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Presse

Datum:
14.08.2006

Zeitung:
junge Welt

Titel:
Im Zweifel gegen Angeklagte

Im Zweifel gegen Angeklagte

Nach Zurückweisung der Revision eines Betroffenen durch den BGH: Letztes Urteil im Berliner Prozeß gegen mutmaßliche Aktivisten der »Revolutionären Zellen« rechtskräftig

Beat Makila

Der Prozeß hatte es von Anfang an in sich: Auf der Anklagebank saßen fünf mutmaßliche »Feierabendterroristen« der Revolutionären Zellen (RZ). Die Bundesanwaltschaft machte sie für einen Sprengstoffanschlag auf die Berliner Siegessäule 1991 und für Aktionen im Rahmen der sogenannten RZ-Flüchtlingskampagne verantwortlich. Dabei ging es vor allem um einen Anschlag im Jahr 1987 auf die Berliner Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber und die bereits verjährten Knieschußattentate auf den Chef der Berliner Ausländerbehörde 1986 und einen Bundesverwaltungsrichter 1987 als Repräsentanten einer rigiden Flüchtlingspolitik. Am Freitag wies nun der Bundesgerichtshof in Karlsruhe die Revision eines der nach einem langwierigen Prozeß 2004 nur aufgrund der Aussage eines Kronzeugen zu einer langjährigen Haftstrafe Verurteilten zurück (siehe jW vom Samstag).

Die Aussagen des Kronzeugen ­Tarek Mousli hatten in den Ermittlungen gegen die RZ die Wende gebracht. Zuvor konnten die Behörden keine brauchbaren Hinweise auf die Täter finden. Mousli machte nach seiner Verhaftung 1999 umfangreiche Aussagen, um seine eigene Haut zu retten.

Der Prozeß zog sich über drei Jahre hin. An den insgesamt 174 Verhandlungstagen traten zahlreiche Widersprüche in den Aussagen Mouslis zutage. Es wurde allzu deutlich, daß seine Anschuldigungen, die, wie er selbst eingestand, meist nur auf Informationen aus zweiter Hand beruhten, mit Hilfe des Bundeskriminalamts und der Dienste unterfüttert worden waren. Im März 2004 verurteilte das Berliner Kammergericht die Angeklagten dennoch zu hohen Haftstrafen.

Die Entscheidung des BGH fügt diesem Prozeß ein bemerkenswertes Schlußkapitel hinzu. Nach bisheriger Rechtsprechung hätte das Verfahren neu aufgerollt werden müssen, da der Angeklagte Harald G. laut Sitzungsprotokoll zeitweise ohne Verteidiger im Berliner Gerichtssaal saß. Bislang galt im deutschen Strafrecht die »formelle Beweiskraft des Sitzungsprotokolls«. Mit anderen Worten: Nur das, was im Protokoll steht, ist geschehen. Daß sich später die Teilnahme der Verteidigerinnen von G. an allen Verhandlungsterminen rekonstruieren ließ, dürfte also keine Rolle spielen. Der BGH befand jedoch, die Revision habe »wider besseren Wissens« einen Verfahrensverstoß behauptet.

Mit seiner Grundsatzentscheidung wertete der BGH die an sich erlaubte, aber »bewußt unwahre Verfahrensrüge« als unzulässig. Hintergrund der aktuellen Entscheidung ist eine seit langem im BGH schwelende Auseinandersetzung um diese Frage. Strafrechtler befürchten nun, daß das bestehende Ungleichgewicht zu Lasten von Angeklagten in der Revison noch verstärkt wird.

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