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70. Prozesstag: 25. April 2002
Vita von Blutwürsten
Welche gefährlichen Dinge hat das Bundeskriminalamt (BKA)
bei der Durchsuchung der Wohnräume von Matthias B. und Harald
G. gefunden? Welche dubiosen Windungen zeichnen die Lebenswege der
beiden Angeklagten aus? Wie sicher ist die Herkunft von Sprengstoff
nachzuweisen? Diese drei Fragen standen heute im Mittelpunkt der
Hauptverhandlung. Antworten auf diese Fragen sollten die zwei BKA-Beamten,
Stephan Palme und Thorsten Otte, sowie der Zeuge Hans-Jörg
B. geben.
Gefährliche Mutmaßungen
Der 35-jährige Stephan Palme hat den Lebenslauf von Harald
G. ermittelt. Da er auch an der Wohnungsdurchsuchung anlässlich
der Festnahme des Angeklagten beteiligt war, wurde er zudem zu dort
gefundenen Asservaten befragt. Relevanz maß er dabei einem
Funkscanner bei, der in einem Rucksack entdeckt wurde, sowie einigen
Kladden, die handschriftliche Aufzeichnungen von Harald G. enthielten.
Eine mit einer Schreibmaschine erstellte Anleitung zum Funkscanner
habe dabei Hinweise auf die Funkfrequenz des Bundesgrenzschutzamtes
Ost enthalten. Mehr konnte der Zeuge zu dem Scanner nicht sagen.
Ganz anders verhielt es sich mit den Kladden. Sie enthielten, so
der Mitarbeiter der Bundeskriminalamtes, Hinweise auf eine Mitgliedschaft
des Angeklagten in den RZ. Hinter dem Hinweis verbarg sich dann
allerdings nur die Tatsache, dass Harald G. in diesen Heften das
eine und andere Mal den Begriff "Wald" verwendet hatte. "Wald",
so meinen die Ermittler dank Tarek Mousli zu wissen, soll innerhalb
der RZ für "Illegalität" gestanden haben. "Die Aufzeichnungen
spiegeln eine Art innere Zerrissenheit wieder", so fasste der Zeuge
seinen beim Lesen dieser persönlichen Notizen entstanden Eindruck
zusammen. Alles in allem sei also klar: "Herr G. hat sich mit dem
Gedanken getragen, in den 'Wald' zu gehen."
Erhärtet würde - nach Ansicht des Zeugen - diese Mutmaßung,
dass Harald G. seine Aufzeichnungen in Nicaragua, also quasi in
der "Illegalität" gemacht habe, wohin er nach der so genannten
Postsparbuch- Aktion gegangen war. Bei dieser Aktion handelte es
sich, nach Angaben des Kronzeugen, um eine Geldbeschaffungsaktion
der RZ, bei der mit gefälschten Postsparbüchern Geld in
verschiedenen Postfilialen abgehoben worden sei.
Von ähnlicher Qualität waren dann die Besonderheiten,
die der BKAler in der Vita von Harald G. gefunden hat, wozu u.a.
gehörte, dass er zusammen mit Matthias B. in den siebziger
Jahren in der selben Firma gearbeitet hätte, die selben Berufschulklasse
besucht habe und in einem Sitzungsprotokoll der Kreuzberger Taxigenossenschaft,
zu deren Gründungsmitgliedern Matthias B. gehörte, als
Teilnehmer verzeichnet sei.
Windungen und Wendungen
Ähnlich Brisantes wusste auch der nächste Zeuge, Thorsten
Otte (33), zu berichten, der über seine Ermittlungen zum Lebensweg
von Matthais B. befragt wurde. Auch hier tauchte wieder der gemeinsame
Besuch einer Berufsschule mit Harald G. und die zeitgleiche Beschäftigung
in ein und der selben Firma auf. Vor allem bestand sein Vortrag
aber aus der Aufzählung des beruflichen Werdegangs des Angeklagten
an der Technischen Universität Berlin. Auf Nachfrage von Rechtsanwalt
Kaleck wurde in diesem Zusammenhang erneut deutlich, mit welchem
Recht der Ermittlungsarbeit des BKA mit Skepsis gegenüber getreten
werden muss. Tauchen doch in den Akten zwei Versionen der beruflichen
Stationen von Matthias B. an der TU auf. Matthias B. war zwischen
1986 und 1989 im Referat Allgemeine Studienberatung beschäftigt,
wie es auch richtig an einer Stelle der Akten zu finden ist. An
einer anderen Stelle heißt es allerdings, Matthais B. sei
1987 als studentische Hilfskraft im Akademischen Auslandsdienst
der TU beschäftigt gewesen, was sich dann erstaunlicher Weise
sehr gut mit einer Aussagen Mouslis in Übereinstimmung bringen
läst, ein Zellenmitglied mit dem Decknamen "Heiner" habe zur
Zeit des Anschlags auf die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber
ZSA (1987) "irgendwie im Ausländerbereich der TU gearbeitet".
Ungeschicklichkeiten mit Methode
Bezeichnend ist in diesem Kontext auch die Beteuerung des BKA-
Beamten, er habe in einem zusammenfassenden Bericht nur das Übertragen,
was er auf einer handschriftlichen Skizze des Kronzeugen vorgefunden
habe. Bei dieser Skizze handelt es sich um eine tabellarische Aufzeichnung
über angebliche RZ- Mitglieder, die Tarek Mousli mit Deck-
und soweit ihm bekannt mit Klarnamen benannte. Im Zwischenbericht
von Otte vom 3. April 2000 steht hinter "Heiner" ein Fragezeichen.
In der der Verteidigung vorliegenden Fassung der handschriftlichen
Aufzeichnung des Kronzeugen allerdings ist neben "Heiner" ein Fragezeichen
aufgeführt, ergänzt durch den in Klammer stehenden Namen
Matti. Wenn man sich erinnert, dass die angebliche Identifizierung
"Heiners" als Matthias B. erst zu einem recht späten Zeitpunkt
und nach diversen Verwirrungen erfolgte, muss die Frage gestellt
werden, wer dieses Matti hinter den Namen "Heiner" gesetzt hat und
wann dies geschah. Zumal der Zeuge heute erneut bestätigte,
dass die Identität von "Heiner" am Anfang nicht klar war.
Wie tendenziös der Senat seinerseits dieses Verfahren führt,
wurde bei der weiteren Befragung des Kriminalbeamten zu beschlagnahmten
Gegenständen aus Matthias B.'s Wohnung deutlich. Dabei ging
es um Bücher (z.B. Der Blues - Gesammelte Schriften der Bewegung
2. Juni), Broschüren (z.B. "Tiefe Einblicke" zum Verfahren
gegen Enno Schwall) oder Zeitungen (z.B. "Nicht zu fassen", Soli-Zeitung
zum Verfahren gegen Ingrid Strobel), die, wie Rechtsanwalt Becker
reklamierte, in jeder guten linken Wohnung zu finden seien und insofern
keine Beweisrelevanz besäßen. Doch den Gipfel schoss
der Senat ab, weil seine Vorhalte in dieser Befragung eindeutig
nicht auf Matthias B. zu trafen. Sowohl bei diesen Publikationen
als auch bei einem Adressbuch, in dem die Rufnummer von Axel H.
verzeichnet war, handelt es sich um Eigentum seiner Ehefrau, was
auch gerichtsbekannt ist, da ihr diese Sachen mittlerweile vom BKA
wieder zurückgegeben wurden.
Werdegang des Gelamon 40
Der dritte Zeuge am heutigen Verhandlungstag war der Speditionskaufmann
Hans- Jörg B. (54), der bei der Firma Westspreng für den
Ankauf von Sprengstoff zuständig ist. In dieser Funktion hatte
er über eine Import- Export- Handelsgesellschaft in der DDR
bei VEB Schönbeck eine Charge Gelamon 40 bestellt. Teile dieser
Lieferung wurden im Sommer 1987 aus einem Steinbruch in Salzhemmendorf
entwendet und werden seitdem der RZ zugeschrieben. Neben allgemeinen
Erörterungen zum Thema Sprengstoff ("Sie müssen sich das
wie eine Blutwurst mit Polythelenfolie vorstellen") wurde Hans-Jörg
B. vor allem dazu befragt, ob über die Nummerierung des Sprengstoffes,
wie sie auf Lieferscheinen, in Rechnungen und Lagerbüchern
verzeichnet ist, eine eindeutige Zuordnung möglich wäre.
Gleichzeitig ging es um die Frage, welche Aussagekraft diesen Unterlagen
zugesprochen werden kann.
Konkret ging es dabei um die Charge mit den Nummern 565 bis 574,
die laut Lagerbuch von der Firma Westspreng nach Salzhemmendorf
geliefert worden waren und die dort im Sommer 1987 verlustig gingen.
Zur entscheidenden Frage, ob ihm Aus- und Einbuchungen im Lagerbuch
zu dieser Charge durch Stornierungen oder Rückübernahmen
bekannt seien, konnte der Zeuge keine eindeutige Antwort geben:
"Bekannt ist es mit nicht. Aber ich vermute, das, da nicht alles
verbraucht worden war, auch welche wieder zurückgebracht wurden."
Mangelnde Fairness
Rechtsanwalt Becker nahm heute auch Stellung zum Antrag der BAW
auf einen rechtlichen Hinweis zu seiner Mandantin. Die Sitzungsvertreter
des Generalbundesanwaltes hatten am 28. März angeregt, die
Anklage gegen Sabine E. und Matthias B. um Rädelsführerschaft
zu erweitern. Rechtsanwalt Becker forderte den Senat auf, diesen
Antrag ohne Begründung abzulehnen. Der Antrag der BAW offenbare
durch sein Timing den unerträglichen Mangel an Fairness, so
der Anwalt. In der Hauptverhandlung sei nichts zu Tage getreten,
was eine solche Ausweitung der Anklage rechtfertigen würde.
Weder sei es zu weiteren Beschuldigungen des Kronzeugen gekommen,
ganz im Gegenteil, die Einlassungen von Rudolf Sch. und Axel H.
hätten in weiten Teilen die Anklage widerlegt. Stattdessen
habe ihm gegenüber ein Sitzungsvertreter bereits zu einem früheren
Zeitpunkt gedroht, falls die Verteidigung die Verjährungsproblematik
thematisiere, werde die BAW mit einem solchen Antrag kontern. Becker
beschwor den Senat, er möge in dieser Frage Standhaftigkeit
beweisen und sich nicht vor den Karren der BAW spannen lassen, zumal
der Senat bei der Anklageerhebung selbst keinen Anlass für
eine Ausweitung der Anklage sah. Becker konnte sich auch nicht verkneifen
auf einen weiteren "komischen Aspekt" hinzuweisen: Wenn die BAW
mit ihrem Antrag durchkommt, habe man es mit einer Gruppe zu tun,
die mehr Rädelsführer aufweise als "Gefolgsleute".
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