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Datum:
22.03.2003
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Zeitung:
junge Welt
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Titel:
Berliner RZ-Prozeß vor dem Aus?
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Berliner RZ-Prozeß vor dem Aus?
Verwaltungsgericht: Sperrung vollständiger Vernehmungsprotokolle
mit dem Kronzeugen rechtswidrig
Zwei Jahre nach seinem Beginn droht dem vor dem Kammergericht Berlin
geführten Prozeß um Aktionen der »Revolutionären
Zellen« nach 120 Verhandlungstagen das Scheitern. Hintergrund ist
ein Beschluß des Verwaltungsgerichts Berlin, der am Mittwoch
bekannt wurde. Der Angeklagte Harald G. hatte vor dem Gericht auf
Herausgabe ungeschwärzter Vernehmungsprotokolle des Verfassungsschutzes
mit dem Kronzeugen Tarek Mousli geklagt. Das Bundesinnenministerium
hatte die Schwärzungen in einer sogenannten Sperrerklärung
damit begründet, ein Bekanntwerden dieser Passagen würde
»dem Wohl des Bundes Nachteile« bringen. Die Verwaltungsrichter
halten diese Sperrerklärung allerdings für rechtswidrig.
In ihrem Beschluß stellen sie fest, daß eine anhängige
Klage gegen die Sperrerklärung Aussicht auf Erfolg habe. Gleichzeitig
will das Verwaltungsgericht das Bundesinnenministerium nicht im
Eilverfahren zur Herausgabe der ungeschwärzten Vernehmungsprotokolle
verpflichten. Vielmehr sei für eine Entscheidung in dieser
Angelegenheit das Hauptsacheverfahren abzuwarten. Allerdings habe
Harald G. »Anspruch auf Aussetzung der Hauptverhandlung«. Dies könnte
allerdings das Ende des Strafprozesses bedeuten. Denn die Verhandlung
kann in der Regel längstens für 30 Tage unterbrochen werden,
das Verfahren beim Verwaltungsgericht aber dauert Monate, wenn nicht
Jahre.
Doch nicht nur an diesem Punkt bringt der Beschluß der Verwaltungsgerichtskollegen
die Richter des Kammergerichts in die Bredouille. Auch ihre Ausführungen
in puncto Aussagegenese des Kronzeugen Tarek Mousli, auf dessen
Beschuldigungen die Anklage gegen die vier Männer und eine
Frau im wesentlichen beruht, haben es in sich. So stellen die Verwaltungsrichter
hinsichtlich der Sperrerklärung des Innenministeriums fest,
daß sie »dem Hauptanliegen der Verteidigung, nämlich
eine bestimmte ›Entwicklung‹ des Aussageverhaltens des Kronzeugen
Mousli belegen zu wollen, nur einen kurzen Absatz widmet«. In diesem
Absatz wird argumentiert, eine Beeinflussung des Aussageverhaltens
des Kronzeugen sei bei einer entsprechenden Überprüfung
nicht festgestellt worden. Nach Auffassung der Verwaltungsrichter
sei diese Begründung jedoch schon »deswegen nicht tragfähig,
weil sie bereits durch den Inhalt der nicht geschwärzten Protokollteile
widerlegt wird«. Diesen sei nämlich zu entnehmen, »daß
eine bestimmte Vernehmungsweise quasi Geschäftsgrundlage« gewesen
sei, »die naturgemäß zu einer Veränderung der Aussageinhalte
geführt haben muß«.
Dem Erinnerungsvermögen Mouslis sei, so die Richter, mit
»unterstützender Hilfe« auf die Sprünge geholfen worden,
als ihm unter anderem Namen und Fotos »seitens der Vernehmenden
vorgenannt« wurden. Unabhängig davon, ob es sich dabei um ein
»Soufflieren« handelt, wie es die Verteidigung nennt, oder ob es
»schlicht ein Wiedererlangen zwischenzeitlich in Vergessenheit geratener
Kenntnisse« ist, könne »nicht ernstlich bezweifelt werden,
daß der dem Zeugen für seine Aussagen zur Verfügung
stehende Kenntnisstand einer bestimmten ›Entwicklung‹ unterworfen
war«. In Frage stehe also nur, in »welchem Umfang und welche Themen
betreffend die ›Entwicklung‹ stattgefunden hat«.
Offiziell hat das Kammergericht zu diesem Beschluß noch
nicht Stellung genommen. Ob es von sich aus das Verfahren aussetzt,
dazu äußerte sich der Senat am Donnerstag während
der Verhandlung nicht. Die Verteidigung kündigte an, am nächsten
Verhandlungstag entsprechende Aussetzungsanträge zu stellen,
falls der Senat bis dahin nicht gehandelt habe.
Hohe Wellen schlugen am Donnerstag auch die am vorletzten Verhandlungstag
bekannt gewordenen BKA-Ermittlungen zu den Mietverhältnissen
im Haus Oranienstraße 9 in den Jahren 1985-90. Am 14. März
hatte Bundesanwalt Bruns diese dem Gericht und der Verteidigung
bislang vorenthaltenen Ermittlungsakten überraschend präsentiert.
Am Mittwoch verteidigte er sich, diese Akten seien nicht zuletzt
aufgrund der Arbeitsüberlastung beim BKA nach dem 11. September
2001 erst am 11. März diesen Jahres bei ihm gelandet. Die Verteidigung
wertet das plötzliche Auftauchen als erneuten Beweis dafür,
daß es in diesem Verfahren offensichtlich sogenannte Strukturakten
gibt, in denen Ermittlungen abgelegt werden, die Aussagen Mouslis
entkräftende Ergebnisse beinhalten und die dann dem Senat und
der Verteidigung von den Ermittlungsbehörden vorenthalten werden.
Beat Makila
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