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4.03.2004: 172. Prozesstag

Das ist Quatsch!

Das wäre doch nicht nötig gewesen: Kurz vor Schluss präsentierte die Bundesanwaltschaft (BAW) ein neues Gesicht. Frau Staatsanwältin Rieger, einigen der Anwesenden aus dem Verfahren gegen die Magdeburger Antifaschisten bekannt, durfte heute Bundesanwalt Bruns assistieren. Wie auf dem Gerichtsflur zu vernehmen war, soll sie die Anklage im Prozess gegen Lothar E. vertreten. Ansonsten herrschte heute eine recht ausgelassene Stimmung im Saal 500 des Kriminalgerichts Moabit. Der Grund: Die Beweisaufnahme wurde geschlossen und die Bundesanwaltschaft gab in ihrem Plädoyer zum wiederholten Male reichliche Beispiele für ihre eigentümliche Karlsruher Behördenlogik.

BAW tritt in Vorleistung

Bevor der Senat die Beweisaufnahme schließen konnte, mussten noch einige Anträge der Verteidigung beschieden werden. Nach sattsam bekannter Manier trat also die BAW erst einmal in Vorleistung und empfahl, den Antrag der Verteidigung von Axel H. vom letzten Verhandlungstag abzulehnen. Wie erinnern uns: Rechtsanwalt Graf von Schlieffen hatte beantragt, den gesamten Observationsvorgang, aus dem dem Kronzeugen Tarek Mousli in einer polizeilichen Vernehmung am 16.12.1999 umfangreich vorgehalten worden war, beizuziehen. Graf von Schlieffen beharrte darauf nicht zu letzt, weil hier zum wiederholten Male von der BAW den Prozessbeteiligten Verfahrensakten vorenthalten worden waren. Ein klarer Verstoß gegen § 199 Abs. 2 Satz 2 Strafprozessordnung (StPO) und somit fürwahr keine formale Kleinigkeit.

Das wollte Bundesanwalt Bruns selbstverständlich so nicht stehen lassen. Also erklärte er diese Observationsberichte flugs zu Unterlagen, die beileibe keine Verfahrensakten im Sinne der StPO seien. Zudem – so der Anklagevertreter des Generalbundesanwalts – bezögen sich die Unterlagen auf Vorgänge aus den Jahren 1991, 1992 und 1994. Dass sich damals die Angeklagten Sabine E., Rudolf Sch. und Axel H. ohne jegliches konspiratives Verhalten in der Öffentlichkeit getroffen hätten, sage nichts über eine Auflösung der Berliner RZ aus. Nach "kriminalistischer Erfahrung" wäre dies nur "eine der denkbaren Möglichkeiten", aber keine zwingende Schlussfolgerung. Also alles halb so schlimm.

Gerichtliche Routine - gnadenlos

Ohne Unterbrechung – die Stellungnahme der BAW lag bereits schriftlich vor – wischte der Senat unter der Vorsitzenden Richterin Gisela Hennig in der Folge alle noch offenen Beweisanträge vom Tisch. Das Wort hatte der Berichterstattende Richter Hanschke.

1. Der Antrag von Rechtsanwalt Graf von Schlieffen auf Beiziehung des gesamten Observationsvorgangs, aus dem Mousli im Dezember 1999 vorgehalten worden war, wurde zurückgewiesen. Zwar teile der Senat "die dem Antrag zu Grunde liegende Vermutung", dass die Vorhalte aus Observationen stammen würden, doch dem nachzugehen, gebiete die Sachaufklärungspflicht nicht. Von einem Verstoß gegen § 119 Abs. 2 Satz 2 StPO wollte der Senat natürlich auch nichts wissen. Hanschke: Der Senat habe bereits bei seiner Entscheidung vom 7.7.2002 kundgetan, was als Verfahrensakten anzusehen sei; er wolle sich Wiederholungen sparen. Und für die Straf- und Rechtsfolgenfrage sei dies sowieso nicht von belang.

2. Abgelehnt wurde der Antrag von Rechtsanwältin Lunnebach vom 26.2.2004, entsprechende Vorgänge in der Hauptverhandlung zu protokollieren. Dass Mousli bei seinem letzten Auftritt vor Gericht die Paraphierung und den Wahrheitsgehalt seiner polizeilichen und richterlichen Vernehmungen bestätigt hatte, darauf käme es nicht an, so der Senat.

3. Die Einholung eines Gutachtens von einem Professor für Statistik zum Gutachten über die Häufigkeit des Algenvorkommens beim Sprengstoff-Fund im Seegraben wurde abgelehnt. Zum einen handele es sich dabei um einen "Beweisermittlungsantrag, dem nachzugehen die Sachaufklärungspflicht nicht gebietet", zum anderen erklärte der Senat vollmundig, er besitze die erforderliche Sachkunde, um die Frage selbst zu entscheiden. Somit fand auch dieser Antrag von Rechtsanwältin Lunnebach vor dem Senat keine Gnade.

4. Zum Antrag von Rechtsanwalt Eisenberg, Vertreter der Senatsverwaltung des Inneres und des Bundesinnenministeriums zu laden, hieß es, eine Beweiserhebung sei wegen Offenkundigkeit unerheblich. Offenkundig sei, so der Senat, dass Ende der 1980er Jahre sowohl beim Transit BRD - Westberlin, als auch an der Grenze BRD- Frankreich keine Kontrollen mehr stattgefunden hätten, weshalb dies auch nicht von diesen Behördenvertretern vor Gericht bestätigt werden müsste. Gleichwohl hätte aber jede/r Reisende mit Verdachtskontrollen rechnen müssen, weswegen - so darf man wohl annehmen - der Senat es weiterhin für unglaubwürdig hält, dass man mit Waffen im Auto zu diesem Zeitpunkt einfach so einen Tour nach Frankreich unternimmt.

5. Einen Sprengstoff- und Waffenexperten mit einem Gutachten zu beauftragen, hatte Rechtsanwalt Graf von Schlieffen am 8.1.2004 beantragt. Der Gutachter sollte bekunden, dass der Platz in dem Schacht im Garagenraum nicht ausreicht, um 20 kg Gelamon 40 sowie eine Maschinenpistole, Pistolen, Sprengschnur und gewerbliche Zünder zu fassen, weil das Volumen allein des Sprengstoffes dafür zu groß ist. Das ganze hält der Senat jedoch nicht für erforderlich, denn: "Der Senat geht nicht davon aus, dass Sprengstoff und Waffen dort gelagert waren". (Wer sich jetzt freuen sollte, tut dies zu früh - er/sie sollte unbedingt noch die Ausführungen von Bruns zu diesem Punkt nachlesen, wie sie in seinem Plädoyer später zu hören waren.)

6. Die Behauptung, dass Barbara W. die Person auf einem von Rechtsanwalt Euler vorgelegten Foto sei, unterstellte der Senat als wahr. Kostet ja nix, und in der Beweiswürdigung kann man dann die Sache einfach unter den Tisch fallen lassen.

Erster Erfolg für Axel H.

Bevor die Beweisaufnahme dann offiziell geschlossen wurde, gab der Senat bekannt, dass der Vorwurf wegen unerlaubten Waffenbesitz gegen Axel H. "vorläufig fallen gelassen" wird. Das ist ausbaufähig, unbedingt!

Karlsruher Kaltschnäuzigkeit

Zur Erinnerung: Dass man an den letzten Verhandlungstagen noch einmal in die Beweisaufnahme gegangen war, hing damit zusammen, dass man an drei wesentlichen Punkten die Version des Kronzeugen von gerichtlicher Seite absichern musste, wollte man die Angeklagten verurteilen, wo von ohne allzu großen prophetischen Fähigkeiten ausgegangen werden darf. Aus Sicht des Gerichts dürfte dies gelungen sein. Und wie den Worten von Bundesanwalt Bruns zu entnehmen war, sah auch er sich in allen Punkten gut aufgehoben: "Hoher Senat, meine Damen und Herren, es wird sie nicht überraschen, dass die Bundesanwaltschaft die fortschreitende Beweisaufnahme als Bestätigung ansieht und auch ihr Plädoyer bestätigt sieht." Quod erat demonstrandum: Mehringhof- Depot, Patriarchats-Papier und "Seegraben-Problematik".

Und so hob er - nach einigem Geplänkel zwischen Richter- und Verteidigerbank - mit fester Stimme an:

  1. Es gab ein Depot im Mehringhof,
  2. es befand sich in einem Bodenschacht und
  3. zumindest teilweise war der Schacht am Boden mit Wasser bedeckt - so viel stände nach der Vernehmung der Zeugen fest.

Die Vernehmung habe zudem ergeben, dass es "eine Vielzahl von Verstecken" im Mehringhof gab. Was jetzt folgte, war die spezielle Karlsruher Logik per Excellenz: Wenn die Zeugen berichteten, dass der Garagenraum "von der Zugangsmöglichkeit beschränkt war, macht ihn das als Versteck eher noch attraktiv". Lediglich ein Scheinproblem sei es, dass die metallene Abdeckplatte des Schachts teilweise durch eine tonnenschwere Maschine versperrt war, die nach Aussagen der Zeugen es unmöglich machte, die Platte anzuheben. Zudem: "Es geht nicht darum nachzuweisen, dass im Garagenraum das Versteck war, sondern" - Achtung, jetzt kommt's - "die Möglichkeit exemplarisch nachzuweisen". Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück. Hauptsache, es bleibt etwas hängen. Der Senat hat sicherlich den Wink verstanden (s.o.). Um's nicht ganz zu offensichtlich zu machen, kam am Ende die rettende Pointe: Der anonyme Anruf bei der Senatsverwaltung für Inneres Mitte der 1980er Jahre. War da nicht die Rede von einem Sprengstoffdepot im Buchladen im Mehringhof oder bei den damals (nicht mehr, wie die Hauptverhandlung ergeben hat) dort residierenden AL'lern? Eben. Und wer war Mieter des Garagenraums? Der Buchladen. Wenn das keine stichhaltige Beweisführung ist!

Die Verteidigung habe zwar "mit großer Hingabe das Patriarchatspapier von Sabine E. zum Ausstiegspapier stilisiert", doch alleine die Wortwahl und der Inhalt, so der sich in der Pose des großen linksradikalen Denkers gefallende Bruns, sprächen gegen eine solche Interpretation: "Wer Ausstieg meint, schreibt das Wort 'Ausstieg' auch hinein", ist er sich sicher. "Wie ein Ausstiegspapier aussieht, zeigt das Papier 'Das Ende unserer Politik'", so der selbst ernannte RZ-Intimus. Und was hatte der willige Kronzeuge Mousli auf Vorhalt zu der Einlassung Rudolf Sch., es habe nach dem Anschlag auf den Asylrichter Korbmacher weder Anlass, noch Legitimation für eine militante Praxis gegeben, gesagt: "Entschuldigung, das ist Quatsch." Für wahr! Aber nein, Bruns wollte auf etwas anderes hinaus: Mousli habe damals auf den Vorhalt erklärt, es sei ihm nicht nur nicht eine grundsätzliche Umorientierung bei der Wahl der Mittel erinnerlich, sondern das sei schlicht nicht wahr. Nun denn, wenn's der Kronzeuge so sagt, wird das Gericht schon seine entsprechende Schlüsse daraus ziehen.

Davon darf man auch beim dritten von Bruns herausgegriffenen Punkt ausgehen - der "von uns allen mehr oder weniger erlittenen Seegraben- Problematik", wie sich der Bundesanwalt auszudrücken beliebte. Die Verteidigung habe "weder öffentliche Kosten, noch persönliche Mühen gescheut", zu beweisen, dass der Sprengstoff, den Mousli dort 1995 versenkt haben will, nie solange im Seegraben gelegen haben kann, so Bruns. Was empörte Zwischenrufe von Sabine E. auslöste, die sich gegen diese Unterstellung verwahrte und betonte, sie habe keinen einzigen Antrag in dieser Sache gestellt. Wie dem auch sei, für Bruns ist der Versuch von Teilen der Verteidigung sowieso total daneben gegangen. Und so als habe Frau Dr. Kasten nicht am vorletzten Verhandlungstag deutlich genug sich dagegen verwahrt, ihrem Gutachten gerichtsrelevanz beizumessen, musste ihr Gutachten wie im ersten Plädoyer der BAW herhalten, um Mouslis Version zu retten. Operation "Kaltschnäuzigkeit" schloss mit den Worten: "Wir sehen unser Plädoyer bestätigt und wiederholen unsere Anträge."

Konsternierte Verteidigerriege

Soviel Dreistigkeit fordert ihren Tribut - hier in Form einer kurzen Prozessunterbrechung auf Verlangen von Rechtsanwältin Lunnebach. Die Kölnerin war es auch, die als erste der VerteidigerInnen das Wort ergriff; das Wort "Plädoyer" wäre angesichts ihrer Ausführungen etwas zu hoch gegriffen, da ein Eingehen auf Bruns "nicht lohnenswert" sei, wie sie gleich zu Beginn ihrer Ausführungen feststellte. "Die Bundesanwaltschaft ist in allen Fragen fest an Mousli gekettet und nicht mehr in der Lage, objektiv zu urteilen." Deshalb vertraue man auf die Sachkunde des Senats und erwarte einen Freispruch des Mandanten Matthias B. Falls Widererwarten, so Lunnebach in gekonnt gespielter Unschuld, der Senat anders entscheiden würde und in seinem Urteil der Version Mouslis glauben schenken sollte, Matthias B. und Harald G. hätten das beim Anschlag auf Asylrichter Korbmacher am 1. September 1987 benutze Motorrad zwei Wochen vor der Tat von Neuss nach Westberlin überführt, beantrage sie Hilfsweise die Ladung der Zeugin Karin L. aus Neuss, die das Motorrad noch am 27. oder 28. August 1987 gesehen hat.

In ähnlicher Wortwahl wie Bundesanwalt Bruns erklärte anschließend Rechtsanwalt Becker, die Verteidigung von Sabine E. stelle "die selben Anträge, wie wir sie schon einmal gestellt haben", also Einstellung des Verfahrens bzw. Freispruch für seine Mandantin und Haftentschädigung. Ansonsten gab sich der Anwalt als vernunftgeleiteter Widerpart zum Revolutionsexperten Bruns. Er verwahrte sich dagegen, das Bruns nun auch noch "revolutionären Grüppchen" vorschreiben wolle, welche Überschriften sie ihren Papieren zu geben habe. Befremdlich erschien ihm der Hang des Bundesanwalts, sich im nachhinein "in solche Grüppchen hineindrängen zu wollen". Dabei habe Bruns immer wieder seine mangelnde Sachkunde offenbart und sein Unvermögen gezeigt, "interne Codes" richtig zu bewerten. Becker bleib dabei: "Es mag nicht den revolutionären Levels, die uns Bruns gier vorgegeben hat, entsprechen", so der Verteidiger, doch das Papier "Was ist das Patriarchat" müsse als Ausstiegspapier von Sabine E. verstanden werden, gab sich der Berliner Anwalt überzeugt.

"Es bleibt bei dem Antrag", so kurz und knapp Rechtsanwältin Würdinger. "Es ist überflüssig auf die Bundesanwaltschaft zu erwidern", so die Verteidigerin von Harald G., "und wir sehen auch nicht, dass der Senat zu erreichen ist." Dieser präzise und punktgenaue Schlussvortrag wurde ergänzt durch ihre Kollegin Studzinsky, die erklärte, sie schließe sich dem Hilfsbeweisantrag von Rechtsanwältin Lunnebach "ohne Bedingung" an. Mit anderem Worten: Unabhängig vom konkreten Urteilsspruch des Senats, möchte sie die Zeugin geladen wissen.

Wie der Senat damit umzugehen gedenkt, darüber hat er nun eine Woche Zeit nachzudenken. Die Plädoyers der Verteidigung von Axel H. und Rudolf Sch. werden nämlich erst nächste Woche gehalten. Ob der Senat dann tags darauf sein Urteil spricht, oder ob er zumindest die obligatorische Schamfrist von einer Woche einhält, war heute nicht zu erfahren. Dass die Urteile schön längst gefällt sind, daran kann kein Zweifel bestehen. Also handelt es sich eher um eine Frage des Stils. Doch wie heißt es so schön: Ist der Ruf erst einmal ruiniert, dann lebt es sich ganz ungeniert. Also lassen wir uns überraschen.

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