Nach Prozessunterbrechung:
1. Prozesstag: 17. Mai 2001
Zweiter Anlauf mit Verlesung der Anklage gestartet
Der zweite Anlauf im Berliner RZ-Prozess war durch eine deutlich
angespanntere Prozessatmosphäre gekennzeichnet. Im Kern ging es immer
wieder darum, wer für die Verschleppung des Verfahrens verantwortlich
zu machen ist. Heute zum ersten Mal im Gerichtssaal, in Begleitung seiner
beiden Rechtsanwalt Hans Euler und Dr. Stefan König, war Rudolf Sch.,
dessen Verfahren auf Beschluss des Bundesgerichtshof mit dem Verfahren
gegen Sabine E., Matthias B., Harald G. und Axel H. verbunden worden
war.
Zu Beginn des Verhandlungstags stellten Rechtsanwältin Studinsky
und Rechtsanwalt Kaleck Befangenheitsanträge gegen die Vorsitzende
Richterin des 1. Strafsenat des Kammergerichts Berlin, Frau Hennig. Die
Voreingenommenheit von Frau Hennig machte Rechtsanwältin Studsinsky
fest an der Entscheidung des Kammergerichts über die Haftfortdauer
ihres Mandanten vom 12. April. Harald G. kann rechtlich für das
Schusswaffenattentat auf den damaligen Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. Günther Korbmacher nicht haftbar gemacht werden. Dennoch hatte der
Senat den Antrag auf Haftverschonung u.a. deshalb abgelehnt, weil der
Anschlag auf Dr. Korbmacher auch für Harald G. strafverschärfend
wirken würde, weshalb von einer beachtlichen Freiheitsstrafe
auszugehen sei. Beanstandet wurde von Rechtsanwältin Studsinsky zudem,
dass die Richterin einem Antrag nicht nachgekommen sei, der Verteidigung
Vernehmungsakten des Kronzeugen vom November 2000 zugänglich zu
machen.
Bezugspunkt des Befangenheitsantrags von Rechtsanwalt Kaleck war
ebenfalls der Beschluss des 1. Strafsenats vom 12. April. In der
Argumentation des Gerichts, alleine die Verteidigung sei für die
Verhandlungsverzögerung verantwortlich, sah Rechtsanwalt Kaleck ein
deutliches Indiz der Voreingenommenheit der Vorsitzenden Richterin, die mit
dieser Bewertung die legitimen Verteidigerrechte in Frage stelle.
Nach einer kurzen Unterbrechung teilte Richerin Hennig mit, dass
über beide Anträge zu einem späteren Zeitpunkt entschieden
werde. Zuvor hatten die Bundesstaatsanwälte Homann und Bruns in kurzen
Stellungnahmen die Zurückweisung beider Anträge beantragt.
Abgelehnt wurde vom Gericht auch ein Antrag auf Einstellung des
Verfahrens, den Rechtsanwalt Kaleck bereits am 29. März vorgetragen
hatte. Rechtsanwalt Kaleck hatte damals argumentiert, die Art und Weise,
wie es zu den Aussagen des Kronzeugen gekommen sei, wäre ein
Verstoß gegen das Rechtsprinzip des fairen Verfahrens. Dies wollte
Richterin Hennig nicht gelten lassen. Der Senat sei aufgefordert, so
führte sie aus, die Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit des Zeugen
Mousli in der Hauptverhandlung zu prüfen. Der Ort der endgültigen
Bewertung der Beweise sei das Gericht.
Anknüpfend an den Antrag seiner Anwältin setzte sich Harald G.
in einer umfangreichen persönlichen Erklärung
mit der Prozessführung des Berliner Kammergerichts sowie mit der Rolle
des Bundeskriminalamtes (BKA) und der Bundesanwaltschaft (BAW) im Aufbau
des Kronzeugen Tarek Mousli auseinander.
In seiner Erklärung wirft Harald G. dem 1. Stafsenat vor, er
inszeniere das Verfahren "gemäß den Vorgaben der BAW, als
ein Terroristenverfahren im Stil der 70er und 80er Jahre". Mit den
überzogenen Sicherheitsvorkehrungen und den entwürdigenden
Zuschauerkontrollen werde eine "Atmosphäre von Bedrohung und
Gefährlichkeit" geschaffen, die dazu diene, "die juristische
Fragwürdigkeit des Vorgehens zu verschleiern". Der ablehnende
Beschluss des Kammergerichts zum Antrag der Verteidigung auf
Haftverschonung vom 12. April verdeutliche, dass eine ernst gemeinte
Einzelfallprüfung nicht gewollt war. Vielmehr unterstreiche die darin
ausgebreitete Argumentation des Gerichts den vorherrschenden
Verurteilungswillen.
Unter der Überschrift "Wie schaffe ich mir einen
Kronzeugen" faßt Harald G. seine Eindrücke darüber
zusammen, wie der Kronzeugen Tarek Mousli durch das BKA aufgebaut worden
sei. Seine durch genaues Aktenstudium untermauerte Rekonstruktion der
mittlerweile 6-jährigen Ermittlungsgeschichte verdeutlicht, dass das
BKA den späteren Kronzeugen über einen längeren Zeitraum
unter zunehmenden Druck gesetzt habe, bis dieser sich dafür entschied,
die ihm angebotene Rolle zu übernehmen. Tarek Mousli war von der BAW -
was für §129a Verfahren ungewöhnlich ist - schon zu einem
sehr frühen Stadium ausführlich mit den Ermittlungsergebnissen
bekannt gemacht worden. Somit konnte er seine Aussagen an den vorliegenden
Ergebnissen ausrichten. Zwischen dem Kronzeugen und den
Ermittlungsbehörden sei, so Harald G., "eine Art von
Schicksalsgemeinsschaft" entstanden: "Dadurch, dass BKA und BAW
sich schon relativ frühzeitig auf den Aufbau von Tarek M. als
Kronzeugen festgelegt und ihre Ermittlungsstrategie darauf ausgerichtet
hatten, konnten sie ab einem gewissen Zeitpunkt davon nicht mehr
abrücken, ohne ihre bis dahin geleistete Arbeit grundlegend zu
gefährden".
Aus der "zumindest teilweisen Interessensübereinstimmung
zwischen dem Kronzeugen und den Strafverfolgungsbehörden",
erklärt sich für Harald G. der in den Ermittlungsakten erkennbare
"Zwang, Widersprüche in den Angaben des Kronzeugen zu
übergehen und zu ignorieren und ihn durch entsprechende Vorhalte vor
allzu offensichtlichen Falschaussagen zu bewahren".
Die Vorgehensweise des BKA wäre öhne die Zustimmung und
Unterstützung der BAW, die letztendlich die Verantwortung für das
Ermittlungsverfahren trägt, nicht denkbar. Vielmehr führe die BAW
die "eingeschlagenen Linie der Manipulation und Steuerung des
Verfahrens" im Zuge der Anklageerhebung und im Gerichtsverfahren
weiter.
Bundesstaatsanwalt Homann bezeichnete die Erklärung von Harald G.
als "Fensterrede", die "ohne jede rechtliche Relevanz"
sei. Bundesstaatsanwalt Bruns sah wiederum darin den Ausdruck einer
"Doppelstrategie zur Verschleppung des Verfahrens". Die
Angeklagten würden umfangreich ihre Rechte in Anspruch nehmen,
woraufhin die Verteidigung mit Krokodilstränen die Verschleppung des
Verfahrens beklagen würde.
Nach der Bekanntgabe einer Besetzungsrüge von Rechtsanwalt Dr.
König, der sich während der Hauptverhandlung alle anderen
Verteidiger anschlossen, verkündete das Gericht nach kurzer Beratung,
die Verlesung der Anklageschrift der Entscheidung über die Rüge
vorzuziehen.
Daraufhin verlas Bundesanwalt Homann die Anklageschrift gegen Harald G.,
Sabine E., Axel H. und Matthias B.. Die zweite Anklageschift gegen Rudolf
Sch., die bis auf wenige Passagen textidentisch war, wurde von
Bundesstaatsanwalt Bruns verlesen. (siehe Zusammenfassung unten)
Alle Angeklagten lehnten es ab, sich zu den Vorwürfen der BAW zu
äußern.
Ein im Anschluss von Rechtsanwalt Becker gestellter Antrag auf eine
mündliche Haftprüfung für seine Mandantin Sabine E. lehnte
das Gericht ab. Bevor die Richterin die Verhandlung beendete, entspannte
sich ein längerer Disput zwischen Verteidigung und Gericht über
das weitere Vorgehen. Nach Insistieren der Verteidigung teilte die
Vorsitzende Richterin, die zuerst jede Auskunft verweigern wollte,
letztendlich mit, dass für den kommenden Prozesstag, den 18. Mai, die
Verlesung zweier Urteile aus den Jahren 1980 und 1998 vorgesehen sei.
Danach sollen zwei RZ-Texte aus den Jahren 1978 und 1981 verlesen werden.
Am 31. Mai soll der inzwischen pensionierte BKA-Beamte Schulzke geladen
werden, der Ermittlungsführer bei den Venehmungen von Tarek Mousli
war. Nach ihrer Planung sollen dann die Bundesstaatsanwälte Monka und
Griesbaum in den Zeugenstand gerufen werden, die die Anklage gegen Mousli
erhoben hatten. Anfang Juni könnte dann mit der Vernehmung des
Kronzeugen begonnen werden.
Zusammenfassung der Anklageschriften
In den Anklageschriften wirft die Bundesanwaltschaft (BAW) allen
fünf Beschuldigten neben der Mitgliedschaft in den Revolutionären
Zellen einen Sprengstoffanschlag auf die Zentrale Sozialhilfestelle
für Asylbewerber (ZSA) vom Februar 1987 vor.
Matthias B., Harald G. und Axel H. werden darüber hinaus
beschuldigt, einen Anschlag auf die Berliner Siegessäule im Januar
1991 verübt zu haben. Axel H. wird weiter des "Hantierens mit
Sprengstoff" bezichtigt, er soll zwischen 1987 und März 1995 ein
Waffen- und Sprengstoffdepot im Berliner MehringHof verwaltet haben.
Außerdem wird er angeklagt, unerlaubt eine Waffe besessen zu haben,
die im November 1999 in seiner Wohnung gefunden worden sei. Auch Harald G.
ist des "Hantierens mit Sprengstoff" angeklagt. Er soll im
März 1995 den restlichen Sprengstoff aus dem
"MehringHof-Depot" im Keller von Tarek Mousli, dem Zeugen der
Anklage, hinterlegt haben. Rudolf Sch. wird eine besondere Rolle
zugeschrieben und daher "Rädeslführerschaft"
vorgeworfen.
Nicht mehr strafrechtlich relevant sind die so genannten
Knieschussattentate auf den Leiter der Berliner Ausländerbehörde
Harald Hollenberg im Jahr 1986 und auf den Vorsitzenden Richter am
Bundesverwaltungsgericht Dr. Karl Günter Korbmacher im Jahr 1987.
Dennoch nehmen sie in der Anklageschrift einen breiten Raum ein. Von den
fünf Angeklagten sollen sich auf den Anschlag auf Harald Hollenberg
Sabine E., Matthias B., Axel H. und Rudolf Sch. beteiligt haben. Beim
Anschlag auf Günther Korbmacher geht die BAW von einer Beteiligung
aller fünf Angeklagten aus.
Die BAW glaubt beweisen zu können, dass es zwischen 1985 und 1990
in Berlin zwei RZ-Gruppen gab. Weiterhin hätte es weitere Gruppen in
Hamburg und Niedersachsen, dem Rhein-Main-Gebiet und in
Nordrhein-Westfahlen gegeben. Ab 1977 hätte sich die "Rote
Zora" als feministischer Zweig gebildet, die sich - nach Ansicht der
BAW - spätestens 1987 ideologisch von den Revolutionären Zellen
getrennt habe.
Die einzelnen Zellen sollen "autonom" existiert und
abgeschottet voneinander operiert haben. Gleichwohl - so die BAW -
"waren sie doch dem gemeinsamen Ziel verpflichtet und suchten den
gemeinsamen Zweck mit vereinten Kräften zu erreichen." Die
Berliner Zusammenhänge hätten als "selbständige
regionale Teilorganisation" agiert.
Die eine Berliner Zelle bestand - nach Ansicht der BAW - aus Sabine E.
(Deckname "Judith"), Harald G. ("Sigi"), Rudolf Sch.
("Jon"), Lothar E. ("Sebastian") und Gerd Albartus
("Kai"), der im Jahre 1987 von einem palästinensischen
Tribunal ermordet wurde.
Die zweite Zelle hätte aus Matthias B. ("Heiner"), Axel
H. ("Anton") und einem Mann mit dem Decknamen "Toni"
bestanden, der bislang nicht identifiziert werden konnte.
Obwohl - so die BAW - "alle Mitglieder nach den Prinzipen der
Organisation gleichberechtigt waren" hätte es eine
"Führungsposition" der langjährigen Mitglieder der
Gruppen gegeben. Diese "führenden Mitglieder" hätten
auf überregionalen Treffen der verschiedenen regionalen Zellen, den
"Assemblea-" oder "Miez-Treffen" eine zellen- oder
gruppenübergreifende Abstimmung gewährleistet. In der einen
Berliner Gruppe hätten nach Anklageschrift Sabine E. und Rudolf Sch.
eine führende Rolle innegehabt. In der anderen Berliner Gruppe sei
Matthias B. ein besonderes Gewicht bei Entscheidungen zugefallen.
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