4. Prozesstag: 31. Mai 2001
"Dramatischer Qualitätsverlust des Zeugen Mousli"
Ganz offenbar bekam der Kronzeuge der Anklage, Tarek Mousli, und
sein Rechtsbeistand, Rechtsanwalt Birkhoff, durch die Bundesanwaltschaft
(BAW) umfassende Akteneinsicht sowohl in die Akten des laufenden
Verfahrens, als auch in Berichte des OPEC-Verfahrens in Frankfurt
a. M. Und zwar hinter dem Rücken der Richterin Hennig.
Dies wurde am heutigen Verhandlungstag durch Vertreter der Verteidigung
vor Gericht aufgedeckt.
Das heutige Programm:
Anwälte fordern Aufklärung über Akteneinsicht der
Zeugen
Die Verteidiger der Angeklagten Rudolf Schindler und Sabine Eckle
wandten sich in Anträgen gegen die Praxis der BAW, Akten und
Protokolle dem Zeugen und seinem Rechtsbeistand zu überlassen.
Sie forderten umfassende Aufklärung der Vorfälle, sowie
die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Vorgehens der BAW durch
das Gericht.
Der Vorgang wurde durch eine Aktennotiz der vorsitzenden Richterin
Hennig über ein Telefonat mit dem Rechtsbeistand des Kronzeugen,
Birkhoff, im März bekannt. Nachdem Rechtsanwalt Euler diese
Notiz aufgefallen war, erfuhr er in einem Gespräch mit der
Vorsitzenden Hennig, dass diese auch erst von Birkhoff vom Vorgehen
der BAW informiert wurde. Auf Nachfrage Eulers beim damals zuständigen
Bundesanwalt Griesbaum erwiderte dieser offenbar nur, er werde nur
schriftliche Anfragen beantworten.
Mousli und Birkhoff haben anscheinend umfassende Einsicht in die
Akten des laufenden Verfahrens erhalten. Darunter sollen sich sowohl
die von Mousli selbst gemachten Aussagen befinden wie auch die Anklageschrift.
Ausserdem sollen beide über die BAW Zugang zu den Berichten
über das OPEC-Verfahren, darunter auch die Aussagen Mouslis,
erhalten haben.
Akteneinsicht für Zeugen ist unrechtmäßig
Rechtsanwalt König beantragte heute einen Beschluss der Strafkammer,
dass die Akteneinsicht für den Zeugen und seinen Rechtsbeistand
rechtswidrig im Sinne der Strafprozessordnung sei, sowie gegen das
Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung seines Mandanten
Rudolf Schindler verstoße. Zwar sei die unzulässige Akteneinsicht
nicht rückgängig zu machen, der Verstoß gegen die
StPO sowie die Verletzung eines Grundrechts des Angeklagten begründeten
jedoch die Notwendigkeit eines gerichtlichen Beschlusses. Weiterhin
sei ein Beschluss auch im Sinne der bundesdeutschen Strafrechtspflege
angezeigt, da ansonsten auch in anderen Verfahren Zeugen nur einen
Rechtsbeistand hinzuziehen müssten, um über diesen umfassende
Einsichten in die prozessrelevanten Akten zu bekommen.
Warum Akteneinsicht - um den Zeugen zu präparieren?
Rechtsanwalt König wies darauf hin, dass man auf derart präparierte
Zeugen dann in Strafverfahren nicht mehr zurückgreifen könne.
Das Vorgehen der BAW führe im gegenwärtigen Verfahren
zu einem "dramatischen Qualitätsverlust des Zeugen Mousli".
Rechtsanwalt von Schlieffen als Verteidiger des Angeklagten Axel
Haug schloss sich dem Antrag von König an und erweiterte diesen
um die Forderung, Gesprächsnotizen und den Schriftverkehr zwischen
BAW und Birkhoff, sowie Vermerke oder Schriftsätze über
Akteneinsichtsanträge den Akten beizufügen, damit sowohl
die Strafkammer wie die Verteidigung vom Vorgehen der BAW in Kenntnis
gesetzt würden.
Er forderte weiterhin eine Stellungnahme der BAW, warum diese
prozessrelevanten Unterlagen bisher nicht den Akten beigefügt
wurden; darüberhinaus, warum die Verteidigung nicht vor der
Akteneinsicht informiert wurde, um rechtlich Stellung nehmen zu
können.
Auch die Verteidigung der übrigen Angeklagten schloss sich
den Anträgen an. Rechtsanwältin Studzinsky erweiterte
die Anträge dahingehend, es sei eine Auskunft der BAW zu fordern,
welche Aktenteile überhaupt weitergegeben wurden. Ausserdem
gäbe es Hinweise darauf, dass Mousli und Birkhoff Unterlagen
von der BAW überlassen wurden, die sich nicht in den Akten
befinden. Auch dies sei von der Strafkammer zu klären.
Akteneinsicht für Zeugen ist nicht rechtmäßig
In der anschließenden Diskussion ging es um die Rechtmäßigkeit
der Akteneinsicht für Zeugen und deren Rechtsbeistände.
Rechtsanwalt von Schlieffen führte dazu aus, dass die Akteneinsicht
ohnehin nicht rechtlich zulässig sei, für deren Rechtsbeistände
nur in Fällen, in denen eine Selbstbelastung der Zeugen zu
befürchten sei. Auch durch die erst 1999 erfolgte Reform der
StPO durch das Strafverfahrensänderungsgesetz habe der Gesetzgeber
solche Einsichtsrechte nicht eröffnet. Ebenso lautet der Tenor
bisheriger höchstrichterlicher Rechtsprechung. Richterin Hennig
wandte dagegen ein, dass wenn Akteneinsichtsrechte für Rechtsbeistände
gesetzlich nicht ausdrücklich eingeräumt wurden, dies
im Umkehrschluss gegebenenfalls nicht für deren Rechtswidrigkeit
sprechen würde. Ihr mehr dahingemurmelter Schlusssatz zu der
Diskussion, die Akten würden ja auch wieder zurückgefordert,
erweckte jedoch den Eindruck, dass ihr das nachträgliche Bekanntwerden
der Praxis der BAW über Dritte eher unangenehm bis peinlich
war.
Ist Sabine Eckle verhandlungsfähig?
Nachdem an den vorangegangenen Verhandlugnstagen bereits ein Gerichtsmediziner
und die zuständige Anstaltsärztin der JVAs zu Sabine Eckles
Migräne-Attacken gehört wurden, berichtete heute die medizinische
Sachverständige Kordula Weizer.
Sie habe die 5642 Studien zu Migräne gesichtet. Medizinische
Studien zum Thema Verhandlungsfähigkeit und Kopfschmerz gäbe
es nicht. Da es keine objektivierbaren Symptome bei "Migräne"
gibt, verlassen sich die Ärzte auf Schilderungen der Patienten.
Die Schilderung von Sabine Eckle entspricht den von Medizinern
erfassten Symptomen.
Keine Verhandlungsfähigkeit bei akuten Anfällen
Obwohl keine klare Diagnose gestellt werden kann, wurde eine Verhandlungsunfähigkeit
während akuten Anfällen konstatiert. Sabine Eckle wird
jetzt Medikamente in die Zelle bekommen, dass sie sich sofort selbst
helfen kann. Zur Stressreduktion wird sie künftig eine Stunde
später zum Gericht gebracht. Die heute erfolgte Fesselung während
des Transportes sei ein Missverständnis.
Wird "www.freilassung.de" Gegenstand des Verfahrens?
Die Vorsitzende Richterin hatte angeordnet, dass heute aus der
Website "Freilassung.de" vorgetragen wird. Zwischenruf
der Verteidung an die Richterin:
" Beschäftigen Sie sich schon immer mit der Freilassung?"
Da nicht geklärt ist, wer die Seiten verfasst hat, beschwerten
sich die Verteidiger. Auch die BAW protestierte. Sie schlug vor
die Recherche dem BKA zu überlassen. Daraufhin zog Richterin
Hennig ihre Anordnung zurück.
Der Lesemarathon geht weiter:
Es gibt nun:
- einen Sonderband "freilassung.de" mit Ausdrucken von
Seiten der Website und anderen Seiten.
- Band 1- 7 von "Früchte des Zorns" liegen für
die BAW und Verteidigung zur Lektüre aus.
- die Protokolle aus dem Opec-Verfahren - etwa 6 Bände Schindler
und Mousli betreffend - liegen als Kopie vor.
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