Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte
Europarat
F 67075 Strasbourg Cedex
Berlin, den 16.08.2002
Beschwerde nach Artikel 25 EMRK
des Herrn
Matthias Borgmann,
Friesenstraße 14, D-10965 Berlin,
Beschwerdeführer,
Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck,
Immanuelkirchstraße 3/4, D-10405 Berlin,
gegen
die Bundesrepublik Deutschland,
Beschwerdegegnerin,
wegen Verstoßes gegen Artikel 5 und 6 EMRK.
Namens und in Vollmacht des Beschwerdeführers - Vollmacht
liegt als Anlage 1 bei - erhebe ich Beschwerde nach Artikel 25 EMRK
gegen die Bundesrepublik Deutschland mit folgenden Anträgen:
1.) Es wird festgestellt, dass die Bundesrepublik Deutschland
Artikel 5 Abs. 1 c), Abs. 3 und 4 sowie 6 Abs. 1, Abs. 2 und Abs.
3 c) EMRK verletzt hat.
2.) Dem Beschwerdeführer ist eine angemessene Entschädigung
zuzusprechen.
3) Der Fall ist gemäß Artikel 41 der Verfahrensordnung
mit Vorrang zu behandeln.
Die Beschwerde richtet sich folgende Beschwerdegegenstände:
1.) gegen den Beschluss des Kammergerichts Berlin vom 25.09.2001
- 1 4/02 (Anlage 2),
2.) gegen den Beschluss des Bundesgerichtshofes vom 20.12.2000-
2 StE 11/00 (Anlage 3),
3.) gegen den Beschluss des 1. Strafsenats des Kammergerichts Berlin
vom 25.01.2001 - 4/00 (Anlage 4),
4.) gegen den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 04.03.2002
- 2 BvR 189/02 (Anlage 5).
Begründung:
Der Beschwerdeführer ist der Mitgliedschaft in einer terroristischen
Vereinigung beschuldigt. Mit der vorliegenden Beschwerde wendet
er sich gegen die vom 19.04.2000 bis 12.02.2002 gegen ihn angeordnete
Untersuchungshaft. Er rügt sowohl die Dauer der Untersuchungshaft
als auch die mangelhafte Begründung durch die mit seinen Haftbeschwerden
befassten Gerichte. Insbesondere rügt er, dass der dringende
Tatverdacht gegen ihn ausschließlich mit der zweifelhaften
Aussage eines Kronzeugen begründet wurde.
I. Sachverhalt
1.) Person des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer wurde am 19.11.1948 in Berlin geboren.
Bis zu seiner Inhaftierung am 19.04.2000 war er als Leiter des akademischen
Auslandsamtes der Technischen Universität Berlin tätig.
Aufgrund seiner Inhaftierung wurde er durch seinen Arbeitgeber fristlos
gekündigt. Am 12.02.2002 wurde er unter Auflagen aus der Untersuchungshaft
entlassen. Danach absolvierte er zunächst ein Praktikum und
ist Sommer 2002 im Kulturmanagement festangestellt.
2.) Sachverhalt
1.) Der Beschwerdeführer wurde am 19.04.2000 aufgrund des
Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 17.03.2000
in Untersuchungshaft genommen. Ihm wird vorgeworfen, sich gemeinsam
mit anderen Personen als Berliner Revolutionären Zellen (RZ)
innerhalb einer terroristischen Vereinigung gemäß § 129
a StGB betätigt zu haben. Er soll an dem Schusswaffenanschlag
auf den Leiter der Berliner Ausländerbehörde am 28.09.1986,
dem Sprengstoffanschlag auf das Gebäude der Zentralen Sozialhilfestelle
für Asylbewerber (ZSA) am 05./06.02.1987, am Schusswaffenanschlag
auf den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Korbmacher
am 01.09.1987 sowie am Sprengstoffanschlag auf die Siegessäule
am 15.01.1991 beteiligt gewesen sein. Darüber hinaus soll er
sich bis in das Jahr 1995 innerhalb der RZ mitgliedschaftlich betätigt
haben. Der dringende Tatverdacht beruht auf den Angaben eines Kronzeugen
des mittlerweile Verurteilten Ex-Mitgliedes der RZ, Tarek Mousli.
Der Haftbefehl des Ermittlungsrichters wird in Kopie als Anlage
6 beigefügt.
2.) Der Beschwerdeführer setzte sich seit Beginn der Untersuchungshaft
gegen diese zur Wehr. Es bestand von Anfang an weder der Haftgrund
der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO noch der
besondere Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO.
Die im Haftbefehl aufgeführten Anschläge liegen 11, 15,
und 16 Jahre zurück. Die unstreitig als Körperverletzungsdelikte
einzuordnenden Schusswaffenanschläge sind als solche verjährt
und nur im Rahmen des politischen Organisationsdeliktes des § 129
a StGB zu berücksichtigen. Im Falle der Siegessäule 1991
war es von vornherein nur beim Versuch geblieben, ein Schaden ist
nicht eingetreten. Im Falle der ZSA 1987 ist lediglich ein geringer
Sachschaden in Form eines 30 bis 40 cm großen Loches der Außenmauer
des Gebäudes entstanden. Bei beiden Taten war es von vornherein
ausgeschlossen, dass Menschen zu Schaden kommen.
Die Organisation der Berliner Revolutionären Zellen hat sich
selbst nach Auffassung der Bundesanwaltschaft spätestens 1995,
also vor mindestens sieben Jahren aus eigenen Stücken aufgelöst.
Der Beschwerdeführer soll vor mindestens sieben Jahren sich
dort zuletzt mitgliedschaftlich betätigt haben. Der Beschwerdeführer
ist nicht vorbestraft und auch seit 1995 in keiner Weise strafrechtlich
aufgefallen. Deswegen war von vornherein von der Verteidigung des
Beschwerdeführers vorgetragen worden, dass selbst im Falle
einer Verurteilung die Straferwartung beim Beschwerdeführer
eine Untersuchungshaft nicht rechtfertige. Dies wurde im nachhinein
durch eine Absprache zwischen dem Gericht, der Bundesanwaltschaft
und der Verteidigung des Hauptangeklagten Schindler bestätigt.
Dem Angeklagten Schindler wurde schriftlich durch Protokollierung
in der Hauptverhandlung vom 18.01.2002 eine Strafobergrenze von
drei Jahren und neun Monaten zugesagt.
Auch die persönliche, familiäre und berufliche Situation
des Beschwerdeführers sprach und spricht eindeutig gegen die
Annahme einer Fluchtgefahr. Dazu heißt es im Haftbeschwerdeschriftsatz
seines Verteidigers vom 05.06.200:
"Die persönliche und berufliche Situation des Beschuldigten
Matthias Borgmann ist u.a. durch seine eigenen Ausführungen
im Anhörungstermin vor dem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs
vom 19.04.2000 in Berlin bekannt. Er lebt in einer glücklichen
und funktionierenden Ehe mit seiner Ehefrau. Im gemeinsamen Haushalt
der Ehegatten lebt ebenfalls der Sohn der Ehefrau aus einer früheren
Ehe, Jan Herkenrath, der 17 Jahre alt ist. Nicht zuletzt aus der
Überwachung des Briefverkehrs und aus den bisher stattgefundenen,
vom BKA überwachten Besuchen dürfte zu erkennen sein,
dass Herr Borgmann ein sehr inniges Verhältnis sowohl zu seiner
Ehefrau als auch zu ihrem Sohn Jan hat. Jan geht derzeit in Berlin
zur Schule.
Daneben hat er noch eine nichteheliche Tochter, die mittlerweile
25 Jahre alt ist. Diese studiert in England und finanziert ihr Studium
durch den gemeinsam aufgebrachten Unterhalt ihrer Mutter und des
Herrn Borgmann.
Herr Borgmann ist seit 1984 Angestellter der Technischen Universität
Berlin. Seit 1992 ist er Leiter des Akademischen Auslandsamtes.
Er bezieht Gehalt nach BAT 1 b. Aufgrund des lange andauernden Beschäftigungsverhältnisses
befand er sich praktisch in nicht kündbarer Stellung. Aufgrund
des vorliegenden Strafverfahrens hat die TU Berlin ihm gegenüber
die fristlose Kündigung ausgesprochen, Herr Borgmann hat deswegen
Klage beim Arbeitsgericht Berlin eingereicht. Ein Termin zur Verhandlung
ist dort noch nicht bekannt.
Daneben hat der Beschuldigte ein gutes familiäres Verhältnis
sowohl zu seiner in Süddeutschland lebenden 83jährigen
Mutter als auch zu seinen im Rheinland lebenden Schwiegereltern
und dem Rest seiner Familie. Es bleibt also festzuhalten, dass er
in persönlicher, familiärer, beruflicher und sonstiger
Hinsicht ohne Abstriche in geordneten und integrierten Verhältnissen
lebt.
Deswegen war er auch zu keinem Zeitpunkt auf die Idee gekommen,
sich dem Strafverfahren durch Flucht zu entziehen. Auch nach der
erneuten Festnahme von Tarek Mousli und der Hausdurchsuchung bei
Axel Haug am 23.11.1999 und erst recht nach den Festnahmen von Axel
Haug und Harald Glöde sowie der Durchsuchung des Mehringhofes
am 18.12.1999 verblieb er in Berlin. Dabei hätte ihm, unterstellt
er sei das von Mousli beschriebene RZ-Mitglied mit dem Decknamen
"Heiner" und er habe die ihm zur Last gelegten Taten begangen
und dabei von der Existenz Mouslis in der anderen Zelle ebenso gewusst
wie dieser von der Existenz "Heiners" und der Spaziergang
1989/1990 habe stattgefunden, wissen müssen, dass ihm ebenso
wie den beiden zuvor genannten Beschuldigten die Strafverfolgung
und auch ein Haftbefehl droht. Das gesamte Verfahren war von Anfang
an, insbesondere seit den Verhaftungen am 19.12.1999, Gegenstand
zahlreicher Zeitungs- und Szeneveröffentlichungen. Der Beschuldigte
war sogar nach diesen Ereignissen noch mehrfach im Ausland und ist
wieder nach Berlin zurückgekehrt. Wäre er "Heiner"
und hätte er die ihm zur Last gelegten Taten begangen, hätte
er dies wohl kaum getan.
Wie schon bei Haftbefehlsverkündung am 19.04.2000 vor dem
Bundesrichter Dr. Wolst wird auch jetzt die Stellung einer Sicherheitsleistung
für den Beschuldigten Borgmann angeboten. Die Familie, zu der
wie oben ausgeführt ein ausgezeichnetes Verhältnis besteht,
könnte einen Betrag zwischen 300-500.000 DM Kaution aufbringen.
Die Auflage der Stellung einer derartigen Sicherheitsleistung wäre
neben Meldeauflagen und Abgabe des Reisepasses geeignet, eine Fluchtgefahr
auszuräumen.
Dabei ist zu bedenken, dass der Beschuldigte Borgmann schon
immer seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland, in Berlin hatte.
Freunde und Verwandte, Ehefrau und Ziehsohn leben hier, er hat bis
zu seiner Inhaftierung hier gewohnt und gearbeitet. Er wird dieses
Jahr 52 Jahre alt und wäre daher auch vom Alter her nicht mehr
in der Lage, sein leben in Deutschland aufzugeben und sich dem Verfahren
durch Flucht ins Ausland zu entziehen. Im übrigen wäre
er sich von vorneherein bewusst, nicht zuletzt der Fall der Inhaftierung
des Mitbeschuldigten Ebke hat ihm dies vor Augen geführt, dass
er wohl in keinem Fluchtland sicher vor dem Zugriff bundesdeutscher
Strafverfolgungsbehörden wäre. Er weiß, dass es
keine Alternative dazu gibt, sich dem gegen ihn geführten Strafverfahren
zu stellen. Er ist mit seiner Verteidigung aber der Auffassung,
dass sachliche Gründe es nicht rechtfertigen, ihn bis zum Ausgang
des Verfahrens in Untersuchungshaft zu belassen."
Der Beschwerdeführer hat sich seit seiner Inhaftierung dagegen
gewandt, dass der dringende Tatverdacht gegen ihn einzig und allein
auf den Aussagen des Kronzeugen Tarek Mousli begründete.
Dazu wird in dem schon zitierten Schriftsatz vom 05.06.2000 ausgeführt:
"Der Grundsatz auf ein faires Verfahren, der sowohl aus
dem Rechtsstaatsprinzip des Artikels 20 GG als auch aus Artikel
6 der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie aus Artikel
14 des Internationalen Pakts für bürgerliche und politische
Rechte folgt, ist in mehrfacher Weise verletzt.
Hier wird ein Haftbefehl gegen einen strafrechtlich bisher nicht
belasteten 51jährigen Familienvater vollstreckt, der einzig
und allein ausschließlich auf den Aussagen eines Mitbeschuldigten
beruht. Andere Beweismittel liegen nicht vor. Es ist auch nicht
zu erwarten, dass andere Beweismittel vorgelegt werden können,
da die Ermittlungen in allen dem Beschuldigten Borgmann zur Last
gelegten Fällen bereits abgeschlossen waren.
Wie den ersten Aussagen des Beschuldigten Mousli zu entnehmen
ist, wurde er offensichtlich über die Regelungen des Kronzeugengesetzes
belehrt und er scheint zumindest einen Teil der Aussagen in Erwartung
der Anwendung dieses Gesetzes gemacht zu haben.
.
Jedenfalls scheint der Mitbeschuldigte Mousli, ohne dass nachvollziehbar
wäre, ob und in welchem Umfang er in den Genuss der Kronzeugenregelung
kommt, ein sogenannter Kronzeuge zu sein.
Das Modell Kronzeuge wurde und wird in Rechtsprechung und mehr
noch in der Literatur kritisch diskutiert, ohne dass sich in der
bundesdeutschen Diskussion die Position hätte durchsetzen können,
dass eine Verurteilung allein aufgrund der Aussagen eines Kronzeugen
mit rechtstaatlichen Prinzipien nicht vereinbar wäre. Dies
ist schon deswegen bedauerlich, weil in anderen Ländern Erfahrungen
mit Kronzeugen, Staatszeugen ("state's witness"), Supersingvögeln
("supergras"), Reuigen ("pentiti") oder wie
man sie auch immer nennen mag gemacht wurden, die diese Konsequenz
nahe legen würden. Beachtenswert scheint dabei insbesondere
das nordirische Beispiel zu sein. Dort kam der in 2. Instanz mit
dem Problem befasste Court of Appeal in einer Reihe von Terrorismusverfahren
in den 80er Jahren zu dem Schluss, "ein supergrass habe einen
dermaßen starken Anreiz zur Lüge, dass man in Ermangelung
der Bestätigung seiner Aussagen durch weitere Beweismittel
-also corrobation- den Wahrheitsgehalt dieser Aussagen nicht mit
dem Grad an Sicherheit feststellen könne, der in einem rechtstaatlichen
Strafverfahren für eine Verurteilung erforderlich sei"
(so die Zusammenfassung von Mark Denny in ZstW 103(1991) S.269ff.,
S.298). In den USA gilt deswegen das corrobation-Prinzip, das also
bei einer Verurteilung weitere Beweismittel zur Aussage des Kronzeugen
hinzutreten müssen. (vgl. nur Florian Jeßberger, Kooperation
und Strafzumessung, Köln 1999, S. 153ff mit vielen weiteren
Nachweisen.)
Hintergrund dieser angloamerikanischen Umgangsweise mit Kronzeugen
ist ein in langer rechtstaatlicher Tradition gereiftes Bewusstsein
darüber, dass Kronzeugen nicht nur viele Gründe, sondern
auch viele Möglichkeiten zu einer Falschaussage haben. "Kaum
lösbares Paradoxon des Modells Kronzeuge ist, dass der besonderen
Aufklärungseignung des Kronzeugen eine besondere Disposition
zur Falschaussage korrespondiert. Gerade seine besondere Nähe
zum Tatgeschehen - Garantie für die Menge aufklärungsrelevanten
Wissens - bedingt eine für die Glaubhaftigkeit seiner Aussage
unheilvolle Konstellation aus eigener Tatverstrickung und damit
verbundener Tendenz zur Bagatellisierung des eigenen Tatbeitrags
und detaillierter, weil selbst erlebter Kenntnis der Tatumstände
und damit täuschend realitätsnahen Manipulationsmöglichkeiten
durch den einfachen Austausch einzelner Sachverhaltselemente, bspw.
die Umverteilung der Tatbeiträge. Der vom Kronzeuge angestrebte
Vorteil - Straflosigkeit für bisweilen schwerste Straftaten
- ist kaum zu übertreffen, der Kronzeuge hat also allen Grund
zur Lüge. Zudem ist Detailreichtum gerade ein Indiz für
die Glaubhaftigkeit einer Aussage, der Kronzeuge ist mithin ein
besonders guter Lügner. Zusätzlich - und das unterscheidet
den Kronzeugen vom gewöhnlichen mitbeschuldigten Zeugen - trifft
ihn eine besondere von den Strafverfolgungsbehörden an ihn
herangetragene oder (vorauseilend) selbst produzierte Erwartungshaltung,
er steht unter Erfolgsdruck, denn nur wenn er in der gewünschten
Weise aussagt oder sogar seine Aussage das gewünschte Ergebnis
hat, darf er ernsthaft auf die Gewährung der Vergünstigung
hoffen. Der Kronzeuge hat also ein doppeltes Eigeninteresse."
(Zitat aus Florian Jeßberger, a.a.O., S. 127f.)
Es mag sein, dass im Schrifttum und auch in der Rechtsprechung
nur wenige die Konsequenz aus den obigen sicherlich von vielen geteilten
Bedenken ziehen und vielmehr von den meisten Kommentatoren auf das
dem deutschen Strafprozessrecht innewohnenden Prinzip der freien
Beweiswürdigung verwiesen wird, mit dem sich feste Beweisregeln
nicht vertragen würden. Unstrittig ist jedoch in Literatur
und Rechtsprechung, dass eine angemessene und sorgfältige Überprüfung
der Angaben des Kronzeugen vorzunehmen ist.
Der Mitbeschuldigte Mousli befindet sich in Obhut der Ermittlungsbehörden.
Von diesen wird er seit dem 23.11.1999 fast ununterbrochen, teilweise
täglich vernommen. Genauer gesagt wird er nicht nur vernommen,
denn ihm werden nicht nur Vorhalte aus den Ermittlungsakten gemacht,
sondern seine eigenen Aussagen zu bestimmten Personen und Sachverhaltskomplexen
werden ständig zusammengefasst. Ihm wird immer wieder Gelegenheit
gegeben, Widersprüche zu eigenen früheren Aussagen "klarzustellen"
oder Widersprüche zu den sonstigen Erkenntnissen der Ermittlungsbehörden
zu "erklären". Von hier aus kann nicht nachvollzogen
werden, wie lange noch auf diese Art und Weise mit dem Mitbeschuldigten
Mousli gearbeitet werden soll. Eines jedenfalls zeichnet sich jetzt
schon ab: Die Verteidigung wird frühestens in einer eventuellen
Hauptverhandlung die Möglichkeit haben, Fragen und Vorhalte
machen zu können, wenn Herr Mousli gemeinsam mit den ihn vernehmenden
Beamten mehrere Monate lang und mehrere Leitzordner voll Aussagen
produziert haben wird. In der Hauptverhandlung wird dann nur noch
das Ergebnis dieser monatelangen Arbeit im Vorverfahren nachvollzogen.
Diese Verfahrensweise ist weder mit dem fair-trial-Prinzip der
Verfassung und der EMRK noch mit den Prinzipien der StPO der Mündlichkeit
und Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme vereinbar.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass es neben den allgemeinen
Einwänden gegen die Glaubwürdigkeit von Kronzeugen im
vorliegenden Fall zumindest bezüglich der Beschuldigungen des
Mitbeschuldigten Mousli gegen Herrn Borgmann zahlreiche schwerwiegende
Bedenken gibt.
Die Vorgänge über die der Beschuldigte Mousli berichtet,
liegen teilweise bis zu 15 Jahre zurück. Schon insoweit ist
das Erinnerungsvermögen des Mitbeschuldigten begrenzt. Schon
aus den bisher vorliegenden Aussageteilen geht hervor, dass der
Zeuge sich an vielen Stellen widersprochen hat und ihm deswegen
von den Vernehmungsführern bei zahlreichen Gelegenheiten Vorhalte
gemacht werden, um die Widersprüche auszuräumen.
Er hat beispielsweise die Beteiligung des Lothar Ebke anfangs
verschwiegen und bezeichnenderweise einen Tag vor Ablauf der Kronzeugenregelung,
in seiner Vernehmung vom 30.12.1999 korrigiert. Dort allerdings
gab er dann als Grund für sein wechselndes Aussageverhalten
die Sicherheit seiner Freundin an. Ebenso bewertet er die Rolle
des Mitbeschuldigten Axel Haug mit zunehmenden Verlauf der Vernehmungen
höchst unterschiedlich. Er wird mit zunehmendem Verlauf der
Vernehmungen sicherer, wo er anfangs noch Zweifel ("glaube
ich", "vermute ich") ausdrückte.
Dieses Aussageverhalten weist darauf hin, dass die oben geschilderten
abstrakten Möglichkeiten eines Kronzeugen, der in ein bestimmtes
Geschehen verwickelt ist, Tatbeiträge und Tatbeteiligte so
zu schildern und die abstrakte Gefahr, dass die Justiz sich irreführen
läßt und dies dann nachprüfbar sein wird, sich im
Falle des Mitbeschuldigten Mousli bereits realisiert zu haben.
Noch schwerer wiegt neben einem derartigen Zeitablauf und den
jetzt schon aufgetretenen Widersprüchen und wechselnden Einlassungen
die Tatsache, dass er über das mutmaßliche RZ-Mitglied
mit dem Decknamen "Heiner" und vor allem über dessen
konkrete Tatbeteiligungen praktisch nur Aussagen vom Hören-Sagen
machen kann. Bei einer derartigen Belastung käme es in besonderer
Art und Weise auf das genaue Erinnerungsvermögen und auf alle
Details an, die ein Zeuge nach einer derartig langen Zeit schlechthin
nicht behalten kann.
Der Beschuldigte Mousli kann mithin über Heiner praktisch
nur vom Hören-Sagen berichten. Denkbar dünn ist der Verdacht
beim Anschlag 15.01.1991 auf die Siegessäule, wo selbst aus
den Aussagen des Beschuldigten Mousli keine einzige konkrete Handlung
des Beschuldigten hervorgeht und lediglich aus der Gruppenstruktur
und den Tatvorbereitungen zu schließen ist, dass das mutmaßliche
Mitglied mit dem Decknamen Heiner zumindestens den Tatort aufgeklärt
und den Anschlag abgesichert habe. Ein Mitbeschuldigter, der selber
zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr Mitglied der Vereinigung gewesen
sein will, berichtet also aufgrund teilweise mehrere Jahre nach
den Vorgängen gemachten angeblichen Bemerkungen über die
Teilnahme von Heiner. Eine derartig vage Belastung kann schlechterdings
nicht zur Begründung eines dringenden Tatverdachtes ausreichen.
2. Denn weder ist ausgeschlossen, dass der Mitbeschuldigte Mousli
irrt oder bewusst die Unwahrheit noch kann für den Fall, dass
er wahrheitsgemäß berichtet, ausgeschlossen werden, dass
die von Mousli Angesprochenen falsche Angaben über die damaligen
Mitbeteiligten machten, um auch diesen unbekannten Dritten zu schützen
oder einfach um nicht alle Karten auf den Tisch zu legen.
Zuletzt sei in diesem Zusammenhang noch angemerkt, was auch
die Ermittlungsbehörden mittlerweile herausgefunden haben dürften:
Zur Zeit der Anschläge 1986 und 1987 war der Beschuldigte Borgmann
in keiner Weise besonders qualifiziert, um Hintergrundinformationen
zu den Anschlägen zu beschaffen. Er hatte auch durch seine
damalige Arbeitstätigkeit keinen privilegierten Zugang zu solchen
Informationen. Er war nämlich zu diesem Zeitpunkt nicht irgendwo
"im Ausländerbereich" der TU tätig. Vielmehr
hatte er nach dem Abschluss der Hochschulausbildung zum Berufsschullehrer
für Elektrotechnik begonnen, als Wissenschaftsangestellter
in der allgemeinen Studienberatung der TU Berlin für Ingenieurstudiengänge
zu arbeiten. Er beriet u. a. Schüler, die sich die genannten
Studiengänge interessierten und Studenten, die Schwierigkeiten
mit dem Studium hatten. Ausländer waren nicht Ziel der Studienberatung,
da sie durch eine spezielle Studienberatung betreut wurden. Erst
lange Zeit nach der Anschläge 1986/1987, nämlich im Oktober
1989 wechselte Herr Borgmann in das Ausländeramt der TU Berlin.
3.) Am 30. Oktober 2000 klagte die Bundesanwaltschaft den Beschwerdeführer
wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und zweimaligen
Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion an. Der Anklagesatz
wird als Anlage 7 in Kopie beigefügt.
Am 22.03.2001 begann die bis heute andauernde Hauptverhandlung
vor dem 1. Strafsenat des Kammergerichts Berlin. Zu Beginn der Hauptverhandlung
beantragte der Unterzeichner die Einstellung des Verfahrens wegen
eines nicht behebbaren Verfahrenshindernisses gemäß §
260 Abs. 3 StPO. Die Beweiserhebung habe bereits im Vorverfahren
und damit nicht im kontradiktorischen Verfahren stattgefunden. Der
Umgang mit dem Kronzeugen verletze darüber hinaus die Waffengleichheit
der Verfahrensbeteiligten. Damit sei insgesamt der Fair-Trial- Grundsatz
der deutschen Strafprozessordnung, der deutschen Verfassung und
der EMRK verletzt. Der Einstellungsantrag wird in Kopie als Anlage
8 beigefügt.
4) Aufgrund verschiedener Umstände kam es während der
laufenden Hauptverhandlung immer wieder zu Verzögerungen, die
nachfolgend geschildert werden und für die sämtlichst
gilt, dass sie von dem Beschwerdeführer und seinen Mitangeklagten
nicht zu vertreten waren. Es wurde zunächst an vier Tagen verhandelt,
vom 22.03.2001 bis zum 12.04.2001, dann wurde die Hauptverhandlung
für 2 Monate bis zum 17.05.2001 ausgesetzt, weil das Verfahren
des Beschwerdeführers mit einem gegen den nunmehrigen Mitangeklagten
Rudolf Schindler geführten Strafverfahren verbunden wurde.
Die Verteidigung führte zur Haftfrage in diesem Zusammenhang
im Schriftsatz vom 11.04.2001 aus:
Im Gegensatz zu den mündlichen Ausführungen der Bundesanwaltschaft
in der Hauptverhandlung vom 05.04.2001 ist die Verteidigung allerdings
der Auffassung, dass sich mit einer Verbindung des Verfahrens die
Sachlage noch einmal grundlegend geändert hat....
Die Bundesanwaltschaft versäumte es, den gesondert Verfolgten
Rudolf Schindler gemeinsam mit den hiesigen vier Angeklagten - Anklageschrift
vom 30.10.2000 - anzuklagen. Dies wäre ohne weiteres möglich
gewesen. Das Verfahren hätte zu einem späteren Zeitpunkt
eingestellt werden können, wenn absehbar gewesen wäre,
dass eine Verurteilung in Frankfurt am Main erfolgen wird. Stattdessen
hat man ... bis zum Ende gepokert und versucht, die verschiedenen
Gerichte gegeneinander auszuspielen. Erst als der Freispruch gegen
durch das Landgericht Frankfurt am Main erfolgte, wurde Rudolf Schindler
angeklagt.
Dies alles geschah bei voller Kenntnis des Sachverhalts auf
Seiten der Bundesanwaltschaft seit Frühsommer 2000. Dabei tut
es nichts zur Sache, dass dem 1. Strafsenat diese Verzögerungen
des Verfahrens nicht vorzuwerfen sind. Jedenfalls die Angeklagten
haben eine weitere Verzögerung der Hauptverhandlung nicht zu
vertreten. Im Endeffekt geht es auch nicht nur um einen Monat, den
das Verfahren jetzt ausgesetzt werden müsste. Es geht vielmehr
darum, dass die Hauptverhandlung von vorne beginnen müsste
und letztlich also zwei Monate für die Angeklagten verloren
sind. Wenn die Untersuchungshaft in den Augen des Senats vorher
vertretbar und verhältnismäßig war, so ist sie es
jetzt in keinem Falle mehr.
Das Kammergericht setzt sich über diese Bedenken hinweg, wie
aus dem als Anlage 8 beigefügten Beschluss vom 12.04.2001 hervorgeht.
Der Bundesgerichtshof verwirft die dagegen gerichtete Beschwerde
(Anlage 9) durch Beschluss vom 23. Mai 2001 (Anlage 10).
Am 17.05.2001 kam es zum Neubeginn der Hauptverhandlung. Vom 20.07.2001
bis zum 17.08.2001 war eine Sommerpause angesetzt. Am 17.08.2001
wurde das Verfahren fortgesetzt. Nach der Sommerpause kam es zu
weiteren enormen Verzögerungen, die im einzelnen der Beschwerdeschrift
vom 29.10.2001 zu entnehmen sind. Es tauchten elf Stehordner zusätzliches
Aktenmaterial sowie knapp 1.000 Kassetten von Telefonüberwachungsmaßnahmen
auf, die zuvor von der Bundesanwaltschaft und vom Bundeskriminalamt
verschwiegen und der Verteidigung vorenthalten worden waren. Dies
führt zu zahlreichen Anträgen und prozessualen Auseinandersetzungen
innerhalb der Hauptverhandlung.
Im Schriftsatz der Verteidigung vom 29.09.2001 (als Anlage 11 beigefügt)
heißt es dazu:
"Um den Sachverhalt kurz zusammenzufassen: Erst während
der laufenden Hauptverhandlung erfuhr die Verteidigung von der Existenz
weiterer Protokolle von Telefonüberwachungen diverser Anschlüsse
des Kronzeugen Mousli sowie mit ihm in Kontakt stehender Personen
für die Zeit vom November 1998 bis Mai 1999. So wurden der
Verteidigung Ende August 2001 insgesamt elf Stehordner mit Telefonüberwachungs-protokollen
von der Generalbundesanwaltschaft nachgereicht. Aufgrund der sich
aus den nachgereichten Ordnern ergebenen Erkenntnissen beantragte
die Verteidigung des Angeklagten Glöde in der Hauptverhandlung
vom 13.09.2001 Akteneinsicht in sämtliche TÜ-Protokolle
der ab dem 07.09.1999 durchgeführten TÜ-Maßnahmen
und der dazugehörenden 955 Kassetten. Dabei ist hervorzuheben,
dass die Verteidigung bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal
Kenntnis von den entsprechenden Anträgen der Bundesanwaltschaft
und den Beschlüssen des Bundesgerichtshofs zur Überwachung
der Anschlüsse des Mousli sowie der mit ihm verbundenen weiteren
überwachten Person hatte. Aufgrund des Umfanges des erst während
der Hauptverhandlung bekannt gewordenen Materials beantragte die
Verteidigung die Aussetzung des Verfahrens. Die rechtlichen und
tatsächlichen Probleme des neu aufgetauchten Beweismaterials
nahm weite Teile der nach dem 13.09.2001 durchgeführten Beweisaufnahme
in Anspruch. Vor allem wich der Senat ab dem 27.09.2001 von seinem
ursprünglichen Vorhaben, zunächst die Entstehungsgeschichte
der Aussage des Kronzeugen Mousli in der Hauptverhandlung nachzuvollziehen
und sodann den Mousli zu allen relevanten Verfahrenskomplexen zu
vernehmen, um dann der Verteidigung Gelegenheit zu Fragen zu geben,
ab."
Erst am 03.01.2002 konnte der Zeuge Mousli erneut in der Hauptverhandlung
vernommen werden. Innerhalb von fünf Hauptverhandlungstagen
hatte erstmals die Verteidigung Gelegenheit zur zusammenhängenden
Befragung des Zeugen Mousli, bevor am 25.01.2002 die Hauptverhandlung
aufgrund der Erkrankung eines der Richter, erneut bis zum 15.02.2002
ausgesetzt wurde.
5.) Aufgrund der geschilderten prozessualen Ereignisse und Verzögerungen
des Verfahrens hatte die Verteidigung des Beschwerdeführers
in der laufenden Hauptverhandlung mehrfach beantragt, den Haftbefehl
gegen den Beschwerdeführer aufzuheben, ihn hilfsweise gegen
geeignete Auflagen außer Vollzug zu setzen. Es erging der
angefochtene Haftfortdauerbeschluss des Kammergerichts Berlin vom
25.09.2001. Der Beschwerdeführer legte dagegen Beschwerde mit
Schriftsatz vom 29.10.2001 ein, die als Anlage 12 in Kopie beigefügt
wird. Diese wurde durch den angefochtenen Beschluss des Bundesgerichtshofes
vom 20.12.2001 verworfen. Gegen diesen Beschluss legte der Beschwerdeführer
Verfassungsbeschwerde ein (Anlage 13), die durch Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes
vom 04.03.2002 als offensichtlich unbegründet verworfen wurde.
Am 12.02.2002 wurde der Beschwerdeführer aus "humanitären
Gründen" gegen die Zahlung einer Kaution von 50.000 Euro
und gegen weitere Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen.
Der Haftverschonungsbeschluss des Kammergerichts vom 11.02.2002
wird als Anlage 15 in Kopie beigefügt. Grund für die Haftverschonung
war ein Skiunfall seines Ziehsohnes, der zunächst mehrere Wochen
im Koma lag und seitdem pflegebedürftig ist. Seit seiner Haftentlassung
hat der Beschwerdeführer jeden gegen ihn anberaumten Gerichtstermin
pünktlich wahrgenommen und auch alle weiteren Auflagen erfüllt.
II. Zulässigkeit der Beschwerde
1. Der innerstaatliche Rechtsweg ist erschöpft. Der Beschwerdeführer
hat alle innerstaatlichen Rechtsmittel eingelegt, inklusive der
Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht. Zwar ist das Strafverfahren
gegen den Beschwerdeführer noch nicht abgeschlossen und der
Haftbefehl gegen ihn besteht noch, ist lediglich außer Vollzug
gesetzt worden. Doch kann ihm nicht zugemutet werden, wiederholt
Haftbeschwerden einzulegen, wenn der Instanzenweg einmal erschöpft
ist ( vgl. Frowein/Peukert, Artikel 26, Rn. 15). Der Beschwerdeführer
wendet sich im Rahmen dieser Beschwerde nur insoweit gegen den Einsatz
eines Kronzeugen, als dass dieser als einziges Beweismittel zur
Begründung seiner andauernden Inhaftierung diente. Insoweit
jedenfalls ist der innerstaatliche Rechtsweg ausgeschöpft.
2. Die Sechsmonatsfrist des Artikel 26 EMRK ist ebenfalls gewahrt.
Das am 04.03.2002 ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichtes
wurde dem Beschwerdeführer am 11.03.2002 zugestellt.
III. Begründetheit der Beschwerde
Verletzte Normen:
EMRK, Artikel 5, Freiheit der Person:
"1. Jedermann hat ein Recht auf Freiheit und Sicherheit.
Die Freiheit darf einem Menschen nur in den folgenden Fällen
und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
... c) wenn er rechtmäßig festgenommen worden ist oder
in Haft gehalten wird zum Zwecke seiner Vorführung vor die
zuständige Gerichtsbehörde, sofern hinreichender Tatverdacht
dafür besteht, dass der Betreffende eine strafbare Handlung
begangen hat, oder begründeter Anlass zu der Annahme besteht,
dass es notwendig ist, den Betreffenden an der Begehung einer strafbaren
Handlung oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern;
...
3. Jede nach der Vorschrift des Abs. 1 c dieses Artikels festgenommene
oder in Haft behaltene3 Person muss unverzüglich einem Richter
oder einem anderen, gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen
ermächtigten Beamten vorgeführt werden. Es hat Anspruch
auf Aburteilung innerhalb einer angemessenen Frist oder auf Haftentlassung
während des Verfahrens. Die Freilassung kann von der Leistung
einer Sicherheit für das Erscheinen vor Gericht abhängig
gemacht werden.
4. Jedermann, dem seine Freiheit durch Festnahme oder Haft entzogen,
hat das Recht, ein Verfahren zu beantragen, in dem von einem Gericht
ehetunlich über die Rechtmäßigkeit der Haft entschieden
wird und im Falle der Widerrechtlichkeit seine Entlassung angeordnet
wird.
5. Jeder, der entgegen den Bestimmungen dieses Artikels von
Festnahme oder Haft betroffen worden ist, hat Anspruch auf Schadensersatz."
EMRK, Artikel 6, Verfahrensgarantien:
"Jedermann hat Anspruch darauf, dass seine Sache in billiger
Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört
wird, und zwar von einem unabhängigen und parteiischen, auf
Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche
und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen
ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat. Das Urteil
muss öffentliche verkündet werden, jedoch kann die Presse
und die Öffentlichkeit während der gesamten Verhandlung
oder eines Teiles derselben im Interesse der Sittlichkeit, der öffentlichen
Ordnung und der nationalen Sicherheit in einem demokratischen Staat
ausgeschlossen werden, oder wenn die Interessen von Jugendlichen
oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen,
oder, und zwar unter besonderen Umständen, wenn die öffentliche
Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen
würde, in diesem Fall jedoch nur in dem nach Auffassung des
Gerichts erforderlichen Umfang.
2. Bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld wird vermutet,
dass der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist.
3. ...
d. Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu
lassen und die Ladung und Vernehmung der Entlastungszeugen unter
denselben Bedingungen wie die der Belastungszeugen zu erwirken;
..."
Der Beschwerdeführer vertrat - wie bereits oben zum Sachverhalt
ausgeführt - seit Beginn der Inhaftierung am 19.04.2000 die
Auffassung, dass 1. kein dringender Tatverdacht gegen ihn bestehe,
da auf die Aussagen des Kronzeugen alleine ein solcher nicht gestützt
werden dürfe, und 2. kein Haftgrund, insbesondere keine Fluchtgefahr,
vorliege. Mit zunehmender Dauer des Verfahrens und insbesondere
seit Beginn der Hauptverhandlung am 21.03.2001 hielt er 3. die weitere
Fortdauer der Untersuchungshaft für rechtswidrig, weil der
Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen verletzt worden sei. Spätestens
in den angefochtenen Beschlüssen werden die Rechtsverstöße
von 1. - 3. deutlicher, da sowohl hinsichtlich des Tatverdachtes
als auch der Annahme einer Fluchtgefahr angesichts der langen Untersuchungshaftdauer
strengere Kriterien gelten und sich dies auch in den Begründungen
der Gerichte in den Haftfortdauerentscheidungen niederschlagen muss,
was 4. jedoch nicht der Fall war.
Bezüglich aller Beschwerdepunkte werden die als Anlage beigefügten
Schriftsätze zum Inhalt der Begründung gemacht.
1) Fehlender dringender Tatverdacht und fehlendes kontradiktorisches
Verfahren, Art. 5 Abs. 1 c) und Abs. 3, 6 Abs. 1, Abs. 2 und Abs.
3 d) EMRK
Von der Einleitung des Strafverfahrens gegen den Beschwerdeführer
im Januar 2000 bis zu seiner Inhaftierung im April 2000, von der
Anklageerhebung im September 2000 bis zur derzeit laufenden Hauptverhandlung
hat der Beschwerdeführer von seinem Schweigerecht Gebrauch
gemacht und sich mit Hilfe seiner Verteidiger gegen die Tatvorwürfe
verteidigt, einziges Beweismittel gegen ihn war und ist die Aussage
des Kronzeugen Tarek Mousli.
Die rechtlichen Bedenken aus deutschem Strafprozess- und Verfassungsrecht
sowie europäischen Recht sind vor allem in dem Schriftsatz
vom 05.06.2000 sowie in dem Antrag auf Einstellung des Verfahrens
zu Beginn der Hauptverhandlung am 21.03.2001 niedergelegt worden.
Im Rahmen der hiesigen Beschwerde nach Artikel 25 EMRK wird insoweit
ausdrücklich eine Verletzung des Artikel 5 Abs. 1 c) und Abs.
3 EMRK gerügt. Nach dieser Vorschrift muss ein hinreichender
Tatverdacht (reasonable suspicion) vorliegen. Maßstab ist
dabei das Vorhandensein ausreichender objektiver Tatsachen (vgl.
die bei Kühne/Esser, Strafverteidiger 2002, S.383 ff., S. 385
zitierte Rechtsprechung). Zum Zeitpunkt der Festnahme mag der Grad
des Tatverdachtes und der Anspruch an die Qualität der Beweismittel
niedriger sein. Im vorliegenden Fall waren die Ermittlungen seit
Sommer 2000 abgeschlossen, die Anklage im September 2000 erhoben
worden und die Haftentscheidung des Bundesverfassungsgericht erging
nach knapp 23 Monaten Untersuchungshaft. Weitere objektive Beweismittel,
die neben der Kronzeugenaussage den Tatverdacht gegen den Beschwerdeführer
stützen, wurden weder im Verlaufe des Ermittlungsverfahrens
noch in der laufenden Hauptverhandlung vorgelegt.
Damit liegt ein Verstoß gegen die vom EGMR im Falle Labita./.
Italien (Urteil vom 06.04.2000) aufgestellten Prinzipien vor. Dort
heißt es u.a.
"153. The persistence of reasonable suspicion that the person
arrested has committed an offence is a condition sine qua non for
the lawfulness of the continued detention, but after a certain lapse
of time it no longer suffices.
155. However, for there to be resonable suspicion there must
be facts or information which would satisfy an objective observer
that the person concerned may hafe committed an offence.
157. The Court is conscious of the fact that the cooperation of
pentiti is a very important weapon in the Italian authoroties '
fight against the Mafia. However the use of statements by pentiti
does give rise to difficult problems as, by their very nature, such
statements are open to manipulation and may be made purely in order
to obtain the advantages which Italian law affords to pentiti, or
for personal revenge. The sometimes abiguous nature of such statements
and the risk that a person might be accused and arrested on the
basis of unverified allegations that are not necessarily disinterested
must not, therefore, be underestimated.
158. For these reasons, as the domestic courts recognise, statements
of pentiti must be corrobated by other evidence. Furthermore, hearsay
must be supported by objective evidence..
159. That, in the Court's view, is especially true when a decision
is being made whether to prolong detention pending trial. While
a suspect may validly be detained at the beginning of proceedings
on the basis of statements by pentiti, such statements necessarily
become less relevant with the passage of time, especially where
no further evidence is uncovered during the course of the investigation.
"
Im vorliegenden Fall kommen nicht nur diese vom EGMR aufgestellten
Grundsätze zum Tragen, vielmehr haben die Ermittlungsbehörden
mit dem Kronzeugen Mousli in einer Art und Weise gearbeitet, die
den Anspruch des Beschwerdeführers auf ein kontradiktorisches
Verfahren, Art. 6, insbesondere Abs. 3 d) EMRK verletzt. Im einzelnen
wurde die Verfahrensweise in dem Einstellungsschriftsatz vom 21.03.2001
dargestellt. Dort war auch begründet worden, warum dieses Prinzip
verletzt ist, obwohl der Kronzeuge in der Folge in der Hauptverhandlung
in Anwesenheit der Angeklagten, unter ihnen der Beschwerdeführer,
und durch die Verteidigung vernommen worden war. Jedoch wurden in
der Hauptverhandlung nur die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens
nachvollzogen, auf dessen Ergebnisse weder der Beschwerdeführer
noch seine Verteidiger Einfluss nehmen konnten. Damit kann der Beschwerdeführer
sein Recht auf einen adversatorischen Prozess zwar formal ausüben,
das für ein faires Verfahren grundlegendes Recht ( vgl. zuletzt
EGMR Fall P.S. gegen Bundesrepublik Deutschland, Urteil vom 20.12.2001
in Strafverteidiger 2002, S. 289ff. : Nr. 21 " Alle Beweise
müssen normalerweise in einer öffentlichen Verhandlung
im Beisein des Angeklagten erhoben werden, ..."): ist jedoch
durch die Vorgehensweise der Ermittlungsbehörden seiner Substanz
beraubt worden.
2. Kein Haftgrund, insbesondere keine Fluchtgefahr, Art. 5 Abs.
3 EMRK
Schon bei der Festnahme am 19.04.2000 lagen keine Haftgründe
und insbesondere keine Fluchtgefahr vor. Insoweit wird auf die als
Anlage beigefügten Schriftsätze der Verteidigung verwiesen.
Dort war immer wieder betont worden, dass die dem Beschwerdeführer
vorgeworfenen Straftaten teilweise bis zu 15 Jahre zurücklägen,
die angebliche terroristische Vereinigung sich spätestens 1995
aufgelöst, der Beschwerdeführer ein nicht vorbestrafter
Familienvater in gehobener Position bei der Universität ist
und die konkrete Straferwartung nicht so hoch sei. Darüber
hinaus war immer wieder von der Familie des Beschwerdeführers
eine Kaution angeboten worden. Nach den Kriterien des Gerichtshofes
müssen die Gründe mit zunehmender Untersuchungshaftdauer
immer stärker werden, um die Haftfortdauer zu rechtfertigen.
Dies ist im vorliegenden Falle nicht gegeben. Deswegen liegt ein
Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 EMRK vor.
3. Verstoß gegen Beschleunigungsgrundsatz, Art. 6 Abs.
1 EMRK
Insbesondere in den Schriftsätzen vom 11.04.2001, vom 20.04.2001,
vom 29.09.2001, vom 29.10.2001 und schließlich vom 01.2002
war von der Verteidigung im einzelnen dargelegt worden, dass vor
allem seit Beginn der Hauptverhandlung am 21.03.2001 gegen den Beschleunigungsgrundsatz
in Haftsachen verstoßen worden ist, ohne dass in den Haftentscheidungen
der Gerichte hierauf reagiert worden wäre.
4. Verstoß gegen das Begründungserfordernis bei Haftfortdauerentscheidungen,
Art. 5 Abs. 3 und 4, Art. 6 Abs. 1 und 2 EMRK
Die unter 1. - 3. vorgetragenen Verstöße kulminieren
in der Verletzung der vom Bundesverfassungsgericht und der strafrechtlichen
Obergerichte (vgl. dazu die Verfassungsbeschwerde) und vor allem
vom EGMR aufgestellten Grundsätze zu den Begründungsanforderungen
bei Haftentscheidungen bei zunehmender Untersuchungshaftdauer. Der
Beschwerdeführer ist sich dabei der Rechtsprechung des Gerichtshofes
bewusst, wonach die Angemessenheit der Haftdauer nicht abstrakt
bewertet werden kann. Er rügt jedoch, dass die innerstaatlichen
Gerichte nicht realisiert und dementsprechend nicht begründet
haben, dass die Fortdauer einer Inhaftierung nach der ständigen
Rechtsprechung des Gerichtshofes nur gerechtfertigt ist, wenn konkrete
Anhaltspunkte für ein wirkliches Erfordernis von öffentlichem
Interesse vorliegen , das ungeachtet der Unschuldsvermutung gegenüber
der Regel der Achtung der persönlichen Freiheit gemäß
Art. 5 der Konvention überwiegt (vgl. den bereits zitierten
Fall Labita gegen Italien sowie den Fall Erdem gegen Deutschland
m. w. N. ). Besonders eklatant ist die Verletzung des vom Gerichtshof
aufgestellten Prinzips, dass stereotype Formulierungen, Wiederholungen
und Bezugnahmen auf frühere Entscheidungen tunlichst zu vermeiden
sind. Der Gerichtshof hat zuletzt in dem Urteil Erdem gegen Deutschland
vom 05.07.2001 (abgedruckt in EuGRZ 2001, S.391 ff., vor allem Nr.
43 - 47) klargestellt, dass die Übernahme früherer Begründungen
ohne Darlegung, ob neue Anhaltspunkte zur Rechtfertigung der Fortdauer
der Haft, letztlich zu einer Verletzung des Art. 5 Abs. 3 EMRK führen.
Kaleck
Rechtsanwalt
Anlagen: 1 - 14
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