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Presse

Datum:
14.01.2004

Zeitung:
Jungle World

Titel:
Die Zelle ist offen

Die Zelle ist offen

In der nächsten Woche werden im Verfahren gegen mutmaßliche Mitglieder der Revolutionären Zellen die Urteile erwartet

Ein Lied von Nena hätte der Oberbundesanwalt Michael Bruns abspielen können: »Irgendwie, irgendwo, irgendwann«. Stattdessen hielt er im Berliner Verfahren gegen fünf angebliche Mitglieder der Revolutionären Zellen (RZ) ein sechsstündiges Plädoyer und wiederholte doch nur die Anklageschrift. Irgendwie waren alle Angeklagten an den Vorbereitungen beteiligt, irgendwo standen sie bei den Anschlägen der RZ im Weg herum, und irgendwann haben sie zumindest mitdiskutiert, als es um Erklärungen der als terroristisch eingestuften Gruppierung ging.

Mit dem Paragraphen 129 a StGB (Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung) hat die Bundesanwaltschaft (BAW) ein Instrumentarium in der Hand, das es erlaubt, Menschen zu verurteilen, ohne konkretere Beweise vorlegen zu müssen. Dennoch weiß auch Bruns, auf welch wackligen Beinen seine Vorwürfe stehen, und blieb deshalb mit dem Antrag auf Haftstrafen zwischen zweieinhalb und fast vier Jahren im unteren Drittel des Strafmaßes, das angesichts der Anklage verhängt werden könnte.

Fast drei Jahre lang verhandelte das Berliner Kammergericht unter dem Vorsitz von Gisela Hennig gegen den Werkzeugmacher Rudolf Schindler (61), die Galeristin Sabine Eckle (57), den früheren Leiter des Auslandsamtes der Technischen Universität Berlin, Matthias Borgmann (55), den Politologen Harald Glöde (55) sowie den Hausmeister des Mehringhofs, Axel Haug (53). Neben der Mitgliedschaft in den RZ wirft die BAW den fünf Personen in unterschiedlichen Zusammensetzungen eine Beteiligung an den Knieschüssen auf den damaligen Leiter der Berliner Ausländerpolizei, Harald Hollenberg, den Vorsitzenden Richter des Bundesverwaltungsgerichts, Günter Korbmacher, in den Jahren 1986 und 1987 vor sowie mehrere Sprengstoffanschläge, darunter 1991 einen auf die Siegessäule.

Die Vorwürfe beruhen fast ausschließlich auf den Aussagen des Kronzeugen Tarek Mousli. Nach über 160 Verhandlungstagen plädierten in den letzten Wochen sowohl die BAW als auch die VerteidigerInnen der fünf Angeklagten. Mit einem Urteil rechnen die am Prozess Beteiligten spätestens nächste Woche.

Aufgeklärt wurde in den drei Jahren nichts. Nach wie vor stehen die Beschuldigungen und Behauptungen Mouslis im Raum, denen das Bundeskriminalamt (BKA), die BAW und das Gericht nur allzu gerne glauben. Aus der Sicht der BAW, der sich wohl das Gericht anschließen wird, hätten sich Mouslis Aussagen »im Kern bestätigt«. Dabei beziehen sich die Ankläger vor allem darauf, dass im Laufe des Prozesses Schindler, Eckle und Haug in ihren Einlassungen zugaben, zumindest am Rande etwas mit den RZ zu tun gehabt zu haben. Doch sagt dies erstens nichts über die beiden weiteren Angeklagten Borgmann und Glöde. Und zweitens erzählten die drei die Geschichte völlig anders als Mousli.

Beispielsweise gab Schindler zu, die Knieschüsse auf Korbmacher von einem Motorrad aus abgegeben zu haben. Allerdings habe Mousli eben nicht fünf Ecken weiter Schmiere gestanden, sondern sei als Fahrer des Motorrads unmittelbar an der Tat beteiligt gewesen. Die BAW nannte das eine »Schutzbehauptung«.

Akribisch nahmen einige der VerteidigerInnen in ihren Plädoyers noch einmal alle Ungereimtheiten und Widersprüche des Kronzeugen auseinander. ProzessbeobachterInnen unterstellten, dass sich Mouslis »Erinnerungsvermögen« erst während seiner Zusammenarbeit mit dem BKA und dem Verfassungsschutz entwickelt habe, verlockt durch das Angebot von 1 200 Euro netto pro Monat plus Nebenkosten im Zeugenschutzprogramm des BKA. Bei der Verweigerung einer Kooperation mit den Behörden hätte ihm eine mehrjährige Haftstrafe gedroht.

Nachweislich falsche Behauptungen Mouslis wie die, dass Glöde 1987 an dem Sprengstoffanschlag auf die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber beteiligt gewesen sein soll, werden vom BKA als im Nachhinein korrigiert und »als Ringen um die Wahrheit« dargestellt. Glöde saß zum Tatzeitpunkt in Polizeigewahrsam. Alle anderen von Mousli Beschuldigten sollen aber »wirklich« am Tatort gewesen sein.

Bei zwei aufwändigen Durchsuchungen im Berliner Alternativzentrum Mehringhof wurden weder das von Mousli behauptete Sprengstoffdepot noch Spuren eines solchen gefunden. Doch die BAW hat weiterhin »keinen Zweifel, dass es ein Sprengstoffdepot im Mehringhof gab«. Es sei eben nicht jedes potenzielle Versteck untersucht worden, sagt Bruns.

Die Grundsätze eines rechtsstaatlichen Verfahrens sind hier auf den Kopf gestellt. Faktisch hätte die Verteidigung nachweisen müssen, dass es nie ein Sprengstoffdepot im Mehringhof gab, und nicht etwa die Anklage ihre Vorwürfe. Doch wie soll das gehen? So missglückten auch die Versuche der Verteidigung, mittels etlicher Gutachter den »objektiven Beweis« dafür zu finden, dass Mousli ein Paket mit Sprengstoff nicht wie behauptet im Jahr 1995, sondern erst 1999 in einen Wassergraben nördlich von Berlin geworfen habe. Immer fand das Gericht einen Dreh, um die Expertisen der Verteidigung zu relativieren. Der Kronzeuge konnte keiner Lüge überführt werden. Sogar als sich die Rentnerin Barbara W. als Zeugin meldete und aussagte, sie habe die Schüsse auf die Unterschenkel von Hollenberg abgegeben und nicht Schindler oder Eckle, wurde dies von der BAW als »von Anfang bis Ende erlogen« bezeichnet.

Überraschenderweise forderte Bundesanwalt Bruns zu Beginn seines Plädoyers einen politischen Prozess und warf den Angeklagten vor, vor Gericht nicht über eine »ideologische Aufarbeitung der RZ zu diskutieren«, sondern sich »wie eine Autoschieberbande zu verhalten«. Dagegen ging die Anwältin Silke Studzinsky in ihrem Plädoyer auf die Umstände der »Flüchtlingskampagne« der RZ vom Ende der achtziger Jahre ein. Sie zitierte aus Urteilen Korbmachers, in denen er Folter als eine gewöhnliche Praxis der Polizei in der Türkei bezeichnete und daher als Grund für die Anerkennung eines Asylantrages in der BRD ablehnte. In einem politischen Prozess sei die Suche nach der Wahrheit außer Kraft gesetzt. »Es macht daher keinen Sinn, erneut auf die Widersprüche, Halbwahrheiten und eindeutigen Lügen des Kronzeugen einzugehen«, sagte Studzinsky. Dies sei in fast 70 Beweisanträgen und Erklärungen sattsam geschehen. Wie die meisten ihrer KollegInnen forderte auch sie einen Freispruch.

Ebenfalls ungeklärt blieb während des Verfahrens, ob nicht die meisten Vorwürfe ohnehin verjährt sind. Sogar Mousli hatte bestätigt, dass im Herbst 1989 bei einem gemeinsamen Waldspaziergang der beiden Berliner Gruppen der RZ darüber diskutiert wurde, den bewaffneten Kampf einzustellen.

Danach wäre der Vorwurf nach Paragraph 129a bereits im Herbst 1999, kurz vor der Verhaftung der Angeklagten verjährt gewesen, übrig blieben die Vorwürfe des Verstoßes gegen das Sprengstoffgesetz. Die BAW erweiterte deshalb im Verlauf des Verfahrens die Vorwürfe gegen drei der Angeklagten auf Rädelsführerschaft in den RZ. Ein solcher Tatbestand verjährt erst nach 15 Jahren.

In seinem Schlusswort warnte der Rechtsanwalt Johannes Eisenberg, der die Beschuldigte Sabine Eckle vertritt, das Gericht: Noch hätten die RichterInnen die Chance, ein Fehlurteil zu vermeiden, das dann sowieso vom Bundesgerichtshof (BGH) kassiert werde. Er erinnerte an einen anderen politischen Prozess vor dem Berliner Kammergericht. 1984 verurteilte es zwei Herausgeber der autonomen Monatszeitschrift radikal zu zweieinhalb Jahren Gefängnis wegen »Werbung für die RZ«. Jahre später hob der BGH das Urteil auf. Übrig blieben 3 000 Mark Geldstrafe pro Person, weil »irgendwie« was dran gewesen sei.
von christoph villinger

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