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Datum:
12.10.2001
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Zeitung:
junge Welt
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Titel:
Kammergericht verpasst Chance
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Kammergericht verpasst Chance
Im Berliner RZ-Verfahren wird weiter verhandelt
Wer geglaubt hatte, das Berliner Kammergericht werde sich wenigstens
ernsthaft mit der Argumentation der Verteidigung auseinandersetzen,
sieht sich seit gestern eines besseren belehrt. Das Verfahren wird
fortgesetzt. Seit vier Wochen wurde darüber gestritten, ob
eine faires Verfahren für die fünf der Mitgliedschaft
in den "Revolutionären Zellen" (RZ) und mehrerer Anschläge
verdächtigten Angeklagten überhaupt noch möglich
ist, wenn, wie geschehen, mehrfach Beweismaterial unterschlagen
und dem Kronzeugen blind vertraut wird. Das von der Bundesanwaltschaft
(BAW) unterschlagene und erst durch die Verteidigung entdeckte Beweismaterial
führt daher auch nicht dazu, die Hauptverhandlung auszusetzen,
um das Material zu prüfen. Die insgesamt 955 unterschlagenen
Tonbandmitschnitte und 528 weitere Bänder aus Telefonüberwachungen
des Kronzeugen Tarek Mousli gelten dem Kammergericht als nicht hinreichend
wichtig.
Dabei hatten die Rechtsanwältinnen Würdinger und Studzinsky
bereits aus einer Stichprobe dieser Bänder nachweisen können,
dass sich auf diesen Bändern Zeugenmanipulationen ebenso nachweisen
lassen, wie Lügen des Kronzeugen gegenüber dem Kammergericht
(jW berichtete). Darüber hinaus - ein Sachverhalt, der zunächst
auch das Interesse des Gerichtes fand - stellte sich bereits in
dieser Stichprobe heraus, dass weder vom Bundeskriminalamt (BKA)
noch von der BAW der Aufbau und die Genese des Kronzeugen vor dem
Gericht richtig dargestellt wurden. Dieses Interesse scheint verflogen.
Es sei, so die Vorsitzende Richterin Gisela Hennig vielmehr, "der
Verteidigung zumutbar", parallel zum Prozeß die mehr als 700
Stunden füllenden Bänder abzuhören. Sie selbst -
kurz vor der Pensionierung stehend - macht nicht den Eindruck, sich
aktiv an der Wahrheitsfindung beteiligen zu wollen. Bereits in der
vergangenen Woche hatte die BAW die Transkription der Bänder
"aus Kapazitätsgründen" abgelehnt, so daß auch diese
Aufgabe von der Verteidigung allein geschultert werden müsste.
Angesichts dieser andauernden Blockade der Wahrheitsfindung durch
das Kammergericht stellte die Verteidigung daher wenig überraschend
gestern einen Befangenheitsantrag gegen den Zweiten Strafsenat.
Es wird nun die Aufgabe des Ersten Strafsenats sein - er hatte seinerzeit
die Eröffnung des Verfahrens gegen den Mitangeklagten Rudolf
Sch. abgelehnt, weil ihnen dieser im Frankfurter OPEC-Verfahren
bereits als in der Sache freigesprochen galt -, den Willen zur Wahrheitsfindung
der KammergerichtskollegInnen zu prüfen.
Den seit über 15 Monaten in Untersuchungshaft befindlichen
Angeklagten muß der bisherige Prozeßverlauf deutlich
als zynischer Umgang mit ihren Rechten vorkommen. Sie sind die eigentlich
Leidtragenden der Versäumnisse und Unterschlagungen von Bundesanwaltschaft
und Bundeskriminalamt, denen sich das Kammergericht nicht entgegenstellen
mag.
Volker Eick
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