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Plädoyer der Verteidigung Matthias Borgmann vom 18.12.2003

Wolfgang Kaleck

I .

Dieser Prozess ist ein Akt politischer Justiz - und zwar in dem Sinne, in dem Otto Kirchheimer den Begriff in seiner klassischen Untersuchung gebraucht :

" Dass der Begriff 'Politische Justiz' auf den dubiosesten Abschnitt der 'Rechtspflege' angewandt wird, in dem die Vorkehrungen und Einrichtungen des staatlich betreuten Rechts dazu benutzt werden, bestehende Machtpositionen zu festigen oder neue zu schaffen, entspricht dem traditionellen Sprachgebrauch und hat nichts Zynisches an sich. Das griechische Ideal tritt in dieser Ebene nur noch stärker profiliert hervor, weil Justiz in politischen Dingen so viel schwindsüchtiger ist als in allen anderen Bezirken der Rechtsprechung, weil sie hier so leicht zur Farce werden kann. "

(aus : Politische Justiz, Frankfurt a.M. 1981, S.11)

Natürlich hat diese Hauptverhandlung in ihrem äusseren Ablauf wenig mit einem klassischen politischen Prozess - oder in der Begrifflichkeit der Bundesanwaltschaft (BAW) einem klassischen Terroristenverfahren- gemeinsam. Es gibt keine politischen Erklärungen der Angeklagten, keine Ausschlüsse von Zuschauern oder Angeklagten, keine Ehrengerichtsverfahren gegen die VerteidigerInnen. Der Unmut der ZuschauerInnen richtete sich überwiegend gegen die ungerechtfertigte und überlange Untersuchungshaft - und wurde von der Vorsitzenden nicht geahndet. Natürlich leben wir nicht mehr in den 70er Jahren der Terroristenhetze, der übelsten Meinungsmache nicht nur gegen Verdächtige von Straftaten, sondern auch gegen ihre VerteidigerInnen, ihre Familienangehörige und UnterstützerInnen oder schlicht Leute, die eine eigene Meinung äusserten. Auch haben sich die "Revolutionären Zellen" - je nach Auffassung - Anfang der 90er Jahre, spätestens 1995, aufgelöst. Das alte Feindbild scheint selbst bei den traditionell auf Verfolgung linker politischen Bewegungen ausgerichteten Staatsschutzbehörden verblasst - obwohl der Ermittlungsaufwand wegen zweier Brandanschläge in Magdeburg und die anschliessende Anklageerhebung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischer Vereinigung und die Verfolgung von GlobalisierungskritikerInnen nach dem EU-Gipfel in Göteborg im Juni 2001 zeigen, dass die alten Beissreflexe nach links immer noch gut funktionieren.

Diese Unterschiede dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass in diesem Verfahren das Arsenal des in den 70er Jahren geschaffenen Massnahme- und Sonderstraf- und Strafprozessrecht mehr oder weniger zur Anwendung kam:

- Nur die am 18.8.1976 zum Zwecke der besseren Strafverfolgung der RAF in das StGB eingefügte Vorschrift des § 129 a StGB ermöglicht im hiesigen Verfahren eine Einbeziehung der als Körperverletzungsdelikte bereits verjährten Schusswaffenanschläge auf die Herren Hollenberg 15.10.1986 und Korbmacher am 1.9.1987. Die oftmals kritisierte Vorschrift und ihre Vorläufer dienten von der Vergangenheit bis heute nicht nur der Kriminalisierung und der Ausspähung von politisch missliebigen Bewegungen von der alten Arbeiterbewegung bis zur Anti-Atomkraftbewegung, der Verfolgung von normalerweise straflosen Vorbereitungs- und Unterstützungshandlungen und der Bestrafung von Meinungsäusserungen. § 129 a StGB erleichtert vor allem auch die Beweisführung - wie es im hiesigen Verfahren wunderbar am Beispiel des gescheiterten Anschlages auf die Siegessäule am 15.1. 1991 nachzuvollziehen ist, zu dem die BAW im Schlussplädoyer in entlarvender Offenheit feststellt, dass zwar konkrete Tatbeiträge der einzelnen Angeklagten nicht bekannt seien, aber der Anschlag und seine Vorbereitung so "arbeits- und personalintensiv" waren, dass es der Mitarbeit aller damaligen Zellenmitglieder bedurfte.

- Die Vorschrift des § 129 a StGB ermöglicht darüberhinaus die Anwendung zahlreicher strafprozessualer Sonderregelungen.

So wurden die Ermitttlungsverfahren nicht von der Staatsanwaltschaft Berlin geführt, die für Körperverletzungs - und Sprengstoffdelikte ansonsten zuständig wäre. Vielmehr ist nach § 142 a GVG die Bundesanwaltschaft - allerdings erst nach Wiederaufnahme der alten Ermittlungen nach dem Auftauchen des Kronzeugen Mousli - zuständig gewesen.

Die erstinstanzliche Zuständigkeit liegt nicht bei einer normalen Strafkammer des Landgerichts Berlin, sondern aufgrund der Sonderzuständigkeitsbestimmung des § 120 Abs. 2 Nr. 2 GVG beim Kammergericht Berlin. Für Haftbeschwerden ist somit der Bundesgerichtshof zuständig.

Die im Rahmen dieses Verfahrens festgenommenen Angeklagten erfreuten sich zumindest zu Beginn des Verfahrens eines besonderen Haftregimes. Es wurde nicht nur der besondere Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO angenommen, der eine Untersuchungshaft bei dringendem Tatverdacht gemäss § 129 a StGB auch ohne weitere Haftgründe erlaubt. Die Angeklagten wurden in räumlich weit auseinanderliegenden Haftanstalten, nämlich Frankfurt, Düsseldorf, Wuppertal und Berlin gefangenhalten - anders als Tatverdächtige in Mord-, Totschlags-, Raub- und Vergewaltigungstaten, bei denen eine strenge Trennung von Mittätern innerhalb der Untersuchungshaftanstalt Moabit für ausreichend erachtet wird. Anders auch als bei diesen der Schwerstkriminalität Verdächtigen wurde bei den hier Angeklagten als § 129 a - Verdächtigen in den ersten Monaten der Untersuchungshaft gemäss § 148 Abs. 2 StPO der schriftliche Verkehr mit den Verteidigern überwacht und die mündlichen Besprechungen, zu denen ein Teil der VerteidigerInnen von Berlin nach Wuppertal und Düsseldorf anreisen musste, fanden hinter Trennscheiben statt.

Aus der zu Beginn der Hauptverhandlung erörterten Sicherheitsverfügung der Vorsitzenden wurde bekannt, dass den Zeugenschutzbeamten, die den Kronzeugen Mousli in den Gerichtssaal begleiteten, das Tragen von Schusswaffen erlaubt war - auch dies eine absolute Ausnahme, die in vergleichbaren Verfahren den Begleitern der dortigen Zeugen im Zeugenschutzprogramm nicht erlaubt wird.

Die Abschaffung dieses Sonderstraf- und Strafprozessrechts ist heute Common sense auf Strafverteidigertagen und bei andereren Anwaltsorganisationen bis weit in liberale Kreise hinein und bis ins Programm der Regierungspartei der Grünen, weil diese Vorschriften mit einem rechtstaatlichen Strafrecht nicht vereinbar sind. Der § 129 a StGB existiert zwar im materiellen Strafrecht ebenso wie die auf ihr basierenden Sonderkompetenzen nach wie vor.

Angesichts der weitreichenden Kritik wäre allerdings eine sensibler Umgang mit der Vorschrift und den durch sie aufgeworfenen Problemen das Mindeste gewesen, was man hätte erwarten dürfen. Doch die einmal geschaffenen Normen und Kompetenzen werden - wie immer in solchen Fällen- genutzt, auch wenn der spezifische historische und sachliche Kontext und die behaupteten Probleme, zu deren Lösung dieses Massnahmerecht dienen sollte, schon lange nicht mehr bestehen.

So haben die Anwendung des § 129 a StGB und der prozessualen Sondervorschriften im hiesigen Prozess viel Unheil angerichtet: sie schufen seit Beginn des Verfahrens eine der Verurteilung dienliche Atmossphäre, in der ein offenes und faires Verfahren kaum denkbar war, sorgten mit dafür, dass die Angeklagten rechtswidrig lange in Untersuchungshaft sassen, ein erhebliches, wenn nicht entscheidendes Präjudiz für das gesamte Verfahren, und beeinflussten schliesslich - wie bereits ausgeführt - den Verfahrensausgang auch inhaltlich enorm.

II. Persönlicher Strafaufhebungsgrund des § 129 a V i.V.m. § 129 VI StGB

Ein unzureichendes, aber immerhin kleines Korrektiv dieser rechtstaatswidrigen Norm könnte der persönliche Strafaufhebungsgrund des § 129 a V i.V.m. § 129 VI StGB darstellen, der zwingend eine Nichtbestrafung für den Fall der Auflösung einer Vereinigung bei gleichzeitigem ernsthaften und freiwilligen Bemühen des Einzelnen vorsieht. Der behauptete Grund für die Anwendung des § 129 a StGB, die spezifische Gefährlichkeit der terroristischen Vereinigung, fällt durch deren Auflösung weg. Daher soll nach den Regeln der Absätze 5 und 6 der zitierten Vorschriften von einer Strafe abgesehen werden.

Das Oberlandesgericht Naumburg hat in dem von Anträgen der Verteidigung zitierten Beschluss vom 22.8.2003 diese Regel erstmals praktisch umgesetzt und seine Rechtsauffassung in den rechtskräftigen Beschlüssen vom 21.11.2003, in denen die Haftentlassung der dortigen Angeklagten angeordnet wird, bestätigt. Diese Beschlüsse müssten für die hiesigen Angeklagten die Folge der Nichtbestrafung wegen des Tatvorwurfes nach § 129 a StGB haben.

- Denn es gibt die (mutmassliche) terroristische Vereinigung jedenfalls spätestens seit 1995 nicht mehr, da sich die Berliner Revolutionäre Zelle der Gesamtgruppierung "Revolutionäre Zellen" aufgelöst und ihre Aktivitäten komplett eingestellt hat. Dabei kommt es auf eine offizielle Auflösungserklärung nicht an. Das tatsächliche Nicht- Fortführen der Vereinigung kann zweifelsfrei festgestellt werden. (vgl. vor allem LK- v. Bubnoff, § 129, Rn. 85 m.w.N.).

- Nach erfolgter und abgeschlossener Beweiswürdigung muss in Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo davon ausgegangen, dass alle 1993/1995 noch verbliebenen Mitglieder an der beschlossenen Auflösung der terroristischen Vereinigung mitwirkten. Denn als Ergebnis der Beweisaufnahme steht fest, dass alle Beschlüsse der Revolutionären Zellen vom gemeinschaftlichen Willen der Gruppenmitglieder getragen waren und keine Befehle oder Anordnungen in einem formalen Hierarchieverhältnis erfolgten. Es müssen die verbleibenden - nach Mousli- 4 Gruppenmitglieder die Selbstauflösung der Berliner Zelle entweder einstimmig oder zumindest mehrheitlich beschlossen haben. Spätestens die Umsetzung des Beschlusses erfolgte dann durch alle noch verbleibenden Mitgliedern gemeinsam. Andere Feststellungen konnten nicht getroffen werden. Da die Beweiswürdigung zu keinem anderen Ergebnis geführt hat , muss zugunsten aller an dem Auflösungsprozess beteiligten Mitgliedern in Anwendung der Entscheidungsregel "in dubio pro reo" auf das freiwillige und ernsthafte Bemühen des Einzelnen um die Auflösung der Berliner RZ geschlossen werden- wenn nicht getreu dem Motto verfahren wird, dass die der Strafverfolgung dienlichen Teile der Vorschrift des § 129 a StGB genutzt werden, Grenze jeder Auslegung jedoch bleiben muss, dass sie den Angeklagten nicht zugute kommt. So aber das Ergebnis der BAW, die den Strafaufhebungsgrund für nicht gegeben ansieht.

Dieses von der BAW vorgeschlagene Ergebnis zeigt einmal mehr, dass mit zweierlei Mass gemessen werden soll: die Mitwirkung an der objektiv feststehenden, von der Gruppe durchgeführten Auflösung soll den einzelnen Angeklagten deswegen nicht zugute kommen, da ein konkreter Beitrag des Einzelnen nicht feststellbar sei - währenddessen auf der anderen Seite der angeblich von derselben Gruppe begangene Siegessäulenanschlag allen Einzelnen mittäterschaftlich zugerechnet werden soll, ohne dass konkrete Beiträge der Angeklagten feststünden. Letzeres gilt auch für den Anschlag auf die ZSA : im Verlaufe der Vernehmungen von Mousli wuchs die Zahl der Beteiligten immer weiter an, so dass seine Aussage zu der absurden und von ihm auch in keiner Weise aufgeklärten Konsequenz führte, dass praktisch alle Mitglieder beiden Zellen der Berliner RZ bei dem Anschlag anwesend gewesen sein sollen. Unter Beibehaltung des strikten Abschottungsprinzip sollen Personen, die sich nach Mouslis Aussage bis zu diesem Zeitpunkt nicht kannten, quasi auf Nachbarhügeln gehockt haben, ohne zu wissen, wer die Person nebenan ist und auf wen oder was eigentlich aufzupassen ist. Da in das von Mousli so angerichte Durcheinander beim besten Willen keine Ordnung hereingebracht werden kann, lässt es die BAW auch bei diesem Anschlag dabei bewenden, die Teilnahme von Heiner, Siggi, Anton, Sebastian und Toni festzustellen, ohne ihnen auch nur irgendeine Funktion oder konkreten Tatbeitrag zuzuordnen.

III.

Die Feststellung, dass es sich hier um einen Akt politischer Justiz handelt, bedeutet jedoch nicht - zumindest für die Verteidigung Borgmann -, dass wir die Einladung der BAW annehmen werden, um hier und jetzt über die politische Dimensionen und den politischen Hintergrund des hier angeklagten Geschehens zu sprechen. Ob der Mythos der RZ verblasst ist - wie die BAW zu Beginn seines Plädoyers hervorhob - mag an einem anderen Ort unter anderen Bedingungen diskutiert werden - ebenso wie die Fragen, ob es einen solchen Mythos gab, worin er bestand, ob dieser Prozess und die von der BAW festgestellte kleinbürgerliche Verzagtheit der Angeklagten oder schon der Verlust des Jungstars Mousli durch seinen Seitenwechsel den massgeblichen Anteil am Niedergang der RZ hatten und ob die RZ an ihren Nachwuchsproblemen gescheitert ist oder ob der politische Ansatz der RZ sein historisches Verfallsdatum überschritten hat - wie Sabine Eckle in ihrer Erklärung zuletzt nahelegte.

Die Nachwuchstheoretiker aus Karlsruhe jedenfalls setzten sich mit ihrem Ausflug in linke Politische Theorie und Psychologie in erstaunlicher Weise von ihren Kollegen Staatsanwälten in sonstigen politischen Verfahren ab. Diese lassen normalerweise keine Gelegenheit aus, um zu betonen, dass es sich um ganz normale Strafverfahren handele. Kriminelles Unrecht und nicht politische Betätigung stünden zur Verhandlung. Politische Erklärungen täten nichts zur Sache. Anders die BAW: Sie beschweren sich darüber, dass die Angeklagten die politische Dimension "ihrer" Taten nicht genügend reflektiert hätten. Ihrer Taten - ja, richtig gehört - ihrer Taten. Das abzusehende Ergebnis der Beweiswürdigung wurde damit von der BAW vorweggenommen.

Spricht da die persönliche Enttäuschung der aus Karlsruhe anreisenden Sitzungsvertreter der Bundesanwaltschaft, dass keine linke Theoriedebatte stattfand, dass nicht mehr los war in Berlin ? Oder wollen sie ein letztes Mal versuchen, die Angeklagten aus der Reserve zu locken, zu provozieren, indem ihnen vorgeworfen wird, in ihrer linksrevolutionären Idylle zu verharren und ihre politischen Überzeugungen nicht dargestellt zu haben ?

Oder - und diesem Schluss neige ich zu - bedienen sie sich eines billigen rhetorischen Tricks, um von vornherein in den politischen Diskurs einzusteigen. Denn wer sich als Angeklagter politisch bekennt oder distanziert, dem muss nicht mehr mühsam juristisch nachgewiesen werden, was er oder sie begangen hat. Dabei weiss die BAW sehr wohl, dass hier bei ausschliesslicher Anlegung juristischer Kriterien Verfahrensergebnisse herauskommen müssten, die ihnen nicht passen würden. Für diesen Befund spricht die despektierlich gemeinte Beschreibung der Verteidigungsstrategie durch die BAW als die einer Autoschieberbande, die mit prozessualer Spiegelfechtereien arbeite. Damit meinen sie offensichtlich, dass sich die Angeklagten der Mittel klassischer Strafverteidigung bedienten. Ja, es stimmt, es wurde Strafverteidigung - wenn auch nicht immer stilvollendet - praktiziert, aber doch Strafverteidigung: also den Mandanten gegen einen strafrechtlichen Vorwurf zu verteidigen und dabei so zu handeln, als ob in einem Strafverfahren, in dem aufgrund eines Haftbefehls des Ermittlungsrichters am BGH wegen terroristischer Vereinigung zu Prozessbeginn bereits seit 1- 1 1/2 Jahren Untersuchungshaft vollstreckt wurde, sich ein unabhängiges Gericht dem rationalen Austausch der Argumente unter Wahrung der strafprozessualen Regeln stellen würde, um in diesem Rahmen zu einem gerechten Ergebnis zu kommen. Die BAW meint also, wir hätten dies lassen sollen, wir hätten uns ihrem pragmatischen Ergebnis anschliessen sollen. Schliesslich hat der Kronzeuge so vieles erzählt und haben sich nicht einige seiner Erzählungen als wahr erwiesen, da kann man auch den Rest, die Fünfe gerade sein lassen. Dies mag die nachvollziehbare, wenn auch nicht zu respektierende Sicht der Strafverfolger sein. Wir halten es für unsere Aufgabe zu dem zu kommen, was die BAW in ihrem Schlussplädoyer wohlweislich zu erörtern unterlassen hat : der Anwendung allgemeiner rechtlicher Standards zur Beurteilung der Anklagevorwürfe bezüglich der einzelnen Angeklagten.

IV. Zum Kronzeugen allgemein

Dabei muss man sich zunächst mit der Kronzeugenproblematik im allgemeinen und mit dem Kronzeugen Mouslis im besonderen auseinanderzusetzen. Einer der profiliertesten deutschen Journalisten auf diesem Gebiet, Heribert Prantl brachte die Dramatik die dem Thema innewohnt, zuletzt in der SZ vom 8.12.2003 so auf den Punkt:

" Die Kronzeugen- Regelung ist, das zeigt die Erfahrung aus Drogenprozessen, eine gesetzliche Anstiftung zur Falschaussage" - Kommentar unter dem Titel " Ein Wiedergänger der Rechtspolitik".

Es entwertet das Plädoyer der Bundesanwälte insgesamt, dass dieses für die Hauptverhandlung zentrale Thema noch nicht einmal angeschnitten, geschweige denn intensiv abgehandelt wurde. Schon während der gesamten Hauptverhandlung wollte sich die BAW dem Problem mit einer Orwellschen Sprachregelung zu entziehen: sie selbst sprach ausschliesslich vom Zeugen und nicht vom Kronzeugen und in Erwiderung der Verteidigerrhetorik allenfalls vom sogenannten oder dem von der Verteidigung so bezeichneten Kronzeugen. Der zutreffende und gängige Begriff des Kronzeugen sollte nicht mehr gebraucht und damit das offenkundige Problem kaschiert werden. Es erscheint daher eine Begriffsklärung notwendig.

Es steht ausser jeder Frage, dass es Kronzeugen gibt, seit es Strafprozesse gibt und nicht erst seit der Einführung von Gesetzen mit Kronzeugenregelungen. In der Literatur wird der Kronzeuge als eine Person bezeichnet, "die selbst der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt ist, ihr Wissen über die Straftaten anderer offenbart und der Staat dieses Verhalten durch völliges Absehen von der Bestrafung oder eine mildere Bestrafung honoriert". ( vgl. Florian Jeßberger, Kooperation und Strafzumessung, Köln 1999, S. 25f. m.w.N.; Uwe Mühlhoff/ Stefanie Mehrens, neue Kriminalpolitik 2000, S.12; ders./ Christian Pfeiffer, ZRP 2000, S.121, 122).

Wie den ersten Aussagen des Beschuldigten Mousli zu entnehmen ist, wurde er über die Regelungen des Kronzeugengesetzes belehrt und er hat zumindest einen Teil der Aussagen in Erwartung der Anwendung dieses Gesetzes gemacht. Er hat dann - was im einzelnen zu erörtern sein wird- nach Abschluss einer Vereinbarung mit der BAW spätestens im November 1999 in Erwartung von Vorteilen zahlreiche Aussagen über tatsächliche und vermeintliche Mitbeteiligte an Straftaten gemacht. Damit ist Mousli nach der obigen Begriffsbestimmung, ohne dass in seinem Verfahren explizit die Kronzeugenregelung angewandt wurde, ein Kronzeuge.

Das Modell Kronzeuge wird in Rechtsprechung und Literatur kritisch diskutiert, ohne dass sich in der bundesdeutschen Diskussion die Position hätte durchsetzen können, dass eine Verurteilung allein aufgrund der Aussagen eines Kronzeugen mit rechtstaatlichen Prinzipien nicht vereinbar wäre. Dies ist schon deswegen bedauerlich, weil sowohl in der Geschichte als auch aktuell in anderen Ländern Erfahrungen mit Kronzeugen, Staatszeugen ("state's witness"), Supersingvögeln ("supergras"), Reuigen ("pentiti") oder wie man sie auch immer nennen mag gemacht wurden, die diese Konsequenz nahelegen würden. Beachtenswert scheint dabei insbesondere das nordirische Beispiel zu sein. Dort kam der in 2. Instanz mit dem Problem befasste Court of Appeal in einer Reihe von Terrorismusverfahren in den 80er Jahren zu dem Schluss, "ein supergrass habe einen dermaßen starken Anreiz zur Lüge, dass man in Ermangelung der Bestätigung seiner Aussagen durch weitere Beweismittel -also corrobation- den Wahrheitsgehalt dieser Aussagen nicht mit dem Grad an Sicherheit feststellen könne, der in einem rechtstaatlichen Strafverfahren für eine Verurteilung erforderlich sei" ( so die Zusammenfassung von Mark Denny in ZStW 103 (1991) S.269ff., 298). In den USA gilt deswegen teilweise das Corrobation-Prinzip, dass also bei einer Verurteilung weitere, sogenannte unabhängige Beweismittel zur Aussage des Kronzeugen hinzutreten müssen. Diese zusätzlichen Beweismittel sollen die Verbindung zwischem dem Beschuldigten und der fraglichen Straftat dokumentieren (vgl. nur Jeßberger, a.a.O., S. 153ff mit vielen weiteren Nachweisen.)

- Interessanterweise hatte die BAW in ihrem Plädoyer aus einer entsprechenden Passage in der laufenden Beschwerde des Herrn Borgmann vor dem Europäischen Menschengerichtshof zitiert und vollmundig behauptet, es gäbe diese zusätzlichen Beweismittel. Die Aufzählung derselben blieb sie allerdings schuldig. Zu den einzelnen Anschlägen benannte sie zwar jeweils eine Vielzahl von Tatortzeugen und Ermittlungsbeamten als Beweismittel. Diese können allerdings nur dem Beweise dafür dienen -und daran hat wirklich niemand Zweifel gehabt-, dass die Anschläge tatsächlich stattgefunden und die äusseren Geschehensabläufe sich wie allgemein bekannt zugetragen haben. Zu der Vor- und Nachbereitung der jeweiligen Anschlägen sowie zur personellen Zuordnung der Tatbeiträge formulierte die BAW floskelhaft, diese seien durch die Angaben Mouslis belegt - kein Wort nach keinem Anschlag zu weiteren Beweismitteln (ausser den von Schindler eingeräumten Selbstbelastungen). Damit sind sie aber dem selbstgesteckten Anspruch gerade nicht gerecht geworden. Denn zur Bestätigung der Kronzeugenaussage durch das Corrobation- Prinzip gehört gerade der Nachweis einer Verbindung der Angeklagten zur Tat durch ein zusätzliches unabhängiges Beweismittel, das hier nicht geliefert wurde.

Hintergrund dieser angloamerikanischen Umgangsweise mit Kronzeugen ist ein in langer rechtstaatlicher Tradition gereiftes Bewusstsein darüber, dass Kronzeugen nicht nur viele Gründe, sondern auch viele Möglichkeiten zu einer Falschaussage haben. "Kaum lösbares Paradoxon des Modells Kronzeuge ist, daß der besonderen Aufklärungseignung des Kronzeugen eine besondere Disposition zur Falschaussage korrespondiert. Gerade seine besondere Nähe zum Tatgeschehen - Garantie für die Menge aufklärungsrelevanten Wissens - bedingt eine für die Glaubhaftigkeit seiner Aussage unheilvolle Konstellation aus eigener Tatverstrickung und damit verbundener Tendenz zur Bagatellisierung des eigenen Tatbeitrags und detaillierter, weil selbst erlebter Kenntnis der Tatumstände und damit täuschend realitätsnahen Manipulationsmöglichkeiten durch den einfachen Austausch einzelner Sachverhaltselemente, bspw. die Umverteilung der Tatbeiträge. Der vom Kronzeuge angestrebte Vorteil - Straflosigkeit für bisweilen schwerste Straftaten - ist kaum zu übertreffen, der Kronzeuge hat also allen Grund zur Lüge. Zudem ist Detailreichtum gerade ein Indiz für die Glaubhaftigkeit einer Aussage, der Kronzeuge ist mithin ein besonders guter Lügner. Zusätzlich - und das unterscheidet den Kronzeugen vom gewöhnlichen mitbeschuldigten Zeugen - trifft ihn eine besondere von den Strafverfolgungsbehörden an ihn herangetragene oder (vorauseilend) selbst produzierten Erwartungshaltung, er steht unter Erfolgsdruck, denn nur wenn er in der gewünschten Weise aussagt oder sogar seine Aussage das gewünschte Ergebnis hat, darf er ernsthaft auf die Gewährung der Vergünstigung hoffen. Der Kronzeuge hat also ein doppeltes Eigeninteresse." (Jeßberger, a.a.O., S. 127f.).

Die Verteidigung ist sich darüber im klarem, dass im Schrifttum und auch in der Rechtsprechung nur wenige die Konsequenz aus den obigen sicherlich von vielen geteilten Bedenken ziehen und eine Verurteilung allein aufgrund einer Kronzeugenaussage ablehnen. Vielmehr wird von den meisten Kommentatoren auf das Prinzip der freien Beweiswürdigung verwiesen, mit dem sich eine derartige feste Beweisregel nicht vertragen würde. Unstrittig ist jedoch in Literatur und Rechtsprechung, dass eine angemessene und sorgfältige Überprüfung der Angaben des Kronzeugen vorzunehmen ist.

V. Glaubwürdigkeitsprüfung der Aussage Mouslis

Die nachfolgende Ausführungen lassen sich nur als ein Beitrag zur umfangreichen Loseblattsammlung ' Glaubwürdigkeitsprüfung der Aussage Mouslis' verstehen, die einer Ergänzung durch die KollegInnen der Verteidigung und einer Fortschreibung über diesen Prozess hinaus bedarf.

In Fallkonstellationen wie der vorliegenden, wo die Belastungen ausschliesslich auf der Kronzeugenaussage beruhen und zudem noch dessen Aussage gegen die Aussage anderer Beteiligter, namentlich Schindler, aber auch Eckle und Haug sowie der Zeuginnen von W., Elisabeth E. und T., steht, wird von der Rechtsprechung eine besondere Glaubwürdigkeitsprüfung der belastenden Zeugenaussage gefordert. Dabei spielen neben anderen Kriterien, auf die andere Verteidiger im weiteren Verlaufe der Plädoyers eingehen werden, die Aussageentstehung und die Aussagemotivation eine wichtige Rolle (vgl. insoweit Nack, StV 2002, S. 558 ff. mit zahlreichen w.N.).

Aufgrund der bisherigen Erfahrungen der Verteidigung in diesem Verfahren muss davon ausgegangen werden, dass der Kronzeuge sowohl mit den Vernehmungsbeamten des Bundeskriminalamtes, den Bundesanwälten, als auch den Zeugenschutzbeamten des Bundeskriminalamtes und weiteren unbekannten Personen eine Vielzahl von Gesprächen über den Verfahrensgegenstand geführt hat. Auf die gesamte Problematik des hiesigen Einstellungsantrages zu Prozessbeginn wegen des Bestehens eines Verfahrenshindernisses sei hier nur kurz verwiesen. Das damalige Kernargument lautete, dass die Aussage die der Kronzeuge in der hiesigen Hauptverhandlung nicht mehr seine originäre Wiedergabe von persönlichen Erinnerungen an in der Vergangenheit liegende Ereignisse sein wird, sondern die Präsentation eines Ergebnisses von anderthalb Jahren intensiver gemeinsamer Arbeit mit den Beamten des BKA und der BAW.

Schon anhand der Akte ist annähernd nachvollziehbar, dass sich diese Gesprächskontakte nicht nur auf förmliche Vernehmungen beschränkten, die möglicherweise korrekt wiedergegeben in Vernehmungsprotokollen auftauchen. Vielmehr wurden von Beginn an mit dem Kronzeugen Gespräche geführt, die nur zu einem Bruchteil durch Vermerke festgehalten wurden. Schon die wenigen festgehaltenen Vermerke belegen jedoch, wie die Ermittlungsbehörden steuernd auf Mousli einwirkten. Dazu kommen die im Verlaufe der Hauptverhandlung gewonnenen Erkenntnisse darüber, dass auch die Beamten des Bundesamtes für den Verfassungsschutz in bisher kaum nachvollziehbarer Weise den Kronzeugen präparierten.

Noch einmal an dieser Stelle in der gebotenen Kürze :

Bekanntlich wurde Tarek Mousli am 23.11.1999 gegen 5.50 Uhr in seiner Wohnung in Schönow zum wiederholten Male festgenommen. Er fuhr dann gemeinsam mit dem festnehmenden Beamten in einem Dienst-Pkw des BKA nach Karlsruhe. Dort wurden weitere Gespräche mit ihm geführt. Am Abend des 23.11.1999 soll Herr Mousli dann um ein Gespräch gebeten haben, in dem es um die Kronzeugenregelung ging (vgl. Vermerk der BKA-Beamten van Elkan und Schulzke Bd. 15, Bl.1 und 2). Es soll dann weiterhin am 24.11.1999 noch zu einem längeren Gespräch zwischen 12.35 Uhr und 14.55 Uhr während des Transportes von Karlsruhe nach Köln-Ossendorf gekommen sein. Über dieses Gespräch existiert kein Vermerk. Vielmehr schreiben die Beamten in ihrem Vermerk vom 26.11.1999,, dass der Gesprächsverlauf während der Fahrt von Karlsruhe nach Köln-Ossendorf zwischen dem Beschuldigten und EKHK Schulzke in der Vernehmung vom 25.11.1999 niedergelegt sei.

Am 24.11.1999 kam es dann (ausweislich Bd. 11, S. 95 bis 97) zu einem Gespräch zwischen dem Kronzeugen und Oberstaatsanwalt Monka. Im Beisein der BKA-Beamten Schulzke und von Elkan. In dem Vermerk von Oberstaatsanwalt Monka vom 29.11.1999, der überschrieben ist mit - Ermittlungsverfahren gegen Tarek Mousli wegen Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung u.a. - heißt es dann unter anderem: "Eingangs wies ich den Beschuldigten darauf hin, dass er nun gehört habe, was ihm inzwischen vorgeworfen wird. ... Ich hielt ihm vor, dass er sich bewusst sei, in welcher schlechten Position er sich nun befinden würde. ... Im ungünstigsten Fall, so erklärte ich ihm, hätte er mit umfangreichen Ermittlungen, einer langen Ermittlungsdauer und einer langen Hauptverhandlung zu rechnen, bei der eine mehrjährige Freiheitsstrafe zu erwarten wäre. Ich sprach von fünf bis sechs Jahren Freiheitsstrafe." Zur Begründung des selbst in dem Haftbefehl gegen Mousli noch angenommenen dringenden Tatverdacht wegen Rädelsführerschaft diente damals die als glaubwürdig eingestufte Aussage der ehemaligen Freundin des Kronzeugen, Frau Karmen Tollkühn. Diese hatte nämlich berichtet, dass sich der Mousli ihr gegenüber eingehend geäußert habe, dass er eine führende Rolle innerhalb der Organisation inne gehabt habe. Er habe ihr gegenüber selbst eingeräumt, dass er im Falle des verletzten Richters, gemeint war Dr. Korbmacher, selbst geschossen hat. Von diesen damals noch als glaubwürdig eingestuften, weil als Druckmittel benötigten Aussagen und den rechtlichen Schlussfolgerungen, nämlich die Annahme einer Rädelsführerschaft, rückte man dann im weiteren Verlaufe des Verfahrens gegen Mousli ab. Es wurden die Aussagen von Mousli selbst als durchweg glaubhaft bezeichnet und die Aussage der Karmen Tollkühn in ihrer Bedeutung immer weiter herabgestuft.

Das durch diesen Druck auf den Kronzeugen angestrebte Ziel wird von Oberstaatsanwalt Monka in seinem Vermerk vom 29.11.1999 so formuliert:

"Auf der anderen Seite gäbe es den günstigsten Fall, der dann verwirklicht wäre, wenn er ein Geständnis ablegen würde, wenn es zu einer schnellen Hauptverhandlung kommen würde und wenn er Aufklärungshilfe liefern würde im Sinne der Kronzeugenregelung, die zum Jahresende ausläuft. Die Aufklärungshilfe müsste in diesem Fall dahingehen, dass die Ermittlungsbehörden durch ihn weiterer Täter habhaft werden könnten. Ich sprach in diesem Zusammenhang von Knüllern."

Der Kronzeuge bemühte sich dann in seinen Vernehmungen nach dem 24.11.1999, diese Vorgabe zu erfüllen und "Knüller" zu liefern. Dabei fällt bei der Betrachtung der einzelnen Vernehmungen auf, dass der Grad der Belastungen von verschiedenen Personen gegen Jahresende, zum Zeitpunkt des Ablaufes der Kronzeugenregelung hin, zunimmt.

Einen Tag vor Fristablauf, am 30.12.1999 kommt es dann zu einer Vernehmung in der JVA Köln-Ossendorf. Dort führt Mousli zunächst aus: "In der Zeit vom 23.11.1999 bis heute ist mir so einiges durch den Kopf gegangen. Auch auf die Gefahr hin, dass später jemand versucht, mit dieser Aussage meine Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen, gebe ich diese Erklärung ab." Weiter unten heißt es: "Aus Sorge um die Sicherheit von Karmen habe ich mich dazu entschlossen auch die Identität von Sebastian preiszugeben. Bei dem RZ-Mitglied mit dem Decknamen Sebastian handelt es sich um Lothar Ebke. Lothar Ebke und ich gingen zusammen in die RZ. Er war also nicht nur Unterstützer, wie ich bisher immer angegeben habe. Er war Mitglied der RZ."

In der Aussage des vernehmenden Polizeibeamten EKHK Schulzke in der Hauptverhandlung vor dem 2. Strafsenat des Kammergerichts gegen Tarek Mousli am 13.12.2000 hört sich die Geschichte allerdings etwas anders. Auf die entsprechende Frage des Vorsitzenden Richters am Kammergericht Dr. Dietrich: "Es fällt auf, dass Ende Dezember 1999 ein gewisser Wandel in der Aussage auftaucht?" antwortet der Zeuge Schulzke sinngemäss, man habe den Eindruck gehabt, dass Mousli zu der einen oder anderen Person hätte mehr sagen können. Das habe man ihm deutlich gemacht und zwar Ende Dezember. Am 20./21.12.1999 sei man noch einmal bei Mousli in der JVA gewesen und habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass die Kronzeugenregelung für ihn nur dann greift, wenn er rückhaltlos Angaben macht und am 30.12.1999 diese Möglichkeit für ihn auslaufen wird und er sich noch einmal überlegen soll, ob nicht die eine oder andere Sache zu sagen wäre. Zwischen Weihnachten und Neujahr habe er dann gebeten, zu kommen. Zwischen Weihnachten und Neujahr sind dann diese Aussagen entstanden.

Ein Vermerk über die Gespräche von Herrn Schulzke und seinen Kollegen mit dem Kronzeugen ist den hiesigen Akten nicht zu entnehmen. Nur durch die Anwesenheit einzelner Verfahrensbeteiligter während der Hauptverhandlung gegen Tarek Mousli vor dem 2. Strafsenat des Kammergerichts wurde die Tatsache, dass weitere Gespräche zwischen den BKA-Beamten und Mousli geführt wurden, bekannt. Es liegt auf der Hand, dass alle diese Gespräche für die Entwicklung der Aussage Mousli von entscheidender Bedeutung sind.

Versucht man die Aussagenentwicklung beim Kronzeugen und einzelne Wendungen und Wandlungen im Inhalt seiner Aussagen nachzuvollziehen, stösst man zum einen auf das gerade geschilderte Problem, dass wesentliche Gespräche zwischen Mousli und den Ermttlungsbeamten nicht dokumentiert wurden. Die Akten sind insofern höchst unvollständig. Die BAW weist in ihrem Plädoyer zurecht auf einen auch aus Sicht der Verteidigung in diesem Zusammenhang wichtigen Umstand hin: Mousli Aussagen zum Seegraben sind zu einem frühen Zeitpunkt - nämlich im Juni 1999 - erfolgt, als angeblich von seiner umfassende Aussagebereitschaft keine Rede war. Andererseit taucht der Topos 'Kronzeugenregelung' auch vor dem November 1999 in mehreren Vernehmungen, zuletzt noch am 6.10.1999, ohne dass einer der hierzu Befragten, insbesonder Mousli selbst hierzu irgendeine Aufklärung geben könnte. Hierbei ist vor allem frappierend, wie die massgeblich für die Ermittlungen verantwortlichen Beamten Schulzke und Trede in der Hauptverhandlung vermieden, zu den entscheidenden Fragen der Vorgeschichte der Kronzeugenaussage Mousli wahrheitsgemäss auszusagen. So ist der gesamte Verlauf der Ermittlungen im Sommer 1999 bis zum jetzigen Zeitpunkt unaufgeklärt- ein schwarzes Loch. Der der Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung verdächtige Mousli wird am 7.7.1999 von der weiteren Untersuchungshaft verschont - obwohl sich der angeblich für diese Haftentlassung massgebliche Hinweis auf den angeblichen Fundort des restlichen Sprengstoffes im Seegraben nach zweimaligem Absuchen durch Polizeikräfte als Ente erwies. Der immer noch Verdächtige, der glaubhaft versicherte, weiteren Sprengstoff nach dem Einbruchsdiebstahl 1995 besessen zu haben, der sich nicht auffinden liess, der die Ermittlungsbehörden in einem abgehörten Telefonat erfahren liess, dass er noch sehr viel mehr wisse, der vielversprechende Aufschlüsse über weitere potentielle Verdächtige Mitglieder einer Terroristischen Vereinigung verhiess, diesen Verdächtigen wollen die Hauptermittler Schulzke und Trede am 7.7.1999 einfach so in die Freiheit ziehen lassen haben. Und zwar ohne dass sie ein Ermittlungskonzept für diese Zeit gehabt haben wollen, ohne dass sie ihn observiert haben lassen wollen, ohne dass sie die bis Ende August 1999 gültige richterliche Erlaubnis zur Telefonüberwachung ausgenutzt haben wollen. Diese Darstellungen oder besser Nichtdarstellungen der entscheidenden Ermittlungsphase im Sommer 1999 sind in hohem Masse unglaubhaft und werden noch unglaubhafter, wenn man sich die Zeugenaussagen der Herren Schulzke und Trede noch einmal vor Augen führt.

- Der Zeuge Schulzke zog sich auf die banale Erklärung zurück, dass alle Gespräche mit Mousli und die Ermittlungen so stattgefunden hätten, wie sie in den Ermittlungsakten dokumentiert seien. Alle Nachfragen bezüglich der zahlreichen Leerstellen in den Akten, wo nämlich bestimmte Gesprächsinhalte oder Teilinhalte gerade nicht dokumentiert waren, und vor allem Nachfragen bezüglich der zahlreichen sich aus den Akten ergebenden Widersprüche - meine Kollegin Lunnebach wird dies gesondert für die uns wichtige Phase der Aussage Mousli im Januar 2000 anlässlich der angeblichen Identifizierung "Heiner" ausführen - zog sich Schulzke gebetsmühlenartig auf seine oben zitierte Floskel zurück. Auf seine Angaben kann deswegen keine einzige Sachverhaltsfeststellung gestützt werden, die nicht anderweitig belegt ist.

Noch bemerkenswerter waren die Aussagen des zweiten Mannes der Ermittlungen, des Zeugen Trede in der hiesigen Hauptverhandlung. Auf sie soll im nachfolgenden aus zwei Gründen intensiver eingegangen werden:

- Der Zeuge Trede war neben dem Zeugen Schulzke massgeblich für die gesamten entscheidenden Ermittlungen zwischen Frühjahr und November 1999 verantwortlich und der Zeuge war derjenige, der den angeblichen Fund des Sprengstoffs nach Mouslis Haftentlassung am 24. August 1999 ermöglichte. Er war somit einer der Hauptpersonen in dem zweifelhaftesten Akt in dem Schauspiel um den Kronzeugen.

- Der Zeuge Trede hat in der hiesigen Hauptverhandlung in mehrfacher Weise falsch ausgesagt : Seine Vernehmungen am 13. und 14. sowie am 20.12.2001 hatten die Ereignisse vor dem Fund von Sprengstoff im Seegraben in Berlin-Buch am 24.08.1999 zum zentralen Themen.

Trede machte zu diesem Komplex in seiner Aussage am 13., 14. und 20.12.2001 die Angabe, dass er sich einmal und zwar am 15.06.1999 mit Mousli am Seegraben befunden hätte. Er sei mit Handschellen an Mousli gekettet gewesen und sei mit diesem entlang des Parkplatzes und eine kleines Stück entlang des Seegrabens gelaufen. Mousli habe die vorbenannte Stelle am Parkplatz als Einwurfort bezeichnet. Soweit die erste Vernehmung von Trede in der Hauptverhandlung.

Schon wenige Tage nach dieser Aussage von Trede, am 04.01.2002, machte der Zeuge Mousli zu dem Seegraben-Komplex eine Aussage, wonach er sich ein zweites Mal, nämlich am 08.07.1999 gemeinsam mit Trede und zwei weiteren Personen am Seegraben befunden habe. Mousli machte detaillierte Ausführungen zu diesem zweiten Ortstermin.

Am 19.09.2002 wurde der damalige Kollege von Herrn Trede, KHK Barbian in der Hauptverhandlung vernommen. Er bestätigte die Aussagen Mouslis anhand von Kalendereintragungen, wonach am 08.07.1999 ein längerer Termin von Trede, Barbian und Mousli am Seegraben stattgefunden habe. Es kann also als sicher angesehen werden, dass neben den in den Akten dokumentierten Ortstermin am 16.06.1999, wohin Mousli ausgeführt worden war, ein weiterer Ortstermin am Seegraben stattgefunden hat. Dieser ist bisher in den Akten weder in Form eines Vermerks noch eines Berichtes noch in sonst irgendeiner Weise dokumentiert. Der Beschuldigte Trede hat diesen Ortstermin während seiner ersten Vernehmung am 13., 14. und 20.12.2001 gänzlich verschwiegen.

Am 30.08.2002 und 06.09.2002 wurde Trede erneut zu diesen Vorgängen in der Hauptverhandlung vernommen. Dabei ging es zunächst um die Frage, wann er wie darauf aufmerksam wurde oder gemacht wurde, dass es einen zweiten Termin am Seegraben gab und welche Erinnerung er nunmehr an diesen Vorgang habe. Trede sagte dazu, er habe die Vorladung zu seiner Vernehmung am 30.08.2002 erhalten und habe sich darauf hin von sich aus mit dem Gericht und zwar mit der Vorsitzenden Richterin Hennig in Verbindung gesetzt. Diese habe ihm darauf hin gesagt, dass als Beweisthema unter anderem der Seegraben in Betracht käme. Die Vorsitzende habe ihn dann auf den zweiten Seegrabengang angesprochen. Das Gespräch mit der Vorsitzenden hat etwa neun Tage vor der Hauptverhandlung stattgefunden. Wenige Tage danach habe er noch mit seinem Kollegen Lothar Barbian besprochen und ebenfalls das Thema des zweiten Seegrabenganges erörtert. Der Zeuge betonte auf mehrfache Nachfragen, dass er erst bei dem Gespräch mit der Vorsitzenden etwa neun Tage vor dem Gerichtstermin am 30.08.2002 von einem möglichen zweiten Seegrabengang erfahren habe. Dieses Thema sei dann wenige Tage danach mit seinem Kollegen Barbian vertieft worden. Auf die ausdrückliche Frage der Kollegin Studzinskiy, ob er seit seinen ersten Vernehmungen am 13., 14. und 20.12.2002 noch einmal mit jemand über das Thema zweiter Seegrabengang gesprochen habe, betonte Trede, dass dies nicht der Fall gewesen sei. Vielmehr sei das bereits angesprochene Gespräch mit der Vorsitzenden das erste Mal gewesen, dass er zu diesem Thema mit einer anderen Person gesprochen habe.

Überraschenderweise machte der Zeuge Barbian in seiner schon zitierten Vernehmung am 19.9.2002 Angaben dazu, wann er mit dem Zeugen Trede über den möglichen zweiten Seegrabengang gesprochen habe. Er teilte mit, dass er nach der Zeugenvernehmung von Trede, also nach dem 20.12.2001 mit dem Verfahren deswegen befasst sei, weil er nach seiner Erinnerung Beweisanträge der Verteidigung, er sprach von einem Antrag vom Unterzeichner, bearbeiten musste. Er habe dann sich im Internet über den Prozess informiert und habe Prozessberichte über die Vernehmung seines Kollegen Trede am 13., 14. und 20.12.2001 gelesen. Bei dem Lesen dieser Berichte sei ihm aufgefallen, dass Trede den zweiten Seegrabengang nicht erwähnt habe. Er habe dann am 28.12.2001 oder kurz davor mit seinem Kollegen telefoniert und habe ihn darauf angesprochen, dass man doch gemeinsam ein zweites Mal beim Seegraben gewesen sei und zwar am 08.07.1999 und er davon ausgehe, dass sich auch Trede daran erinnern müsse. Allerdings habe er festgestellt, dass Herrn Trede "fremd war", dass er dort gewesen sein soll.

Es geht also einmal um das Aussageverhalten des Zeugen Trede am 13., 14. und 20.12.2001 und zum zweiten um sein Aussageverhalten am 30.08. und 06.09.2002. Bei der ersten Aussage hat er den zweiten Seegrabengang nicht geschildert. Angesichts der zentralen Bedeutung der Aussage des Zeugen Trede grundsätzlich und der zentralen Aussagebedeutung des Themas Seegraben könnte von einem Polizeibeamten erwartet werden, dass er sich umfassend auf seine Aussage vorbereitet. Der Zeuge ist insgesamt an drei Tagen vernommen worden. Er ist mehrfach auf dieses Thema angesprochen worden. Die Bedeutung des Themas dürfte ihm klargeworden sein. Nichtsdestotrotz hat er objektiv die Unwahrheit gesagt und einen zentralen Vorgang der Ermittlungen in seiner Aussage in der Hauptverhandlung verschwiegen.

In seiner Aussage am 30.08. und 06.09.2002 hat Trede ebenfalls objektiv die Unwahrheit gesagt. Er hat auf mehrfache Nachfragen betont, erstmals mit der Vorsitzenden Richterin am Kammergericht Hennig über einen zweiten Seegrabengang gesprochen zu haben. Er hat die Abläufe genau geschildert von seinem ersten Anruf bis über einen weiteren Anruf bei seinem Kollegen Barbian und an seiner Vorbereitung für die Hauptverhandlung am 30.08.2002. Er hat das Telefonat mit seinem Kollegen Lothar Barbian am 28.12.2001 oder kurz davor verschwiegen und damit objektiv die Unwahrheit gesagt.

Auf die Aussage dieses Zeugen kann daher eine Verurteilung nicht gestützt werden. Vielmehr ist das geschilderte Aussageverhalten der beiden Hauptermittler Schulzke und Trede geeignet, grundsätzliche Zweifel in die Entstehungsgeschichte der Aussage Mouslis zu wecken, ohne dass die Hauptverhandlung hier letzten Aufschluss bringen konnte.

Noch ein Wort an dieser Stelle zu den Vorwürfen der BAW und des Gerichtes, die Verteidigung habe zuviel Phantasie, wenn sie die Hypothese in den Raum stelle, Mousli habe den restlichen Sprengstoff zwischen seiner Haftentlassung am 7.7.1999 und am 24.8.1999 mit oder ohne Wissen buw. mit oder ohne Beteiligung der Ermittlungsbehörden eingeworfen. Im Umgang mit Staatsschutzbehörden und Geheimdiensten kann man als Verteidiger nicht genügende Phantasie aufbringen. Als Lehrstück soll nachfolgend geschilderte Originalpassage aus dem Schmücker-Urteil des Landgerichts Berlin vom 28.1.1991 ( in : Strafverteidiger 1991, S. 371ff., 387) dienen:

"Aufgrund der Angaben Bodeux's vom 20. 12. 1974 erteilte noch "am 23. 12. 1974 KHM Trach per Fernschreiben den Auftrag, an der von ]ürgen Bodeux bezeichneten Stelle nach der Schreibmaschine zu suchen. Mit Fernschreiben vom 27. 12. 1974 teilte das LKA Hannover dem Polizeipräsidenten in Berlin mit, daß eine am selben Tage von einem Taucherzug mittels eines Speziaigeräts durchgeführte Suche erfolglos verlaufen sei. Bei einer am 20.1.1975 auf Ersuchen der StA Berlin erneut durchgeführten Absuche des Mittellandkanals mit verbesserten technischen Mitteln wurde in demselben Bereich, in dem zuvor vergeblich gesucht worden war, eine Schreibmaschine gefunden, die der von Bodeux gegebenen Beschreibung entsprach. Wahrend Berichte über die am 20.1. angestellten Ermittlungen zu den Sachakten genommen wurden, verblieb der Hinweis auf die erste erfolglose Suchaktion in dem polizeilichen Retent. Eine derartige Aktenführung war nach Aussage der Zeugen Ribbeck und Warias nicht korrekt. Gründe für dieses Vorgehen vermochten sie jedoch nicht anzugeben. Ebensowenig konnte der Zeuge Jaeger erklären, weshalb ein von ihm gefertigter Vermerk vom 5.5.1975 über eine ergänzende Vernehmung des ]ürgen Bodeux u. a. zu der Schreibmaschine ausdrücklich - ein entsprechender Zusatz wurde in farblich abgesetzter roter Schrift über dem Vermerk angebracht - im Retent der Polizei verbleiben sollte.

Auf die Frage, ob die im Mittellandkanal geborgene Schreibmaschine dort -ähnlich wie bei der "Aktion Brücke" die Waffen und Überfallpläne - auf Veranlassung des LfV Berlin versenkt und auf einen ebenfalls vom LfV initiierten Hinweis Bodeux's später dort "gefunden" wurde, antwortete der Zeuge Natusch, daß er sich an einen solchen Vorgang nicht erinnern könne. Grundsätzlich halte er ein derartiges Vorgehen jedoch für zulässig, wenn für den Verfassungsschutz klar sei, daß es sich um ein wichtiges Beweismittel handele, das ohne Gefährdung der Quelle (im vorliegenden Fall Weingraber) nur mit "geheimdienstlichen Mitteln" den Ermittlungsehörden zugänglich gemacht werden könne."

Ohne Äpfel mit Birnen vergleichen oder Legendenbildung betreiben zu wollen, zeigt die unter zahlreichen ähnlichen Passagen aus dem Urteil gewählte Sequenz, zu was Ermittlungsbehörden unter bestimmten Umständen fähig sind und dass mehr Phantasie dazu gehört, derartige Machenschaften aufzudecken, als im hiesigen Verfahren von den Beteiligten bei Gericht und BAW aufgebracht wurde.

VI. Zeuge vom Hörensagen

Noch krasser stellt sich das Problem der Glaubwürdigkeitsüberprüfung der Aussagen Mouslis, die er nur vom Hören-Sagen machte. Denn zusätzlich zu den ohnehin durchschlagenden Zweifeln wegen der fragwürdigen und nicht aufgeklärten Entstehung der Aussagen und der fragwürdigen Motivation des Kronzeugen kommen die bekannten grundsätzlichen Bedenken gegen Zeugen vom Hören- Sagen. Dies gilt umso mehr bei den Aussagen Mouslis, weil er selbst und ihm folgend die Ermittlungsbehörden hinsichtlich zahlreicher Widersprüche zwischen seinen Aussagen und den Feststellungen der Ermittler die scheinbar bestechende Erklärung gefunden haben, dass er hinsichtlich des falsch geschilderten Vorgangs von seinen Chefs "Jon" und "Judith" falsch informiert worden sei oder man ohne sein Wissen und Zutun die Abläufe zu einem späteren Zeitpunkt geändert habe. Zugespitzt wird diese These von der BAW bei der Würdigung der den objektiven Feststellungen vollkommen widersprechenden Beschreibung des bei der ZSA eingesetzten Sprengsatzes gebraucht : Die Altmitglieder Jon und Judith hätten den Rest der Gruppe getäuscht und ihr entscheidendes Herrschaftswissen vorbehalten.

Bisher wird dieser "Änderungs- und Herrschaftswissensvorbehalt" von der BAW nur hinsichtlich der bereits jetzt festgestellten Widersprüche in Mouslis Aussage gemacht, um nämlich die Widersprüche zu glätten und Mouslis Aussage zu retten. Wenn aber dieser Vorbehalt überhaupt gelten soll, muss er generell Wirkung entfalten : entweder alle Teile von Mouslis Aussagen werden davon erfasst oder keine. Entweder die Widersprüche bleiben - zumindest mit diesem Vorbehalt nicht erklärbar oder alle Aussagen Mouslis vom Hören- Sagen sind zweifelhaft.

Folgt man der zweiten Alternative, muss festgehalten werden, dass praktisch alle Schilderungen hinsichtlich konkreter Tatbeiträge der sogenannten zweiten Berliner Zelle um die Personen "Heiner", "Anton" und "Toni" davon erfasst sind. Nun kann man sich bei den Vor- und Nachbereitungshandlungen noch auf die von der BAW bei dem Anschlag auf die Siegesäule entwickelten Theorie behelfen "personal- und arbeitsintensiv - deswegen waren alle Zellenmitglieder dabei". Bei den konkreten Personen zugeordneten Tatbeiträgen funktioniert dieser Behelf hingegen nicht mehr. Alle Zweifel, die die BAW zugunsten Mouslis zur Erklärung seiner Widersprüche galten, müssen nunmehr jeweils jedes einzelnen konkreten Tatbeitrages gelten.

Dies betrifft vor allem die nach Auffassung der BAW Rädelsführerschaft begründenden Beiträge des "Heiner". Der Kronzeuge sah oder erlebte "Heiner" nach eigener Auskunft kein einziges Mal in Aktion. Alle Erzählungen Mouslis beruhen auf Hören-Sagen, insbesondere die Teilnahme und Beiträge auf den überregionalen Treffen, die Mitwirkungen an Bekennerschreiben und die Vorbereitung der Taten innerhalb der Flüchtlingskampagne.

Bezüglich der von der BAW angenommenen Anfertigung des Brandsatzes im Fluchtauto Auto beim Anschlag Hollenberg durch die Person "Heiner" kann im übrigen jenseits der Hören-Sagen- Stille Post- Problematik mit derselben Berechtigung mit der die BAW die Zeugin von Werder als Schützin bei Hollenberg ausgeschlossen wurde, Heiner als Bauer des Brandsatzes ausgeschlossen werden. Denn wenn Jon sowohl der Schütze der RZ als auch der ausgewiesene Sprengstoff -Fachmann der RZ war, warum hat er dann nicht neben der Schützen- auch die Rolle des Brandsatzbastlers übernommen ?

Noch zweifelhafter sind die Schilderungen Mouslis zum sogenannten Insiderwissen von "Heiner", die die BAW in ihren letzten Erwägungen zur Strafmessung noch in der Weise überhöht, dass sie behauptet, ohne die Insider-Erkenntnisse des Herrn Borgmann hätte es die Anschläge auf die Herren Hollenberg und Korbmacher nicht gegeben.

Noch einmal zur Klarstellung - eingeführt wurde dies in die Hauptverhandlung durch den Lebenslauf und die Vernehmung des Zeugen Kramm von der TU : zur Zeit der sogenannten Flüchtlingskampagne 1986/1987 hat Herr Borgmann in der Allgemeinen Sudienberatung der TU Berlin gearbeitet, erst lange nach den Anschlägen, im September/Oktober 1989 wechselte er in das Akademische Auslandamt der TU. Weit vor den Anschlägen, nämlich 1982-1984, arbeitete er als Studentische Hilfskraft am Akademischen Auslandsamt. - Meinte die BAW ernsthaft diese Tätigkeit, als sie im Plädoyer von der "langjährigen Tätigkeit" des Herrn Borgmann im Ausländerbereich der TU sprachen, bei der er die notwendigen Hintergrundkenntnisse (und den Schlüssel zum Raum im Gebäude am Ernst-Reuter-Platz) erwarb oder haben sie sich wirklich vertan und haben übersehen, dass Borgmann erst nach 1989 wirklich verantwortlich im Akademischen Auslandsamt tätig wurde ? Sei es drum: Es liegt auf der Hand, dass die Tätigkeit 82-84 überhaupt nichts mit Asylantragstellern zu hatte - denen ist nach deutschen Gesetzen bekanntlich verboten, einer sinnvollen Erwerbstätigkeit oder einem Studium nachzugehen - sondern die Hilfe und Betreuung für ausländische Studenten beinhaltete. Mit der ZSA, der Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber, hatte er daher von vornherein beruflich und persönlich ebensowenig zu tun wie mit dem Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Korbmacher. Niemand wird im weiteren behaupten können, dass eine studentische Hilfskraft bei der TU in Angelegenheiten von ausländischen Studenten mit dem damaligen Leiter der Ausländerbehörde Hollenberg zu tun hatte. Es wurde im übrigen weder vom Kronzeugen noch von der Anklagebehörde jemals dargelegt worin die angeblichen Insiderkenntnisse stammten und auf welchem Wege sie ausgerechnet der Angeklagte Borgmann erfahren haben soll. Ein beispielhafter Hinweis : die mögliche Insiderkenntnis, wo der Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Korbmacher wohnte, ergibt sich zwanglos aus einem Telefonbuch der damaligen Zeit, wo der Eintrag

"Korbmacher

- Günter Dr. Bundesrichter 45 Murtener 2"

sowie zwei Telefonnummern zu finden sind. Die berufliche Tätigkeit Dr. Korbmachers lässt sich über eine Vielzahl von Artikel, auch stark kritischen Artikeln, vor allem zu den damaligen Urteilen des BVerwG nachvollziehen, dass Folter nicht generell ein Asylgrund sei und die Tamilen in Sri Lanka nicht als Gruppe verfolgt würden. Diese Informationen liessen sich also zwanglos für den Zeitungs- und Telefonbuchlesers ermitteln, der studentischen Hilfskraft Borgmann im Akademischen Auslandsamt der TU Berlin bedurfte es also nicht dazu.

Der Wert der Topinformation, dass sich hinter dem Ablageort des Sprengsatzes an der ZSA deren zentrale Computeranlage verberge, die laut Mouslis vom Insider "Heiner" stammen sollte, erschliesst sich von selbst - die ZSA hatte keine zentrale Computeranlage, die Informationen waren auf PC gespeichert. Dafür kriegt Mousli für seine ZSA-Aussage im Zeugnis der BAW auch nur ein äusserst dürftiges "Bemühen um die wahrheitsgemässe Aussage" attestiert.

Am deutlichsten wird aber die Problematik der Belastung vom Hören-Sagen durch den Kronzeugen bei dessen Schilderungen zum Anschlag auf die Siegessäule.

Wie dürftig die Beweislage schon zum Zeitpunkt des Erlasses des Haftbefehls und der Anklageerhebung war, demonstrieren die insoweit verwendeten Formulierungen.

Im Haftbefehl des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof heißt es:

"Die konkreten Handlungen des Beschuldigten für die Tat vom 15.01.1991 sind bislang nicht bekannt. Aus der oben dargelegten Gruppenstruktur und den aufwendigen Tatvorbereitungen ist aber zu schließen, dass der Beschuldigten mit anderen "RZ"-Mitgliedern zumindest den Tatort aufgeklärt und den Anschlag abgesichert hat."

Die sich in der Benutzung des Wortes "bislang" ausdrückende Hoffnung des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof erfüllte sich im weiteren Verlauf des Ermittlungsverfahrens nicht. Ohne dass irgendwelche weiteren Erkenntnisse hinzukamen, heißt es in der Anklageschrift vom 30.10.2000:

"Die konkreten Tatbeiträge der Angeschuldigten Glöde, Haug, Borgmann und Ebke für die Tat vom 15.01.1991 sind nicht bekannt. Aus der gemeinsamen Tatplanung, der Gruppenstruktur und den aufwendigen Tatvorbereitungen ist aber zu schließen, dass die genannten Angeschuldigten arbeitsteilig den Tatort aufgeklärt, den Anschlag abgesichert und den Sprengsatz abgelegt haben."

Eine Erklärung dafür, warum bei gleichem Ermittlungsstand dem Angeklagten Borgmann im Haftbefehl zunächst nur die Tatortaufklärung und die Anschlagsabsicherung, in der Anklageschrift aber zusätzlich das Ablegen des Sprengsatzes vorgeworfen wird, bleibt die BAW schuldig. In dem Schlussplädoyer wird als Erklärung für die Annahme der zweiten Variante die Arbeits- und Personalintensität des Anschlages bemüht, ohne dass hierzu in der Beweisaufnahme irgendwelche Feststellungen gemacht wurden und ohne die Möglichkeit der Beteiligung anderer bisher nicht benannter Personen auch nur in Erwägung zu ziehen.

Die Angaben Mouslis zu dem Anschlag erschöpfen sich in den kargen Auskünften, die er bereits am 30.12.1999 gegenüber den Ermittlungsbehörden gemacht hatte. Er habe von "Sebastian"/ Lothar über den Anschlag erfahren. Dieser habe angegeben,

- dass zu der Tür, durch die Besucher das Innere der Siegessäule erreichen können, ein Nachschlüssel gefertigt wurde

- zwei Sprengsätze deponiert worden seien, einer am Bein und einer an einer Stützstange der Figur. Einer der Sprengsätze soll nicht gezündet haben, die Figur deswegen stehengeblieben sein.

In der Hauptverhandlung vom 3.1.2002 schilderte er als weiteres Detail, das er von Lothar/Sebastian als Täterwissen erfahren habe, dass

- die Täter über einen unterirdischen Zugang zur Siegessäule gelangt seien.

Soweit also das von Mouslis aus erster Hand erfahrene Täterwissen.

Die in der Hauptverhandlung verlesenen Zeitungsartikel der gängigen Berliner Zeitungen ergaben, dass sowohl die Tatsache der Verwendung eines Nachschlüssels (in der Bild-Zeitung vom 17.01.1991) als auch der Ablageort eines der Sprengsätze, nämlich am Stützpfeiler der Figur (Bild, Taz, Welt vom 17.01.1991) und noch detaillierter in der Berliner Morgenpost vom !9.01.1991 die Tatsache, dass zwei Sprengsätze von jeweils drei Kilo an der Figur angebracht und eine zu früh gezündet und daher die andere vom Sockel gesprengt habe.

Die ersten beiden von Mouslis geschilderten Tatsachen, die sein Täterwissen belegen sollen, konnten daher mühelos aus Zeitungswissen stammen.

Dazu passt im übrigen Mouslis eigene Ausage in der polizeilichen Vernehmung vom 29.3.2003 (Bd. 19, Bl. 1001ff., 1007), dass er nach seinem "Ausscheiden aus der RZ" in der Zeitung gelesen habe, dass ein Sprengstoffanschlag auf die Siegessäule in Berlin durch die RZ stattgefunden habe.

Die dritte als einzige über das Zeitungswissen hinausgehende Tatsache, nämlich dass die Täter über einen unterirdischen Zugang zur Siegessäule gelangt seien, erwies sich in der Hauptverhandlung als unzutreffend oder zumindest äusserst unwahrscheinlich. Denn wie die Zeugen Kalass und Hofmann ausgeführt hatten, gibt es zwar einen unterirdischen Zugang zu der Verkehrsinsel, auf der die Siegessäule steht, nicht aber zur Siegessäule selbst. Selbst wenn man die semantischen Verrenkungen der BAW mitmachen will, Mouslis habe entgegen des klaren Wortlautes seiner Äusserungen nicht den Zugang zum Monument selbst, sondern den Zugang zwischen der Verkehrsinsel und zwei am Rande des Kreisverkehrs gelegenen Tunnelhäuschen gemeint, entbehrt diese Deutung jedweder Rationalität, weil nämlich beide Zeugen ausgeführt hatten, dass die Türen der Tunnelhäuschen und damit der Zugang zum Fussgängertunnel nachts von einer Sicherheitsfima verschlossen wurden. Die Tätergruppe hätte somit sowohl einen Nachschlüssel für die Schließanlage der Fußgängertunnel als auch einen Nachschlüssel für die Siegessäule selbst machen müssen. Abgesehen davon, dass diese Deutung mit dem klaren Wortlaut von Mouslis Aussage nicht vereinbar wäre, würde es auch keinen Sinn machen, für diesen Fußgängertunnel Nachschlüssel zu besorgen. Denn die Verkehrsinsel mit der Siegessäule ist nachts unproblematisch zu Fuß dadurch erreichbar, dass man den Kreisverkehr überquert.

Eine weitere relevante Einschränkung seiner eigenen Aussagen mit den unbedingten Belastungen gegen die Personen mit dem Decknamen Sigi, Anton, Sebastian und Heiner ergab sich im übrigen auch aus Mouslis Befragung in der Hauptverhandlung durch den Vortragenden. Mousli wurde auf die gegen ihn selbst gerichtete Hauptverhandlung vor dem 2. Strafsenat des Kammergerichts angesprochen. Da der Inhalt seiner Äusserungen in dem dortigen Verfahren zu diesem Zeitpunkt nicht ordentlich in das hiesige Verfahren eingeführt wordeb war, fragte ihn der Vortragende, ob es sein könne, dass er in der gegen sich gerichteten Hauptverhandlung zu der Beteiligung der Personen mit dem Decknamen Heiner und Anton an dem Siegesäulenanschlage gesagt habe, dass er glaube, sie seien an dem Anschlag beteiligt gewesen. Mousli hatte zwar keine konkrete Erinnerung mehr an diesen Vorgang, bekundete jedoch, dass seine Aussage so gelautet haben könnte. Damit schränkt er selbst den Grad der Belastung gegen diese beiden Personen erheblich ein.

Im Prinzip sollte allerdings zu den gesamten Tatvorwürfen nach 1990 ff. der eine Satz genügen, den ein - zumindest in diesem Moment - rechtsstaatlich gesonnenes Gericht, das Landgericht Frankfurt am Main im Schindler- Verfahren in seinen Beschluss, Bd. 121, Bl. 76 hineinschrieb:

" Entgegen der Meinung der Staatsanwaltschaft genügt nicht das Fehlen von Anhaltspunkten für einen Ausstieg aus der Terrororganisation für die Annahme einer fortdauernden Mitgliedschaft, sondern es muss umgekehrt nach rechtstaatlichen Maßstäben Anhaltspunkte für eine Fortdauer der Mitgliedschaft geben, sonst würde einem Angeklagten zugemutet werden, den Beweis für seinen Ausstieg zu erbringen."

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http://www.freilassung.de/prozess/ra/181203a.htm