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Presse

Datum:
19.12.2001

Zeitung:
junge Welt

Titel:
Verurteilung um jeden Preis?

Verurteilung um jeden Preis?

"Berliner RZ-Prozeß": Unterschlagene Beweise, unnötige U-Haft und offenkundige Lügen

Genau zwei Jahre liegt der Überfall von über 1000 Berliner Polizeibeamten und Einheiten der GSG 9 am 19. Dezember 1999 auf das Berliner Kultur- und Politikzentrum Mehringhof zurück. Zur gleichen Zeit wurden eine Frau in Frankfurt/M. und zwei Männer in Berlin festgenommen. Wenig später wurden zwei weitere Personen inhaftiert. Alle unter dem Vorwurf, Mitglieder der "Revolutionären Zellen" (RZ) zu sein. Seit über neun Monaten wird nun im Kriminalgericht Moabit gegen Axel H., Hausmeister des Mehringhof, Harald G., Mitarbeiter der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration, gegen Sabine E., Frankfurter Galeristin, ihren Ehemann Rudolf Sch. und Matthias B., Leiter des Akademischen Auslandsamtes der TU Berlin, verhandelt. Sie sollen wegen RZ-Mitgliedschaft und verschiedener Anschläge in den 80er und frühen 90er Jahren verurteilt werden, zu denen der Sprengstoffanschlag auf die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber (ZSA) vom Februar 1987 und ein mißlungener Anschlag auf die Berliner Siegessäule im Januar 1991 gehören. Das einzige "Beweismittel" in diesem Prozeß ist ein Kreuzberger Karatelehrer, ein sogenannter "Kronzeuge". Es zeichnet sich ab, daß Bundeskriminalamt (BKA) und Bundesanwaltschaft (BAW) die Berliner RZ mit Hilfe des "Kronzeugen" Tarek Mousli konstruiert haben.

Suche nach Sprengstoff

Bereits die Vorgeschichte zu diesem Prozeß hat es in sich. Im März 1995 wird Sprengstoff aus dem Keller des späteren "Kronzeugen" gestohlen. Wie sich herausstellt, handelt es sich um den Sprengstoff Gelamon 40 aus dem ehemaligen VEB Schönebeck in der DDR. "Das Gelamon 40" sei, so teilt der Betrieb auf Anfrage mit, "1987 mit großer Wahrscheinlichkeit an Sonderbedarfsträger" - die Nationale Volksarmee oder das Ministerium für Staatssicherheit - "ausgehändigt worden." Berlins Polizei meldet den Fund sofort an das BKA, doch wollen BAW und BKA davon erst im November 1997 erfahren haben. Nun lautet das Ergebnis, der Sprengstoff stamme aus einem Einbruch bei der Firma Klöckner Durilit in Salzhemmendorf. Ermittlungen in Schönebeck selbst wurden nicht angestellt. Unklar ist auch, warum das BKA drei Jahre verstreichen ließ, bevor es nach eigenen Angaben mit ersten Ermittlungen begann. Die Verteidigung hat inzwischen verlangt, die bisher unbekannten BKA-Ermittlungsakten von 1995 beizuziehen. Widersprüchlich sind auch Mouslis Angaben zum Verbleib des restlichen Sprengstoffs. Er will ihn im März 1995 in einem Wassergraben versenkt haben, der ihm aber, so seine damalige Lebensgefährtin, zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht bekannt war.

Ungereimtheiten

Ungereimtheiten gibt es auch an anderer Stelle. Im Zuge der BKA-Ermittlungen fand sich die damalige Lebensgefährtin Mouslis, Karmen T., bereit, gegen ihn auszusagen. Mousli, so T., hatte ihr gegenüber die Knieschüsse auf den damaligen Asylrichter beim Berliner Bundesverwaltungsgericht, Dr. Günther Korbmacher, zugegeben: "Ich habe geschossen". Für diese Aussage, deren Glaubwürdigkeit weder vom BKA noch von der BAW in Zweifel gezogen worden war, wurde ihr 1999 das Zeugenschutzprogramm angeboten - zum Schutz vor Mousli und "seiner" RZ, denn mittlerweile wurde gegen ihn als "Rädelsführer" und damit "Kopf" der Berliner RZ ermittelt. Und genau diesen Kopf versuchte er sodann Stück für Stück aus der Schlinge der BAW zu ziehen - wie sich zeigen sollte, weitgehend mit Erfolg.

Denn die Aussage von Karmen T. wurde fortan ignoriert. Mousli schlug sich nämlich auf die Seite des BKA und wurde dafür im Dezember 2000 mit zwei Jahren auf Bewährung für einfache Mitgliedschaft in den RZ belohnt. Seitdem wird er monatlich mit 2400 Mark alimentiert - plus Pkw, Telefon und Spesen.

Zur Zeit kann dieses einzige "Beweismittel" nicht vernommen werden, denn erst muß unterschlagenes Beweismaterial gewürdigt werden. Aus einem Teil dieses Materials - insgesamt sind über 700 Stunden abgehörte Telefongespräche der Verteidigung und dem Gericht vorenthalten worden - geht bereits jetzt hervor, daß das BKA mindestens einer Zeugin aufgetragen hatte, gegenüber dessen Anwalt so lange zu lügen, bis Mouslis Geschichte als "wasserdicht" galt. Auch diese Anweisung zum Lügen befindet sich in dem unterschlagenen Material.

Verurteilungswille des Gerichts

All das ficht den 1. Strafsenat des Berliner Kammergerichts mit seiner Vorsitzenden Richterin, Gisela Hennig, nicht an. So wurde der Antrag der Verteidigung abgelehnt, das durch die Unterschlagung von Beweismaterial in Schieflage geratene Verfahren so lange auszusetzen, bis dieses Material ausgewertet ist. Ebensowenig wurde Anträgen entsprochen, die Gefangenen aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Dabei kann wegen familiärer Bindungen und beruflicher Integration bei keinem von Fluchtgefahr gesprochen werden. Das belegt bereits das Verhalten des im sogenannten OPEC-Verfahren freigesprochenen Rudolf Sch., der danach - schon mit der drohenden Anklage in Berlin konfrontiert - keinesfalls untertauchte. Auch ein weiterer von Mousli Beschuldigter, der seit Jahren in Kanada lebende Lothar E., entzieht sich dort keinesfalls den Verfolgungsbehörden, was er durchaus könnte. Diese Verweigerungshaltung des Gerichts nährt den Verdacht, daß hier auf eine Verurteilung um jeden Preis gezielt wird.

"Kronzeugen"- Phantasien

Mouslis Behauptung, Harald G. sei am Anschlag auf die ZSA in Berlin beteiligt gewesen, ist nachweislich falsch. Harald G. hat ein Alibi. Er befand sich zu diesem Zeitpunkt im Polizeigewahrsam. Mouslis weitere Aussage, Rudolf Sch. sei bei den Knieschüssen auf den damaligen Chef der Berliner Ausländerbehörde, Harald Hollenberg, der Schütze gewesen, deckt sich ebenfalls nicht mit den Ermittlungsergebnissen. Das Opfer sprach von einer Frau, die geschossen habe. Die Beweisaufnahme vor Gericht ergab, daß Zeugen bereits unmittelbar nach der Tat Personenbeschreibungen abgaben die allerdings auf keinen der Angeklagten zutreffen. Auch bei Vorlage von Lichtbildern haben dieselben Tatzeugen andere Personen als Tatbeteiligte benannt. Diese Lichtbilder, die nach Auskunft eines Polizeizeugen bis 1999 noch vorhanden waren, sind heute unauffindbar. Zudem will Mousli für diese Aktion zusammen mit einem anderen RZ-Mitglied das Fluchtauto gestohlen haben, dabei wurde das damalige Tatfahrzeug nachweislich gekauft.

Am deutlichsten offenbarten sich die Lügen des Kronzeugen bei den beiden Durchsuchungen im Berliner Mehringhof, den Mousli als Sprengstofflager denunziert hatte. Die Polizeibeamten richteten bei der Durchsuchung Zerstörungen von über 100000 Mark an, fanden aber weder Waffen noch Sprengstoff. Auch eine zweite Durchsuchung, diesmal mit einer Videodirektschaltung unter Anleitung des entfernt sitzenden Mousli, brachte nichts zutage. Dabei wurden erneut Beweismaterialien vom BKA unterschlagen, diesmal Videobänder der Durchsuchung. Offenbar sollte vertuscht werden, daß Mousli keineswegs "zielgerichtet Angaben" gemacht hatte, sondern ein angebliches Sprengstofflager erst herbeiphantasieren mußte.

Volker Eick

MAIL
http://www.freilassung.de/presse/berlin/jw191201.htm