Datum:
31.05.2000
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Zeitung:
tageszeitung
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Titel:
Es plaudert nur ein Kronzeuge
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Es plaudert nur ein Kronzeuge
Seit 1999 müht sich die Bundesanwaltschaft, die Geschichte der
Revolutionären Zellen in Berlin aufzuklären. Bisher wurden sechs
Leute verhaftet. Beweise werden noch gesucht
Angefangen hat alles mit einem zufälligen Fund. Jahrelang tappten
die Ermittler völlig im Dunkeln: Wer sind die Revolutionären
Zellen (RZ), die von 1973 bis 1995 - zuerst mit internationalistischen
Kampagnen, später mit eher antirassistischen Aktionen - den
"Feierabendzweig" des bundesdeutschen Terrorismus ausmachten? Und
wer hat in Berlin Anschläge durchgeführt wie etwa 1986 auf den
seinerzeitigen Leiter der Berliner Ausländerbehörde Harald
Hollenberg, oder auf die Siegessäule im Jahr 1991?
Die internationalistische Phase - durch die Carlos-Gruppe bereits ins
Licht der Öffentlichkeit gerückt - glaubt die Karlsruher
Bundesanwaltschaft derzeit unter anderem mit Hilfe der Aussagen des
RZ-Aussteigers Hans-Joachim Klein aus Frankfurt noch weiter aufdecken zu
können. Und die späte Phase der RZ, insbesondere den Berliner
Teil der bundesweit angelegten Zellenstruktur, behauptet einer aufzudecken,
der derzeit selbst als RZ-Beschuldigter in Karlsruher Haft sitzt und dort
als Kronzeuge an der Ermittlungsarbeit beteiligt ist: der Berliner Tarek
M.
Im vergangenen Jahr stießen die Ermittler eher zufällig auf
Spuren von Sprengstoff, die sie zu Tarek M. führten. Der Sprengstoff
sei in einem von ihm angemieteten Keller aufbewahrt worden und habe bei
mindestens drei Anschlägen der RZ eine entscheidende Rolle gespielt.
Tarek M. wurde festgenommen, später wieder auf freien Fuß
gesetzt.
Im November rückte die BAW erneut in Berlin an. Tarek M. wurde ein
zweites Mal verhaftet und direkt nach Karlsruhe gebracht. Seitdem, so legen
zumindest die vorgelegten Durchsuchungs- und Haftbefehle nahe, plaudert er
über sein früheres Berliner Umfeld und wirft einer ganzen Reihe
von Personen vor, den untereinander abgeschotteten RZ angehört zu
haben.
Zwischen der erneuten Verhaftung M.s und der gestrigen Durchsuchung
liegen umfangreiche Ermittlungen der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, eine
weitere Razzia, Befragungen von ZeugInnen und Verhaftungen in Berlin,
Frankfurt und Kanada. "Die Ermittlungen sind etwa zur Hälfte
abgeschlossen", fasste gestern einer der Karlsruher Fahnder zusammen.
Der Personenkreis sei im Grunde fest umrissen und bereits in Haft. Weitere
Verhaftungen könnten jedoch nicht ausgeschlossen werden. Mit einer
Anklage gegen die Inhaftierten rechnet die Bundesanwaltschaft noch in
diesem Jahr.
Zuletzt war vor knapp zwei Wochen ein ehemaliger Berliner in Kanada
verhaftet worden. Der 46-jährige Lothar E. wird beschuldigt, bis 1995
den RZ angehört zu haben und am aus Protest gegen den Golfkrieg
durchgeführten Sprengstoffanschlag auf die Berliner Siegessäule
beteiligt gewesen zu sein. Auch ein Anschlag auf die Zentrale
Sozialhilfestelle für Asylbewerber im Jahr 1987 wird ihm angelastet.
Verjährt sind die Vorwürfe, die Anschläge auf Harald
Hollenberg und einen weiteren auf den ehemaligen Vorsitzenden Richter am
Bundesverwaltungsgericht, Günter Korbmacher, mit ausgeführt zu
haben. Lothar E. war in den 80er-Jahren Hausmeister im linken Kulturzentrum
Mehringhof.
Dieselben Vorwürfe wie Lothar E. werden einem weiteren Berliner
gemacht, der bereits am 18. April verhaftet worden war: einem angesehen
Angestellten der Berliner Technischen Universität. Der bis zu seiner
Verhaftung als Leiter des Akademischen Auslandamtes der TU tätige
51-jährige Matthias B. soll zumindest nach Aussagen des Kronzeugen
ebenfalls den Revolutionären Zellen angehört haben.
Offensichtlich beschuldigt Tarek M. auch den 10 Jahre älteren
Gewerkschaftsmann Matthias B., der gemeinsam mit dem Berliner Innensenator
Eckart Werthebach (CDU) im Kuratorium der Universität saß, an
den Anschlägen in den 80er- und 90er-Jahren beteiligt gewesen zu
sein.
Schon bei einer ersten Razzia im Dezember vergangenen Jahres wurde der
Mehringhof nach Sprengstoff durchsucht. Der zu diesem Zeitpunkt als
Hausmeister des Kulturprojektes arbeitende Axel H., der zeitgleich zur
Razzia ebenso wie ein weiterer Berliner (Harald G.) und eine Frau aus
Frankfurt (Sabine E.) verhaftet worden war, soll laut Aussagen von Tarek M.
in dem Komplex Sprengstoff für die RZ gelagert haben. Gefunden wurde
im Dezember jedoch nichts. Eine Auswertung der gestrigen Sprengstoffsuche
liegt noch nicht vor.
EMMA RADKE
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