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Presse

Datum:
28.09.2001

Zeitung:
Junge Welt

Titel:
Gericht in Berliner RZ-Prozeß unter Druck

Gericht in Berliner RZ-Prozeß unter Druck

Zurückgehaltenes Beweismaterial der Bundesanwaltschaft macht Fortsetzung des Verfahrens fraglich.

Die Vorsitzende Richterin Gisela Hennig gerät im sogenannten Berliner RZ-Prozeß immer mehr unter Druck. Noch am Dienstag hatte sie den Antrag auf Aussetzung der Haftbefehle gegen die fünf Angeklagten ohne ein Wort über zurückgehaltenes Beweismaterial abgelehnt. Begründung: Die Behauptungen des Kronzeugen Tarek Mousli seien auch nach den Aussagen seiner damaligen Lebensgefährtin Karmen T., die Mousli schwer belastete, "nach vorläufiger Würdigung nicht entscheidend erschüttert worden." Zudem bestehe weiter Fluchtgefahr. Am Donnerstag aber stellten die Anwältinnen der Angeklagten einen erweiterten Antrag. Dieser bezieht sich erneut auf das bisher von der Bundesanwaltschaft (BAW) zurückgehaltene Beweismaterial - 955 weitere Kassetten aus den Telefonüberwachungen Mouslis und 23 Aktenordner mit Wortprotokollen. Sie hätten bereits bei einer Durchsicht der ersten Lieferung und der dazugehörigen Abhörprotokolle festgestellt, daß ihr Antrag auf Aussetzung der Verfahrens um weitere Elemente erweitert werden müsse, so die Anwältinnen. Weder seien die Wortprotokolle mit den auf den Kassetten zu hörenden Gesprächen identisch, noch sei klar, ob die Kopien dieser Kassetten mit dem beim Bundeskriminalamt (BKA) befindlichen Originalen identisch sind. Es müßten also nicht nur alle Bänder abgehört und mit den Wortprotokollen abgeglichen werden, sondern es bestehe die Notwendigkeit, auch die Originale zu prüfen.

Nach Berechnungen der Anwältinnen dürfte es mehrere Monate dauern, allein die Bänder der zweiten Lieferung abzuhören - eine Aufgabe, die parallel zu dem jetzt stattfindenden Verfahren nicht geleistet werden könne. An den entsetzten Gesichtern des Gerichts und der BAW nach dem Vortrag der Anwältinnen wurde deutlich, daß von einer "Panne" oder "kleineren Problemen" keine Rede sein kann.

In den vergangenen Monaten wuchs sich das Berliner RZ-Verfahren zu einem echten Justizskandal aus, bei dem um jede Akte, jeden Überwachungsmitschnitt, um jedes einzelne Telefongespräch gekämpft werden mußte. Allein mit einer kleinen Stichprobe wurde deutlich, daß entgegen der Angaben der BAW in den abgehörten Telefongesprächen Fragen abgehandelt werden, die Mouslis Werdegang zum Kronzeugen in ganz anderem Licht erscheinen lassen. Hatten schon die letzten Wochen gezeigt, daß der hochverschuldete Mousli gezielt von BKA und BAW aufgebaut und Karmen T. mit ihren belastenden Aussagen fallengelassen wurde (jW berichtete), so wird jetzt immer klarer, daß sowohl die Zeugen des BKA und der BAW ebenso wie Mousli das Kammergericht und die Verteidigung permanent belügen. Die BAW hatte immer wieder bestritten, Mousli schon frühzeitig die Kronzeugenregelung angeboten zu haben. Das wurde gestern widerlegt. Problematischer aber dürfte die Tatsache zu bewerten sein, daß eine weitere ehemalige Lebensgefährtin Mouslis - die bisher noch nicht gehörte Zeugin Janet O. - vom BKA gezielt benutzt wurde und den Auftrag erhielt, den damaligen Anwalt Mouslis "von jetzt an nicht mehr zu belügen". Bezeichnend ist auch, daß Bundesanwalt Homann in seiner Stellungnahme zum Antrag der Verteidigung nur auf ein Telefongespräch Bezug nahm, in dem Mousli bei einer "Agentur" eine Prostituierte bestellte. Er sähe gern die "Persönlichkeitsrechte" des Kronzeugen gewahrt. Zu den sonstigen Belegen der Rechtsanwältinnen schwieg Homann.

Das Kammergericht, das zunächst den Eindruck machte, auch über diese wiederholten Skandale in der Beweiswürdigung hinweggehen zu wollen, steht nun erneut unter Druck. Daß beim derzeitigen Stand der Aufarbeitung von Beweismitteln in diesem Umfang nicht weiter verhandelt werden kann, ist klar. Daß die Aussetzung des Verfahrens wegen des Versagens des Kammergerichts und eklatanten Fehlverhaltens der Bundesanwaltschaft zwingend die Aufhebung der Untersuchungshaft erfordert aber auch. Bis zum 4. Oktober möchte Richterin Hennig darüber nachdenken, was sie zu tun gedenkt.

Volker Eick

MAIL
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