Datum:
14.04.2001
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Zeitung:
Der Spiegel
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Titel:
Vorhersehbares Debakel
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Vorhersehbares Debakel
Die Berliner Verhandlung gegen vier mutmaßliche Terroristen wird ausgesetzt.
Weil die Justiz die Beweislage falsch einschätzte, konnte der
angebliche Rädelsführer nicht mit angeklagt werden.
Das Szenario für den Auftritt des Kronzeugen war
filmreif. Bewaffnete Sicherheitsbeamte im Saal, ein
"Verräter" im Zeugenstand und auf der Anklagebank vier
mutmaßliche Terroristen der Revolutionären Zellen (RZ).
Ende April sollte es Wirklichkeit werden. Ein Hauch von Stammheim und
Palermo mitten in Berlin.
Doch der Showdown vor dem Kammergericht, in dem seit dem 22. März
eines der letzten dunklen Kapitel des deutschen Linksterrorismus
aufgeklärt werden soll (SPIEGEL 12/2001), wird für mehrere Wochen
ausgesetzt - auf Bitten der Bundesanwaltschaft.
Die Zeit ist nötig, die Folgen einer kapitalen
Fehleinschätzung der Justiz zu korrigieren. Bisher mussten sich in
Berlin nur die vier mutmaßlichen Terroristen Harald Glöde,
Matthias Borgmann, Axel Haug und Sabine Eckle verantworten. Eckles Ehemann
Rudolf Schindler dagegen konnte die Prozesseröffnung als freier Mann
verfolgen - obwohl er den Ermittlern als Rädelsführer gilt.
Die fünf werden beschuldigt, Mitglieder der terroristischen
Vereinigung RZ gewesen zu sein. Sie sollen, in unterschiedlicher Besetzung,
ab Mitte der achtziger Jahre in Berlin Sprengstoff- und
Schusswaffenattentate verübt haben. Weil sich die Vorwürfe in
weiten Teilen deckten, so Bundesanwalt Rainer Griesbaum, sei es "zur
Vermeidung von Doppelarbeit sachdienlich", den RZ-Komplex gegen alle
fünf gemeinsam zu verhandeln.
Das klingt logisch. Dennoch ist Griesbaums Plädoyer für
"Prozessökonomie" grotesk. Schindler, für dessen
terroristische RZ-Vergangenheit es etliche Indizien gibt, hätte schon
von Anfang an in Berlin mit auf der Anklagebank sitzen können. Doch
die Bundesanwälte haben offenbar zu lange ihren Kollegen in Frankfurt
vertraut. Die hessischen Ermittler waren trotz dünner Beweislage
überzeugt, dass Schindler am Überfall auf die Opec-Konferenz in
Wien 1975 unter Führung des legendären Terror-Söldners
"Carlos" beteiligt war. Sie verließen sich dabei auf eine
Aussage des Ex-Terroristen Hans-Joachim Klein, des Hauptangeklagten im
Opec-Prozess. Der habe im September 1999 Schindler "eindeutig und ohne
Zweifel" als jenes RZ-Mitglied identifiziert, das ihn für den
Anschlag in Wien rekrutiert habe und das "von Beginn an in die Aktion
eingebunden" war.
Dass Klein in vorangegangenen Vernehmungen andere Personen als Anwerber
genannt hatte, scheint die Ermittler ebenso wenig gestört zu haben wie
die Tatsache, dass er Schindler die RZ-internen Decknamen "Max"
und "Sharif" zuordnete.
Dabei fanden sich in den Unterlagen der Frankfurter Staatsanwälte
und der Bundesanwaltschaft schon damals Hinweise darauf, dass dies die
Tarnnamen eines anderen RZ-Kämpfers waren. Sein Name: Gerd Hinrich
Schnepel. Der tauchte nicht nur in Stasi-Akten über die RZ als
"Max" und "Sharif" auf, sondern hatte sich auch 1997,
im Verfahren gegen den "Carlos"-Vertrauten Johannes Weinrich, bei
der Berliner Staatsanwaltschaft dazu bekannt, unter diesen Decknamen
operiert zu haben.
Schindlers Anwalt, der Frankfurter Strafverteidiger Hans Wolfgang Euler,
beantragte deshalb schon im Februar 2000, die Opec-Anklage gegen seinen
Mandanten nicht zuzulassen. Doch die 21. Strafkammer des Landgerichts
Frankfurt entschied anders. Die Bundesanwaltschaft stellte in Erwartung
einer hohen Freiheitsstrafe im Opec-Prozess das Berliner Verfahren gegen
Schindler vorläufig ein. Vertan war die Chance, die offenkundige
Verwechslung ohne Gesichtsverlust zu revidieren.
Es folgte das vorhersehbare Debakel. Schnepel wiederholte als Zeuge in
der Opec-Hauptverhandlung, was er bereits drei Jahre zuvor zu Protokoll
gegeben hatte. Die Version von Schindler als dem großen
"Max" war dahin und die Frankfurter Staatsanwaltschaft in der
Klemme.
Offenbar um eine weitere Demontage im Gerichtssaal zu vermeiden,
versuchten es die Anklagevertreter Volker Rath und Jörg Claude mit
einem Kuhhandel. Anfang Dezember baten sie Schindlers Verteidiger Euler und
dessen Kollegen Jürgen Fischer zu einem Gespräch. Dabei, so
Euler, habe Rath erklärt, nach Lage der Dinge müsse die
Staatsanwaltschaft auf Freispruch plädieren. Die Verteidiger
empfahlen, das Schindler-Verfahren gesondert abzuhandeln.
Doch die Staatsanwälte hätten davon nichts wissen wollen. Rath
habe an das Berliner RZ-Verfahren erinnert. Dies sei ja nur
"vorläufig eingestellt". Schindler könne doch in der
Opec-Sache ein "kleines Geständnis" machen. Eines, das auf
reine Beihilfe hinausliefe. Dann käme er mit einer Strafe von
fünf bis sechs Jahren davon und hätte in Berlin nichts mehr zu
befürchten.
Als Euler und Fischer ablehnten, habe Claude erklärt, man
könne auch das Opec-Verfahren vorläufig einstellen. Dann jedoch
müsse sich Schindler in Berlin verantworten. Euler: "Wir waren
fassungslos. Erst redeten sie von Freispruch, und dann machten sie
Angebote, die das Prinzip der Wahrheitsfindung im Strafprozess ad absurdum
führten."
Der Sprecher der Staatsanwaltschaft Frankfurt, Job Tilmann,
bestätigt die Unterredung, wertet sie jedoch anders. Raths
Ausführungen hätten nur den Stand der Beweisaufnahme zum
Zeitpunkt der Besprechung beschrieben. Der jedoch hätte sich bis
Prozessende noch ändern können. Darüber hinaus hätte
Rath das Opec-Verfahren und die Berliner Ermittlungen "stets als Paket
gesehen" und sei "nach wie vor von Schindlers Schuld
überzeugt". Klein habe "möglicherweise nur den Namen,
nicht aber die Person verwechselt".
Euler erinnert sich etwas anders: "Die Staatsanwälte
befürchteten offensichtlich, dass ein Freispruch im Opec-Prozess die
Neuauflage des Berliner RZ-Verfahrens torpedieren könnte."
Die Sorge war berechtigt: Am 28. Februar, zwei Wochen nach Schindlers
Freispruch in Frankfurt, lehnte das Berliner Kammergericht die von der
Bundesanwaltschaft beantragte Eröffnung eines Hauptverfahrens gegen
Schindler ab - obwohl auch die Richter ihn für "hinreichend
verdächtig" hielten, den RZ an der Spree als
Rädelsführer angehört zu haben.
Die Begründung: Strafklageverbrauch. Der Hauptanklagepunkt,
Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung RZ, sei bereits
Gegenstand des Opec-Verfahrens gewesen und damit abgeurteilt. Schindler kam
nach 16 Monaten Untersuchungshaft frei.
Damit wollte sich der Generalbundesanwalt nicht abfinden und legte
Beschwerde ein. Der Bundesgerichtshof (BGH) eröffnete daraufhin am 30.
März das Hauptverfahren in Berlin. Schindler musste wieder in Haft,
und die Bundesanwaltschaft beantragte die Zusammenlegung mit dem vor dem
Berliner Kammergericht bereits laufenden Prozess.
Wieweit sich die Bundesanwälte über ihren Erfolg in letzter
Instanz freuen können, ist allerdings ungewiss. Die Bundesrichter
stützten sich auch auf Schindlers einzige Einlassung im Opec-Prozess.
Dort hatte der 58-Jährige im Rahmen der Schilderung seines Lebenslaufs
erklärt: "In der Zeit von 1978 bis zur Wiederaufnahme meiner
politischen Aktivitäten Mitte der achtziger Jahre habe ich keine
strafbaren Handlungen begangen und keiner verbotenen Organisation
angehört."
Demnach, so der BGH, habe Schindler seine RZ-Mitgliedschaft 1978
beendet. Die späteren Aktionen in Berlin werteten die Richter als
neuen Straftatbestand, der mit dem Opec-Urteil nicht abgegolten sei.
Diese quasi amtlich abgesegnete Version von Schindlers Vita könnte
nun in einem weiteren Verfahren gegen den mutmaßlichen RZ-Mann
entlastend sein. Die Bundesanwaltschaft verdächtigt Schindler und
Eckle, den damaligen hessischen Wirtschaftsminister Heinz Herbert Karry
(FDP) am 11. Mai 1981 in seinem Frankfurter Haus im Schlafzimmer erschossen
zu haben. Die RZ hatten sich anschließend zu der Tat bekannt und
erklärt, der Tod des Politikers sei nicht beabsichtigt gewesen. Man
habe ihm lediglich in die Beine schießen wollen.
Schindler beharrt auf der gerichtsnotorischen Version seines
Lebenslaufs, die er Ende März noch präzisierte: "Weder war
ich an Vorbereitungen zu dem Anschlag noch an ihm selbst oder etwaigen
Unterstützungshandlungen danach beteiligt ... Zum damaligen Zeitpunkt
habe ich mich zusammen mit meiner Ehefrau im Ausland aufgehalten."
Angaben über Ort und Dauer des Aufenthalts machte er nicht. Die
will Euler, "falls es prozessual nötig sein sollte, zu einem
späteren Zeitpunkt nachreichen".
Die Wartezeit bis zur Neuauflage des Berliner RZ-Verfahrens wollen die
Verteidiger der Angeklagten nutzen, um Haftverschonung für ihre
Mandanten zu beantragen. Euler will dafür sogar vor das
Bundesverfassungsgericht ziehen: "Erstens besteht bei Schindler keine
Fluchtgefahr, und zweitens dürfen Versäumnisse der Justiz nicht
zu Lasten der Angeklagten gehen."
GUNTHER LATSCH
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