat - unabhängig von den jeweiligen gesellschaftlichen Systemen, in denen sich die sogenannte produktive Arbeit und Ausbeutung organisiert. In vielen Ländern der Drei Kontinente - vor allem in Afrika - ist der antikoloniale Befreiungsprozeß mit staatssozialistischen Zwangsmaßnahmen einhergegangen (Zwangskollektivierung, Industrialisierung der Landwirtschaft, Zerstörung der Subsistenzbedingungen und -strukturen und Vertreibung in die Städte durch Monokulturanbau, Staudämme und andere technologische "Fortschritte", Maschinen in Männerhand). Mit der Zerstörung traditioneller Lebens- und Wirtschaftsweisen wurden die Frauen mit neuen patriarchalen Gewaltverhältnissen konfrontiert.

Die Übernahme dieses Entwicklungsmodells durch Befreiungsbewegungen hat wohl zwei Begründungen: erstens die Verhaftung der 'revolutionären Eliten' in eben das gleiche vom Westen übernommene Fortschrittsdenken; zweitens haben sich viele mlorientierte Befreiungsorganisationen und anschließende Staatsmänner zur Übernahme des staatssozialistischen Entwicklungsmodells mit Anbindung an den Ostblock entschieden, weil sie sich von der SU Schutz gegenüber dem Imperialismus versprachen.

Heute hat sich bezüglich der Ziele und Hoffnungen von Befreiungsbewegungen einiges grundsätzlich verändert. Vor allem ist das Vereinende in der Bündelung antiimperialistischer nationaler Kämpfe gegen den gemeinsamen äußeren Feind verschwunden. Es hat sich herausgestellt hat, daß "der Imperialismus" nicht durch "nationale Unabhängigkeit" zu vertreiben ist. Statt der erstrebten Unabhängigkeit sind diese Staaten heute abhängiger denn je, ihre Führungen kämpfen um kapitalistische Investitionen und um "gerechte" Aufnahme in den neokolonialen Finanz- und Weltmarkt. Sicherlich spielt die imperialistische Einkreisung über Kriege, Counterguerilla und ökonomische Zwänge eine große Rolle dabei. Doch über die Ähnlichkeiten patriarchaler Macht- und Ausbeutungskonkurrenz (zwischen neuen "revolutionären" Machteliten und alten West- Ost- Konkurrenten), welche sich mit den Anbindungen an die Ost- West- Blöcke verfestigten, konnte sich die imperialistische Übermacht womöglich erst entfalten und Einfluß nehmen.

Diese Fortsetzung und Erneuerung patriarchaler Macht-, Ausbeutungs- und Gewaltverhältnisse in "antiimperialistischen" Staaten oder durch Gruppen, die diese Formen staatlicher Macht anstreben, war und ist für uns Grund genug, Beziehungen zu solchen Regierungen oder Gruppierungen oder deren Unterstützung grundsätzlich abzulehnen. Die klare Abgrenzung von institutionellen Machtebenen ist Ausgangspunkt unserer Solidarität mit den vom Imperialismus und Rassismus unterdrückten Menschen. Wir haben inzwischen aus unseren Erfahrungen und Überlegungen vorerst den Schluß gezogen, internationale Kontakte auf eigene Frauenfüße zu stellen, d.h. neue Wege und eigenständige Kontakte zu Frauen in unterschiedlichen Organisierungen aufzubauen, wobei wir bewaffneten Kampf nicht als Primat sehen, sondern als möglichen und notwendigen Teil zur Unterstützung und zur Verteidigung gegengesellschaftlicher und frauenstärkender Strukturen. [20]

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