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Datum: 23.06.2000
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Zeitung:
Tagesspiegel
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Titel:
"Revolutionäre Zellen" - Ein ganz sensibler
Zeuge
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"Revolutionäre Zellen" - Ein ganz sensibler Zeuge
Nach den "Revolutionären Zellen" fahndete die Berliner
Polizei lange vergeblich. Bis einer der Linksextremisten auspackte:
Tarek Mousli. Er erzählte viel. Aber erzählte er auch
alles?
Die Jugendlichen ahnen sofort, dass sie keine Silversterartikel
entdeckt haben: Gepresste, längliche Dynamitstangen mit Zündschnur
lagern gewöhnlich nicht in einem normalen Keller. Die beiden
Schüler geraten im Dunkeln in Panik. Ein Bruch, okay. Es ist
schließlich nicht der erste Keller, den die beiden im Prenzlauer
Berg aufgestemmt haben, und es soll nicht ihr letzter sein. Zwei
junge Kleinkriminelle eben, in der Dunkelheit unterwegs auf der
Suche nach einem teuren Trekking-Bike oder einem antiken Möbelstück
zum Verticken auf dem Flohmarkt. Aber Sprengstoff - das ist eine
Dimension, mit der die Schüler nicht gerechnet haben. Im renovierungsbedürftigen
Untergeschoss der Schönhauser Allee 46 a, wo wie in so vielen
Ost-Berliner Altbauten der Putz bröckelt und es im Kellergang
nach Moder riecht, stoßen sie in jener Nacht des 27. März
1995 auf hochexplosives Material. Professioneller Sprengstoff, handliche
Stangen der Marke Gelamon 40, verstaut und gelagert am Ende des
Ganges in Keller Nummer 7 hinter Bücherkisten und einem kleinwagengroßen
Schlauchboot.
Hastig raffen der 20-Jährige und sein 18-jähriger Freund
Teile des Fundes zusammen und verlassen fluchtartig den Verschlag.
Diese Nummer ist ihnen zu heiß. Denn mit dem Zeug kann man
ein fünfstöckiges Wohnhaus in die Luft jagen, eine Brücke
zum Einsturz bringen - oder die Siegessäule sprengen. So, wie
es die linksradikalen "Revolutionären Zellen" (RZ)
während des Golfkrieges 1991 versucht hatten. Was die beiden
Jungs in dieser Nacht nicht wissen können: Der Sprengstofffund
wird Jahre später das halbe Bundeskriminalamt in Aufregung
versetzen.
Einige Monate nach dem Einbruch beginnt Tarek Mousli auf einer
Autofahrt entlang des Friedrich-Krause-Ufers plötzlich zu reden.
Mousli, ein damals 35-jähriger Karatelehrer und ehemaliger
Hausbesetzer, beugt sich zu seiner Freundin und deutet aufgeregt
über das dahinplätschernde Wasser der Spree: Da drüben
war ich an einem Anschlag beteiligt. Da, wo sich die Silhouette
der "Zentralen Sozialhilfestelle für Asylbewerber"
(ZSA) vor den Weddinger Mietskasernen abzeichnet. Da, wo die "Revolutionären
Zellen" in den frühen Morgenstunden des 6. Februar 1987
einen Sprengsatz gezündet hatten, 100 bis 200 Gramm Explosivstoff,
verdämmt in einem Metallbehälter. Die Detonation riss
ein 30 mal 40 Zentimeter großes Loch in die Außenmauer.
In einem Selbstbezichtigungsschreiben hieß es später,
der Anschlag sei aus Protest gegen die rassistische Behandlung von
Asylsuchenden verübt worden. Im Sommer 1999, als das Bundeskriminalamt
(BKA) Mousli längst auf der Spur ist, wird die Freundin den
Vernehmern detailliert über diesen Anschlag berichten, auch
darüber, was ihr Mousli auf der Autofahrt sonst noch über
die "Revolutionären Zellen" erzählt hat.
Die Aussagen elektrisieren die Ermittler und bringen eine Verhaftungswelle
ins Rollen. Über Wochen hinweg fahren ein Bundesanwalt und
ein Beamter des BKA immer wieder mit dem Zug nach Berlin und verhören
die ehemalige Lebensgefährtin Mouslis. Dann, am 23. November
1999, wird Tarek Mousli selbst festgenommen. Als er sich nach kurzem
Zögern der Bundesanwaltschaft als Kronzeuge andient und aussagt,
verhaften die Ermittler fünf weitere Männer und eine Frau,
die sie als frühere Aktivisten der RZ verdächtigen. Die
Verhaftungen ziehen sich bis in diesen Sommer hinein - zuletzt werden
im April ein hochrangiger Angestellter der Technischen Universität
und im Mai ein ausgewanderter Berliner in Kanada festgenommen. Mehr
als 1000 Seiten umfasst das Aussageprotokoll des Kronzeugen, der,
so die Bundesanwaltschaft, eine "Lebensbeichte" abgelegt
hat. Tarek Mousli, so die hoch gesteckte Erwartung der Bundesanwälte,
werde in einem Großverfahren mit den "Revolutionären
Zellen" die einzige linke Stadtguerilla neben der RAF enttarnen,
einen Bereich, zu dem die Ermittler bislang praktisch keinen Zugang
hatten und in dem es keine Verhaftungen gab.
Wie so oft war es ein Zufall, der die Bundesanwälte auf die
Spur Mouslis brachte. Am Morgen nach dem Kellerbruch im März
1995 beschlossen die beiden Jugendlichen, den explosiven Fund so
schnell wie möglich verschwinden zu lassen. Für 20 Mark
die Stange boten sie den Stoff dem Onkel des 20-Jährigen an.
Der Onkel, der mit einer lustigen Variante eines Polen-Krachers
gerechnet hatte, meldete sich postwendend auf der nächsten
Wache und händigte der Polizei das brisante Material aus. Bei
der anschließenden Vernehmung sagten die Jugendlichen aus,
sie hätten die Stangen auf einer Parkbank gefunden. Die Berliner
Beamten, nicht immer für akribische Recherche bekannt, glaubten
die Ausrede, ordneten den Sprengstoff der Russenmafia oder anderen
kriminellen Banden zu und schlossen die Untersuchung ab. Drei Jahre
lang ruhte der Fall. Bis das Bundeskriminalamt im Herbst 1998 in
einem anderen Verfahren zusammenstellte, wo das 1987 aus einem Steinbruch
gestohlene Gelamon 40 bislang benutzt oder gefunden wurde - jener
Stoff aus dem Berliner Keller. Sämtliche Angaben betrafen Anschläge
der RZ - bis auf den angeblichen Mafia-Fall aus Berlin. Beim BKA
in Wiesbaden leuchteten die Alarmlampen auf. Sofort begannen die
Ermittlungen gegen die RZ, die der Verfassungsschutz als "Feierabendterroristen"
einstufte und die seit 1973 mindestens 186 Brand-, Sprengstoff-
und andere Anschläge verübt hatten.
Das Schicksal des Tarek Mohamad Ali Mousli klingt wie ausgedacht
für ein Hollywood-Drehbuch. Mousli wird in Beirut als Abkömmling
der saudi-arabischen Königsfamilie geboren, aus der sein Vater
stammt; seine deutsche Mutter arbeitet als Stewardess. Als der Vater
bei einem Fugzeugabsturz stirbt, verlegt die Familie ihren Wohnsitz
von Saudi-Arabien nach Norddeutschland. Die Mutter schickt den schwarzhaarigen
und charmanten Jungen in ein Internat, wo er später das Abitur
besteht. In Kiel knüpft er mit 20 Jahren erste Kontakte zur
Hausbesetzerszene, ehe er zum Studium nach Berlin zieht und in Kreuzberg
in besetzten Häusern wohnt. Als eines seiner Geschwister in
den Libanon abgeschoben wird und deshalb in psychiatrische Behandlung
muss, spricht Tarek Mousli davon, wie sehr er die Abschiebebehörden
hasst.
Bis zu seiner Festnahme leitet der Ausnahme-Sportler zwei Kampfsportstudios
in Prenzlauer Berg und Marzahn und trainiert ausgerechnet Kampfsportspezialisten
der Polizei sowie Karateka des Bundeskaders. Mousli gehört
zu den gut 20 Karatekämpfern, die in der Bundesrepublik den
4. Dan tragen dürfen, eine seltene Auszeichnung, vergleichbar
mit einem renommierten Professorentitel. Einem Gegenüber kann
der Zwei-Meter-Mann entspannt mit der Fußsohle über die
Haare streichen. Mousli gilt im deutschen Karate-Nationalteam als
ehrgeizig und professionell, aber auch als sensibel und zuweilen
ängstlich. Er war kein typischer Kampfsportler. Bekannte schildern
ihn als gebildet und belesen, als ausgewiesenen Elektronikfachmann
und Informatiker sowie hervorragenden Klavierspieler. "Tarek
machte fast alles genial gut", erinnert sich eine frühere
Freundin, "und er kämpfte überall um Anerkennung."
Im Berlin der frühen 80er Jahre betreute der Sponti-Sympathisant
linke Gefangene im Knast, engagierte sich gegen Neonazis und arbeitete
in diversen politischen Initiativen mit. In einer lernte er den
Journalisten und Grünen-Mitarbeiter Gerd Albartus, Jahrgang
1950, kennen, der bereits früher wegen eines RZ-Anschlags verurteilt
worden war. Zwischen Mousli und Albartus entwickelte sich eine enge
Freundschaft. Albartus, ein Freund des "Carlos"-Komplizen
Johannes Weinrich mit dem Decknamen "Kai", wurde nach
Angaben der Bundesanwälte zum "Ziehvater" für
den Leistungssportler. Mousli erzählt seinen Vernehmern, dass
Albartus ihn 1985 schließlich für die "Revolutionären
Zellen" anwarb. Mousli sagte Ja. Im "Verein", wie
sich die RZ laut Mouslis Angaben selbst bezeichneten, nannte sich
der spätere Kronzeuge künftig nur noch "Daniel".
In den frühen Morgenstunden des 28. Oktober 1986 öffnete
Harald Hollenberg die Tür seines Wohnhauses im beschaulichen
Zehlendorf. Der 54-jährige Leiter der Berliner Ausländerbehörde
fuhr wie jeden Morgen seinen Wagen aus der Garage, schaltete den
Motor ab und stieg aus dem Auto, um die Garagentür wieder zu
schließen. Plötzlich hörte Hollenberg ein knappes
Kommando: "Keine Bewegung." Noch bevor er sich umdrehen
konnte, fielen zwei Schüsse. Der konservative Beamte mit viereckiger
Brille und schütterem schwarzen Haar sackte zusammen und fiel
auf den Weg; die Pistolenschüsse hatten ihn in beide Unterschenkel
getroffen. Die zwei Schützen flüchteten mit einem grünen
VW-Passat, der eine Stunde später brennend aufgefunden wurde.
"Der Berliner Ausländerpolizeichef Hollenberg ist ein
Menschenjäger und Schreibtischtäter", begann ein
mit einem fünfzackigen roten Stern der RZ gestempeltes Selbstbezichtigungsschreiben,
das einen Tag nach den Schüssen beim Tagesspiegel einging.
"Sein Jagdrevier Westberlin ist der Brennspiegel bundesdeutscher
Ausländerpolitik." An jenem Morgen will "Daniel"
in einer konspirativen Wohnung gesessen und den Polizeifunk abgehört
haben, zur Sicherung des Rückzugs. Sozusagen das Gesellenstück.
Knapp ein Jahr später, am 1. September 1987, schossen die
"Revolutionären Zellen" erneut einem hochrangigen
Beamten in die Beine. Die Kugeln trafen gegen 9 Uhr 05 Günter
Korbmacher in den linken Unterschenkel. Der Vorsitzende Richter
am Bundesverwaltungsgericht war in Lichterfelde auf dem Weg von
seinem Wohnhaus zur Garage. Im Gegensatz zu Hollenberg sprachen
ihn die Täter, die auf einem Motorrad flüchteten, nicht
vorher an. Der Richter war zuständig für Asylurteile und
galt als Verfechter einer harten Linie gegen Flüchtlinge. Auch
in diesem Fall bekannten sich die Zellen und begründeten das
Attentat in einem Schreiben an den Tagesspiegel mit der Asylgesetzgebung.
Keine drei Monate nach den Schüssen auf Korbmacher reiste
Mouslis Freund Gerd Albartus in den Nahen Osten zu einer palästinensischen
Guerillagruppe um die Terroristen Johannes Weinrich und "Carlos".
Albartus kam nie zurück; der 39-Jährige wurde von der
Gruppe des Verrats bezichtigt, vor ein Tribunal gestellt und erschossen.
Die Frage, wer Albartus tötete, ist bis heute nicht geklärt
und wird Gegenstand eines weiteren Gerichtsverfahrens im Herbst
sein. Für Tarek Mousli war der Tod seines "Ziehvaters"
nach eigenem Bekunden Grund genug, sich von den RZ zu lösen.
Dem BKA erzählt er, wie mehrere andere Genossen sei er 1990
aus der Gruppe ausgestiegen.
Fast ein Jahrzehnt später stürmen am 19. Dezember 1999
die GSG 9 und Sondereinheiten der Berliner Polizei den Kreuzberger
Mehringhof. In einer spektakulären Großrazzia durchkämmen
die Fahnder sämtliche Räume und Schächte des Kulturpojekts,
das in der linken Szene einen ähnlich legendären Ruf genießt
wie die Waldbühne bei Rockfans. Zwei ehemalige Mitarbeiter
des Mehringhofs, hatte "Daniel" seinen Vernehmern erzählt,
sollten ebenfalls Mitglieder der "Revolutionären Zellen"
sein und im Mehringhof ein Waffendepot angelegt haben: Sprengstoff,
eine Maschinenpistole und weitere Handfeuerwaffen. 1000 Beamte filzen
den Hof einen ganzen Tag lang und finden - nichts. Ende Mai durchsucht
die Bundesanwaltschaft noch einmal den Mehringhof. Mousli hat eine
Skizze angefertigt und einen Fahrstuhlschacht benannt, in dem Waffen
und Sprengstoff gelagert haben sollen. Diesmal dirigiert der Kronzeuge
die Beamten live per Videoschaltung aus einer Haftanstalt - eine
Novität in der Geschichte des BKA. Waffen finden die Ermittler
auch diesmal nicht, ob ein beschlagnahmter Müllsack Sprengstoffspuren
aufweist, wird die Laboranalyse zeigen.
Am Tag der Großrazzia verhaftet das Bundeskriminalamt mehrere
Personen, die seit vielen Jahren in der linken Szene Berlins bekannt
sind. Harald G., 51, galt als Vordenker der "Forschungsstelle
Flucht und Migration", die sich mit Asylpolitik beschäftigt.
Matthias B., 51, leitete das Akademische Auslandsamt der Technischen
Universität und saß im Kuratorium der TU. Axel H., 49,
arbeitete viele Jahre als Hausmeister des Mehringhofs. Lothar E.,
ein weiterer früherer Hausmeister des Mehringhofs, emigrierte
Mitte der 90er Jahre nach Kanada, reparierte seitdem Kanus sowie
Holzboote und betrieb eine Pension. Das Ehepaar Rudolf S., 57, und
Sabine E., 53, das nach Mouslis Aussage ebenfalls zur RZ gehört
hatte und schon früher einmal wegen Straftaten der RZ gesucht
worden war, lebte in den 90er Jahren in Frankfurt am Main. Fast
alle sollen sowohl an den Beinschüssen auf Harald Hollenberg
und Günter Korbmacher als auch an mehreren anderen Anschläge
beteiligt gewesen sein. Die Bundesanwaltschaft glaubt, in ihnen
den Kern der Berliner RZ gefunden zu haben.
Der im kommenden Winter beginnende Prozess gegen die sieben Verhafteten
dürfte vor allem für die Geschichtsschreibung der 80er
Jahre von Interesse sein. Die "Revolutionären Zellen"
stellten Mitte der 90er Jahre ihren Kampf gegen die Bundesrepublik
ein und lösten sich auf. Alle Angeklagten haben seit Jahren
Familie und feste Arbeitsplätze.
Ob das Verfahren tatsächlich den erhofften Durchbruch für
die Ermittler bringen wird, ist heftig umstritten. Die Aussagen
basieren ausschließlich auf den Schilderungen des Kronzeugen
Mouslis, der von der Bundesanwaltschaft Geld und einen neue Identität
angeboten bekommen hat und künftig auf seine Sportlerkarriere,
das "Neue Deutschland" und seine beiden geliebten Huskies
wird verzichten müssen. Einerseits besitzt Mousli unzweifelhaft
ein Detailwissen, das die Ermittler verblüfft und begeistert.
Andererseits schweigen alle anderen Beschuldigten, und Mouslis Aussagen
weisen diverse Widersprüche auf. So berichtete er seinen Vernehmern,
die Attentate auf Hollenberg und Korbmacher habe er lediglich unterstützt,
indem er den Polizeifunk abhörte, Rückzugswege klärte
und ein Fluchtauto klaute. Engsten Freunden vertraute Mousli eine
ganz andere Version an. Er selbst sei es gewesen, prahlte "Daniel",
der 1987 auf Richter Korbmacher schoss.
Holger Stark
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