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Datum:
28.10.2002
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Zeitung:
Junge Welt
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Titel:
Strohhalm der Anklage
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Strohhalm der Anklage
Im Berliner RZ-Verfahren dreht sich nach wie vor alles um ein
ominöses Sprengstoffpaket
Richter und Staatsanwälte, aber auch Angeklagte und Verteidiger
brauchen ab und an eine Pause - vor allem in einem solchen Mammutverfahren,
wie es der Berliner RZ-Prozeß ist. Im März vergangenen
Jahres begonnen, hat man es mittlerweile auf 102 Verhandlungstermine
gebracht. Die Berliner Herbstferien wurden deshalb genutzt, um allen
Beteiligten ein paar freie Tage zu ermöglichen. Da eine Hauptverhandlung
nicht länger als zehn Tage unterbrochen werden darf, wurden
kurzerhand zwei kurze Zwischentermine anberaumt, die nur wenige
Minuten dauerten. Erst am Donnerstag und Freitag vergangener Woche
ging es dann wieder "normal" weiter.
Im Verfahren, in dem vier Männer und eine Frau aufgrund der
Anschuldigungen eines Kronzeugen der Mitgliedschaft in der "Revolutionären
Zellen" (RZ) und der Beteiligung an Sprengstoffanschlägen
angeklagt sind, dreht sich noch immer alles um ein Sprengstoffpaket.
Dieses Paket will der Kronzeuge Tarek Mousli im Frühjahr 1995
in einem Seegraben im Norden Berlins versenkt haben. Seit Monaten
verdichten sich die Hinweise, daß die Version des Kronzeugen
nicht stimmen kann. Das Gericht zeigt sich an einer Aufklärung
nicht interessiert. Die Bundesanwaltschaft diffamiert das Bemühen
der Verteidigung um Aufklärung als Verschwörungstheorie.
Am Donnerstag nun erklärten ein BKA-Gutachter und ein emeritierter
Physikprofessor der Technischen Universität Berlin übereinstimmend,
daß das Paket, das Mousli 1995 im Seegraben versinken gesehen
haben will, gar nicht gesunken sein konnte. Anhand der dokumentierten
Abmessungen des Pakets, das im August 1999 in dem Gewässer
nach zwei Suchaktionen letzten Endes doch noch gefunden werden konnte,
hatten beide Sachverständige das Volumen des Pakets bestimmt.
Der Befund war eindeutig: Das Paket hätte mindestens zu einem
Drittel über die Wasseroberfläche herausragen müssen.
Es hätte als so nicht untergehen können, wie Mousli behauptet.
Wie verschwand das Paket dann unter die Wasseroberfläche?
Es liegt die Schlußfolgerung nahe, daß es noch einmal
aus dem Wasser gefischt und die Plastikhülle aufgerissen wurde,
damit es sich mit Wasser vollsaugen, somit an Gewicht gewinnen und
untergehen kann. Doch wenn dies so war, kann der Sprengstoff nicht
im Jahr 1995 versenkt worden sein. Denn wie selbst das BKA feststellte,
löst sich Sprengstoff der Marke Gelamon 40 im Wasser nach spätestens
sechs Monaten auf.
Da die Glaubwürdigkeit des Kronzeugen nun vollends erschüttert
scheint, kochten die Emotionen im Gerichtssaal hoch. Bundesanwaltschaft
und ein Teil des 1. Strafsenats versuchten, mit wilden Spekulationen
über die Beschaffenheit des Sprengstoffpakets die Aussagen
der beiden Gutachter zu relativieren. Bundesanwalt Walenta verstieg
sich darauf, daß die 24 Stangen Sprengstoff beim Verpacken
derart zusammengedrückt worden sein könnten, daß
ihr Volumen so verkleinert wurde, daß das Paket doch versunken
sein könnte. Hitzige Wortgefechte zwischen der Verteidigung
und dem Gericht waren die Folge. Das alles mündete am Ende
in einem Befangenheitsantrag gegen den berichterstattenden Richter
Hanschke, der dem Angeklagten Matthias B. im Verlauf der Auseinandersetzung
"geiferndes Geschrei" vorgeworfen hatte.
Am Freitag versuchte die Anklagevertretung einen Befreiungsschlag.
Eine Biologin war beauftragt worden, festzustellen, ob man anhand
des Algenbewuchses des Sprengstoffpakets irgendwelche Rückschlüsse
auf die Verweildauer des Pakets im Seegraben ziehen könnte.
Hinwiese auf eine nur saisonal auftretende Algenart konnte die Gutachterin
nicht finden. Rückschlüsse auf die Verweildauer seien
somit nicht möglich. Allerdings vermute sie, daß das
Paket länger als eine Vegetationsperiode im Wasser gelegen
habe. Diese Aussage, so betonte sie jedoch, sei nur eine Vermutung.
Trotz dieser Relativierung machten Anklage und Gericht in der folgenden
Befragung deutlich, daß sie diesen Strohhalm ausgiebig benutzen
wollen.
Beat Makila
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