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Mili's Tanz auf dem Eis

Diskussion um Antisemitismus

In der feministischen Debatte hat die Auseinandersetzung zu Antisemitismus über die v.a. von US- amerikanischen und englischen Jüdinnen schon seit längerem eingebrachten Positionen Eingang gefunden. Es gab hier in der sog. Unterschiedsdiskussion und dem Bemühen, Rassismus zu begreifen, den Versuch, Antisemitismus mitzudenken und einzubeziehen. Doch stellen wir heute fest, daß Antisemitismus in der feministischen Bewegung immer noch kein selbstverständliches Thema ist, es taucht fast ausschließlich als Schlagwort auf oder manifestiert sich in der Konfrontation mit jüdischen Frauen. Hier sind die Erfahrungen einer feministischen Gruppe jüdischer und nichtjüdischer FrauenLesben bekannt, die durch ihre öffentliche Präsenz mit antisemitischen Haltungen von weißen deutschen FrauenLesben konfrontiert wurden. Scham- und Schuldgefühle, Sprachlosigkeit begegneten ihnen oder die provokative Frage nach ihrer Position zum Staate Israel und seiner Politik gegenüber den PalästinenserInnen, egal über welches Thema sie referieren oder diskutieren wollten.

In feministischen Kreisen wird die Frage nach den Ursachen des

Holocaust und dem Zusammenhang zwischen Holocaust und Antisemitismus entweder erst gar nicht gestellt oder oberflächlich diskutiert. Schuldgefühle und Verdrängung sind bis heute wirksam. Wenn wir als 'Deutsche' angesprochen werden, gehen wir gleich auf Distanz. Die Gleichsetzung mit 'den Deutschen an sich' - die den Holocaust erdacht, ausgeführt und getragen haben und bis heute keine politische Verantwortung für die Geschichte übernehmen - führte bei vielen Feministinnen und engagierten Frauen zu Abwehrreaktionen gegenüber jeglichem Vorwurf der Ignoranz, dem Verschwinden dieser deutschen Geschichte in der eigenen Politik, gegenüber der Forderung, eine Identität als Deutsche zu formulieren. Feministinnen grenzten sich in ihrer Identität oft primär von der durch und durch patriarchalen NS- Geschichte ab und wurden über Konfrontationen jüdischer FrauenLesben an der eigenen unbearbeiteten Geschichte mit all ihren Kontinuitäten gepackt. Auch hier zeigt sich, daß die Prioritätensetzung des Sexismus als grundlegendstem Antagonismus, als Wurzel aller Gewalt, Unterdrückung, Ausbeutung uns in eine Falle hat tappen lassen, die letztlich unserer materiellen und sozialen Situation entspricht, d.h. diese Sichtweise ist Ausdruck, Teil der weißen deutschen Gesellschaft zu sein und sich ausschließlich als Opfer sexistischer Gewalt zu begreifen.

Jüdinnen und Juden berichten von antisemitischen Äußerungen und Beschimpfungen seit Bestehen dieser Republik, die viele zwang, das Land zu verlassen als Überlebende des Holocaust, die entschieden hatten, hier zu leben.

Bei genauerem Hinsehen und Hinhören gibt es antisemitische Haltungen auch in unseren Kreisen, antisemitische Bilder sind uns in die Köpfe sozialisiert, unreflektiert reproduzieren wir sie. Die sog. Entnazifizierung hat nicht stattgefunden, ebensowenig eine gesellschaftliche Auseinandersetzung über die Ursachen und Wirkungsweisen der nationalsozialistischen Herrschaft und des Holocaust. Die Zeit der Scham ist heute vorbei - Antisemitismus ist wieder salonfähig geworden.

Antisemitismus umfaßt ein kompliziertes materielles und ideologisches Muster, das nicht gleichzusetzen ist mit dem Holocaust, auch nicht eine ausreichende Erklärung dessen darstellt und nicht identisch sein muß mit Judenhaß.

Die Auseinandersetzung findet in wissenschaftlichen und pseudo- wissenschaftlichen Bereichen statt, für letzteres steht das Beispiel des Historikerstreits. [25] Diese Ideologie- Produktion nährt das rassistische und antisemitische Grundverständnis der deutschen weißen Bevölkerung, welches seit 1989 in riesigen Schüben wieder gesellschaftlich aggressiv zutage tritt. Frauen stellen sich dieser Entwicklung kaum entgegen. Die Situation verdeutlicht, wie wenig jüdische Menschen in unserem Bewußtsein und unserer Politik vorkommen, wie selbstverständlich wir davon ausgehen/ ausgegegangen sind, daß seit dem Holocaust keine Jüdinnen und Juden hier im Land ihrer Henker leben. Jüdischen Menschen begegnen heißt, erinnert zu werden an Verdrängtes, an etwas, was vergessen werden soll - das Schlußstrich- Phänomen müssen wir bekämpfen für unsere eigene Zukunft. Verhindern wir das Verschwinden der eigenen Geschichte, des Holocaust. Schaffen wir den jüdischen Frauen einen Platz in unserer Bewegung.

Wir können hier nicht nachholen, was wir bisher versäumt haben. Im folgenden formulieren wir einige Gedanken, über die wir weiter diskutieren wollen. Wir stehen in unserer Auseinandersetzung erst am Anfang und produzieren keine Gewißheiten. Unser Interesse ist, unsere Geschichte, den Holocaust und den Antisemitismus zu begreifen, politische Verantwortung zu übernehmen, wachsam für Kontinuitäten zu sein und daraus praktische Konsequenzen zu ziehen:

Grundsätzlich gehen wir davon aus, als Weiße rassistisch und als nichtjüdische Deutsche antisemitisch zu sein.

- Nur dieses Grundverständnis bewahrt uns vor scheinheiligen Abwehrkämpfen, Beteuerungen, daß wir schon die besseren Frauen seien. Wir stellen uns damit außerhalb der Gesellschaft und internationaler Machtverhältnisse. Die oben genannte Grundannahme erhöht somit die Sensibilität und den Blick auf tatsächliche Unterschiede, unabhängig von subjektiven Befindlichkeiten.

- Als weiße, deutsche, christlich- abendländische Frauen, unabhängig von unserer persönlichen Geschichte und der unserer Eltern und Großeltern im NS, müssen wir politische Verantwortung übernehmen für den Holocaust, für die Vernichtung der Sinti und Roma, für die Ermordung von Behinderten, Andersdenkenden und -handelnden.

- Nur wenn wir die Gegenwart durch die Geschichte des NS hindurch ansehen, begreifen wir, was heute passiert, und sind in der Lage, eine politische Richtung einzuschlagen, die jegliche Form von Vernichtung und Unterdrückung bekämpft (auch in den eigenen Reihen).

- Die politische Praxis ist der Maßstab dafür, nicht antisemitisch und nicht rassistisch zu sein.

Es ist wichtig, zwischen Antisemitismus und Holocaust zu unterscheiden, um der Relativierung des Holocaust zu begegnen, die oft damit begründet wird auch in anderen Ländern gäbe und gab es Antisemitismus. Antisemitismus war zwar eine Voraussetzung für den Holocaust, aber daraus allein läßt sich der Holocaust nicht erklären/ verstehen.

- Der Holocaust ist kein Zivilisationsausrutscher oder -bruch, sondern hochentwickelte Moderne; "Auschwitz als Altar der Technologie" und moderner Bürokratie; [26] in Deutschland gab und gibt es nicht nur persönliche Kontinuitäten der Nazis in Amt und Würden, sondern auch strukturelle: in den Selbstverständnissen und Funktionsweisen von Wissenschaft, Medizin, Organisierung kapitalistischer Arbeit, Bürokratie

- Das industrielle System mit seinem Ethos, seinen Normen und Werten brachte die Vorherrschaft in der Welt und den Holocaust hervor. Die Maschine, die technologische Durchdringung aller Lebensbereiche, die Verdinglichung des Sozialen, Machbarkeitswahn, Homogenisierungsfetisch des Abendlandes sind Kriterien der Moderne und konnten/können damit den Holocaust hervorbringen.

Heute geht es um die weitere Perfektionierung des sozialen Krieges, die wir nur begreifen im Bewußtsein unserer Geschichte.

- Rationalität war die zentrale Kategorie des Holocaust - erschreckend festzustellen, wie rational und bürokratisch heute die 'Flüchtlingsfrage' gelöst wird.

-Im NS gab es bis zum Kriegsbeginn Kritik und Unbehagen gegenüber der antijüdischen Gewalt und Pogromen in breiten Teilen der Bevölkerung, doch zugleich befürworteten dieselben Leute die antijüdischen Gesetze, d.h. die Vernichtungsgesetze. Parallelen zu heute sind offensichtlich: die direkte rassistische Gewalt wird verurteilt, dagegen werden die Vertreibungsgesetze gegen Flüchtlinge und Migrantlnnen begrüßt.

Antisemitismus redet seit Jahrhunderten von "Übermenschen" (Klischees wie "Weltverschwörer", "Judenschläue" "internationales jüdisches Kapital" "Drahtzieher"); Rassismus konstruiert "Untermenschen" (Klischees wie "Unzivilisierte", "Minderwertige", "Faule").

- Im Verlauf der nationalsozialistischen Herrschaft und des Holocaust hat sich der Antisemitismus mit rassistischen Klischees verbunden bis hin zur Entmenschlichung ("Ungeziefer").

Der deutsche Rassismus ist tief mit antisemitischen Elementen durchzogen. Neonazistische Täter drohen ihren Opfern, mit ihnen "das zu machen, was Hitler mit den Juden machte"

Rassismus als Ideologie und Bewegung zur Legitimierung der weißen/ imperialistischen Vorherrschaft in der Welt, zur Identifizierung mit der weißen "Überlegenheit", "Entwicklung", "Zivilisation", "Demokratie", "Fortschritt" etc.

Antisemitismus als Ideologie sind Bewegung zur nationalistischen Identifizierung weißer Unterdrückter mit ihren weißen Unterdrückern: "Juden" dienen dem nationalistischen Klassenhaß, indem sie an die Stelle der weißen Herrschaft gesetzt werden, als Projektton zum Abarbeiten von Befreiungsbedürfnissen, die nicht umzusetzen getraut werden. Spielen antisemitische Muster auch beim Haß auf "andere" Unterdrücker (Zionisten in Palästina, Yankees in Lateinamerika und Asien) und der unkritischen Identifikation mit Befreiungsorganisationen eine Rolle?

Rassismus und Antisemitismus machen die BRD zu einer Gemeinschaft von Verschworenen gegen Flüchtlinge, Schwarze, jüdische, behinderte ... Menschen, für deren Ausgrenzung, Ausbeutung und Vernichtung nicht "wir", sondern "andere" verantwortlich gemacht werden: Saddam Hussein, "der Zionismus", "die USA" oder "die verbrecherischen Kriegstreiber in Ex- Jugoslawien".

- Diese rassistische und aritisemitische Verfaßtheit unserer Gesellschaft ist und war ein Hindernis bei der Herausbildung von breiterem Widerstand.

Die Zunahme von antisemitischen Außerungen, Handlungen, Übergriffen seit dem 'Mauerfall' ist auch dem angestrebten "Endsieg" der Deutschen geschuldet, endlich materialisiert sich der politische Sieg knapp 50 Jahre nach der vorläufigen Niederlage.

Die Tatsache, daß viele Jüdinnen und Juden antinationalistisch gelebt und gekämpft haben und die Roma immer wieder dafür gekämpft haben (ohne nationale Bindung), in den Ländern leben/bleiben zu können, wo sie es wollen, war in der Vergangenheit, ist aktuell und zukünftig eine Herausforderung.

Wir Frauen haben uns lange Zeit auf die "Gnade der weiblichen Geburt" zurückgezogen, die Frauen nur als Opfer des NS darstellt, ohne die Täterinnen zu benennen bzw. Frauen als politisch Verführte zu sehen und nicht als Mittragende und schweigend Einverstandene.

Gegen die fortgesetzte Kontinuität und Weiterentwicklung nazistischer Politik seitens des BRD-Regimes gab (und gibt) es von uns FrauenLesben so gut wie keinen Widerstand, an dem wir heute anknüpfen oder auf den wir uns beziehen könnten; den Widerstand der jüdischen Frauen, Männer und Kinder in den Ghettos beginnen wir erst jetzt wahrzunehmen. Aktionen gegen NS-Verantwortliche, -Wissenschaftler oder Institutionen, die in der NS-Tradition standen und auch heute stehen, hat es fast nicht gegeben. [27]

Bis auf eine Handvoll Menschen haben wir uns auch nicht dafür eingesetzt, daß Jüdinnen und Juden, sofern sie es in diesem Land wollen, hier unbehelligt leben bzw. einwandern können, auch nicht nach Bekanntwerden neuer antisemitischer Übergriffe in der Ex- Sowjetunion, die zu einer jüdischen Auswanderungswelle führten. Mithilfe der westlichen Grenzabschottungspolitik blieb den jüdischen Flüchtlingen wieder einmal keine Alternative zur Einwanderung nach Israel.[28]

Die politische Position zur Politik des Staates Israel, zur Besetzungs- und Vertreibungspolitik gegenüber den Palästinenserlnnen und der Rolle Israels im imperialistischen Lager muß den Holocaust und seine Folgen berücksichtigen. Mit Folgen meinen wir einerseits die Lebenssituation der Überlebenden und ihrer Nachfahren (es gibt keine jüdische Familie, die nicht direkt Ermordete zu beklagen hat, oder, wie J.Amery es darüber hinaus formuliert, "In Israel ist, metaphorisch gesprochen, jedermann/ frau Sohn/Tochter eines/r Vergasten") und andererseits diesen deutschen Staat als Nachfolger des Nazi- Regimes mit allen Kontinuitäten und kollektiven Verdrängungen. Es geht vor allem darum, die Politik des Westens im Nahen Osten anzugreifen. Die fehlende Antisemitismus- Auseinandersetzung läßt uns leicht zum Spielball herrschender Interessen werden, wie zum Golfkrieg deutlich wurde.

Zusätzlich zu diesen Kontroversen und offenen Fragen gibt es u.E. eine vernachlässigte Diskussion, deren Kategorien und Kriterien jenseits der eingefahrenen allgemein linken Analyse- und Betrachtungsweisen liegen. Die in Anfängen existierende feministische Sicht auf die Verhältnisse im "Nahen Osten" und auf die Lebensverhältnisse der palästinensischen und jüdischen Frauen, deren Realität und Identität nicht primär an Nationalismen gekoppelt sind, deren Befreiungsvorstellungen sich jenseits patriarchaler Zuschreibungen und Vorstellungen entwickeln, deren Frauenüberleben und Kampf sich nicht an der gesellschaftlich durchgesetzten männlichen Norm orientiert und gegen fundamentalistische - christliche, jüdische, muslimische - Einschränkungen, gegen linke ML- Positionen, rassistisch durchwachsene staatstragende Einstellungen und imperialistische Politik usw. kämpft, sind wenig sichtbar und kaum öffentlich (bekannt).

Umso notwendiger erscheint es uns heute, uns mit diesen Minderheitenpositionen zum Beispiel von Frauen in Schwarz (Israel) und autonomen palästinensischen Frauen der Al- Fanar auseinanderzusetzen und ihre Opposition z B gegen den von den israelischen- und PLO- Männer- Eliten ausgehandelten Friedensvertrag zu unterstützen.

Wie sehr wir uns selbst in der Reflexion der eigenen (unterschiedlichen) Geschichte in unseren unterschiedlichen politischen Positionen in der Verknüpfung mit gegenseitigen Schuldvorwürfen und der moralischen Überzeugtheit von der eigenen Sichtweise blockiert haben, zeigte sich in unseren Konflikten um die Frage des linken/ feministischen Antisemitismus in der Palästinasolidarität und des Verhältnisses von (linkem/ feministischem) Antisemitismus und Antizionismus. Besonders uneinig waren wir uns in der von einigen erhobenen Forderung, daß notwendige selbstkritische Positionen nicht ohne die genaue Auseinandersetzung mit der imperialistischen Politik im "Nahen Osten" und der Rolle Israels darin entwikkelt werden können.

Deshalb haben wir in diesem Papier die Auseinandersetzung dazu nicht mehr unterbringen können.

MAIL
http://www.freilassung.de/div/texte/rz/milis/antisemi.htm