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Süddeutsche Zeitung, 02.09.1987

Bundesrichter durch Schüsse in den Unterschenkel verletzt

Der Richter am Bundesverwaltungsgericht Günter Korbmacher ist am Dienstagmorgen bei einem Anschlag in Berlin verletzt worden. Zwei zunächst unbekannte Attentäter feuerten nach Angaben eines Polizeisprechers im Stadtteil Lichterfelde mehrere Schüsse auf den 61jährigen Juristen ab, der von zwei Kugeln in den linken Unterschenkel getroffen wurde.

Korbmacher ist seit 1982 Vorsitzender des für Asylfragen zuständigen 9. Senats des Bundesverwaltungsgerichts, der höchsten Instanz für Asylentscheidungen. Der Polizeiliche Staatsschutz vermutet die Attentäter im Umfeld der "Revolutionären Zellen".

Wie die Polizei mitteilte, bemerkte der 61jährige Jurist auf dem Weg zu seiner Garage ein mit zwei, vermutlich männlichen, Personen besetztes Motorrad, das von der Fahrbahn auf den Gehweg fuhr, ihm entgegenkam und einige Meter vor ihm hielt Der Beifahrer habe mehrere Schüsse auf Korbmacher abgegeben. Dann seien die Täter geflüchtet. Bei dem Tatfahrzeug handelt es sich nach Zeugenaussagen um ein Motorrad der Marke "Yamaha" mit Berliner Kennzeichen. Am Tatort seien fünf Patronenhülsen des Kalibers 22 gefunden worden.

Eine Gerichtssprecherin sagte, die Rechtsprechung des Korbmacher- Senats sei "ln bestimmten Kreisen als sehr restriktiv und zuwenig asylbewerberfreundlich kritisiert" worden. Zu den Kritikern hätten Ausländervereine und "linksorientierte Leute" gehört.

Im April 1985 hatte der 9. Senat entschieden, daß Folter nur dann einen Asylanspruch begründe, wenn sie in der Zugehörigkeit eines Betroffenen zu einer bestimmten rassischen, religiösen oder politischen Gruppe begründet liege. "Ungeachtet dessen, daß Folter stets eine schwere Menschenrechtsverletzung ist, führt erlittene oder drohende Folter zur Asylrechtsgewährung nur dann, wenn ihr eine politische Verfolgungsmotivation im Sinne des Asylrechts zugrundeliegt", hatte es damals in einem Beschluß des Senats geheißen.

In einem anderen Verfahren hatte der 9. Senat im Dezember 1985 entschieden, daß Tamilen aus Sri Lanka nicht bereits wegen des Bürgerkriegs auf der Insel Anspruch auf Asyl in der Bundesrepublik hätten. Die Richter waren davon ausgegangen, daß der Staat Sri Lanka die befürchteten weiteren Pogrome gegen die Tamilen durch "vorbeugende Gegenmaßnahmen verhindert".

Der Anschlag auf Korbmacher steht möglicherweise im Zusammenhang mit dem vierten Jahrestag des Selbstmordes des türkischen Asylbewerbers Cemal Altun, der sich am 30. August 1983 während einer Verhandlung aus einem Fenster des Bundesverwaltungsgerichts zu Tode gestürzt hatte.

Im November vorigen Jahres war der Chef der Berliner Ausländerbehörde, Harald Hollenberg, ebenfalls durch Schüsse in die Beine verletzt worden. Später bezichtigten sich die Revolutionären Zellen des Attentats. Die Attentäter waren zunächst mit Fahrrädern geflüchtet und dann auf ein Auto umgestiegen, das später von der Polizei ausgebrannt aufgefunden wurde.

Im Februar dieses Jahres deponierten Mitglieder der "Revolutionären Zellen" vor einem Gebäude der Berliner Ausländerpolizei einen Sprengsatz, der aber nur geringen Schaden anrichtete. Im Juli zerstörten Mitglieder der "Revolutionären Viren", die sich als Jugendorganisation der "RZ" ausgaben, ein Gebäude der Ausländerpolizei im Bezirk Wedding. Dabei verbrannten 4500 der dort insgesamt gelagerten 6000 Asyl- Akten. Bei den "Revolutionären Zellen" handelt es sich nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden um eine Terrororganisation ohne feste organisatorische Strukturen.

Politiker in Bonn und Berlin verurteilten das Attentat als feige, heimtückisch und hinterhältig. Der innenpolitische Sprecher der CDU/ CSU- Bundestagsfraktion, Johannes Gerster, meinte, solche gewalttätigen Anschläge erwiesen dem Zusammenleben von Deutschen und Ausländern und insbesondere der Sache der Asylbewerber einen "Bärendienst". Bundesjustizminister Hans Engelhard sagte, der Rechtsstaat lasse sich durch Aktionen dieser Art nicht erschüttern, sie seien "vollkommen sinnlos". Der Berliner Senatssprecher Winfried Fest äußerte, für das Attentat gebe es nicht die geringste Rechtfertigung, sondern nur Abscheu. Der SPD- Landes- und Fraktionsvorsitzende Walter Momper erklärte: "Sollten die Täter mit ihrem Anschlag das Ziel verfolgt haben, die Asylpolitik in unserem Land zu verändern, so muß ihnen gesagt werden, daß sie damit eher das Gegenteil erreichen."

Auch die Berliner AL- Fraktion verurteilte den Anschlag "ohne Wenn und Aber". Derartige "Bestrafungsaktionen", von wem auch immer, seien unverantwortlich. Es liege auf der Hand, daß die Schüsse auf den Vorsitzenden des "Asylsenats" eine Reaktion auf die Entscheidungspraxis dieses Senats seien.

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