Datum:
01.09.2000
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Zeitung:
Freitag 36
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Titel:
Heartbreak Hotel
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Heartbreak Hotel
ALLTAG"A 4. Ein Zugang!" - Zum ersten Mal in Untersuchungshaft
Matthias Borgmann
Raustreten. Nehmen Sie Ihre Sachen mit." Meine Sachen? Ach so, die
Zahnbürste, den Kuli, einen Briefumschlag. "Kommen Sie mit. Gehen
Sie bis zur Linie vor." Ich komme mit. An der Linie steht schon eine
Gruppe. Der Fang der vergangenen Nacht. Dann erst mal Wartezelle.
Eingangsuntersuchung. Zwei Vierschrötige mit weißen Hosen.
"Ausziehen." Hemd, Hose, Socken. Ich gucke fragend. "Auch
den Schlüpfer" outet er sich als Damenwäscheträger:
Größe, Gewicht. "Umdrehen. Backen auseinander." Die
Würde des Menschen ist ertastbar. Merkmale: keine. Befund:
rüstig.
Wartezelle. Abmarsch Hauskammer. Wartezelle. Ich nehme erste
Blickkontakte auf. Man wird einzeln aufgerufen. Am Schreibtisch ein
Beamter. Vor ihm meine Tasche. Dann wollen wir mal sehen. Gürtel,
Schnürsenkel, Uhr bekomme ich zurück. Zwei Bücher und das
Aftershave werden zur Habe genommen. Zur Habe nehmen ist wegnehmen ohne
Enteignung. Ich bekomme: Ein Kissen, zwei Wolldecken, Bettzeug, vier
Handtücher, einen großen Teller, einen tiefen Teller, einen
Becher, ein Schälchen, Besteck, ein Stück Seife, Zahnpasta.
Wartezelle. Man wird aufgerufen.
Wir warten lange. Einer lacht mich an. "Erste Mal?"
"Scheiße hier, Moabit ganz große Scheiße.
Hoffentlich nix B-Flügel." Ich hab keine Ahnung, lächle.
Pause. Ich zeige auf seinen Mund. "Deine Zähne, wo?" Er
lacht. "Polizei, kaputt." Ich werde gerufen. Zentralbereich. Der
Wärter brüllt. "A 4. Ein Zugang!" Dann schickt er mich
die Treppen hoch. A-Flügel. Glück gehabt.
Mein Haftraum ist zehn Quadratmeter groß. Ein Bett, ein Tisch, ein
Stuhl. Mit Klo und Waschbecken. Also eine echte Nasszelle. Ein Regalbrett
(60 cm), eine Lampe (60 Watt), ein Fenster (vergittert, doppelt). Ich
räume meine Sachen ein. Die Tür wird aufgeschlossen. Ein
Wärter steht draußen. Ein Häftling kommt rein. Er nimmt
meinen Teller, den tiefen. Kommt zurück mit Kartoffeln, Sauce,
Rotkohl, einer Bratwurst. "Mahlzeit. Brauchst du noch was?" Ich
brauche alles. Sage: "Nein, danke."
Am nächsten Morgen um 6.15 Uhr Wecken. Tür auf.
Frühstück. Kaffee in den tiefen Teller. Drei Scheiben Brot auf
den flachen Teller. Marmelade ins Schälchen. Ich balanciere.
Um 7.30 Uhr Hofgang. Kreis-Lauf-Training im Wortsinn. Alle
entgegengesetzt zum Uhrzeiger. Ungefähr 40 Männer. Höchstens
zehn Deutsche. Ich gehe im Kreis. Einer spricht mich an. "Wie
geht's? Alles klar." Wir lächeln beide, alles klar. Wir gehen
zusammen. Und wieder die Frage: "Brauchst du etwas?" Ich brauche
immer noch und kann jetzt fragen. Wo gibt es warmes Wasser? Wo kann ich
Sachen bekommen? Kann man hier einkaufen? Gibt es etwas zum Lesen? Kann man
hier fernsehen? Und überhaupt: Wie läuft's? Er antwortet
bereitwillig. Lächelt immer wieder oder lacht. Ich stelle mich vor.
Wir geben uns die Hand.
Nach drei Tagen wächst mein Hausstand. Ich habe eine Thermoskanne
geliehen bekommen, ein anderer hat mir etwas Kaffee geschenkt. Ich habe
meine erste Bestellung aufgegeben: einen Tauchsieder.
Der erste Besuch. Meine Frau und mein Sohn kommen. Der Beamte
erklärt: "Hier herrscht Berührungsverbot. Aber Sie
dürfen sich zum Beginn und zum Ende die Hand geben. Wenn Sie etwas
über Ihr Verfahren sagen, breche ich sofort ab. Setzen Sie sich dort
hin." Neben mir ein Beamter des Bundeskriminalamtes. Daneben der
Wortführer der Anstalt. Meine Frau und mein Sohn dürfen
eintreten. Ich stehe auf und nehme sie trotz trennenden Tisches in den Arm.
"Brauchst du etwas?" Ich brauche alles.
Nach zehn Tagen die erste Post. Zwei Briefe, drei Telegramme. Die
Telegramme brauchen viel Zeit von Kreuzberg-Moabit / Karlsruhe-Moabit. Sie
sind jetzt sicherheitsüberprüft und dürfen ausgehändigt
werden. "Ich liebe dich" wurde nicht beanstandet.
Ausgelassene Stimmung beim Duschen. Die halbe Station gemeinsam. Zweimal
ein Dutzend Duschköpfe hängen von der Decke. Rechts duschen die
Muselmanen, links die Christen. Die einen mit Hose, die anderen ohne. Aber
alles Warmduscher. Davor und danach immer Zeit für eine Zigarette.
Und wieder Hofgang. Einer guckt mich an. "Ich kenne dich." Wir
setzen uns. "Wo verkehrst du?" Nein, keine gemeinsamen Kneipen,
aber dann: "Wo wohnst du denn?" Kreuzberg. Er lacht, wendet sich
an die Umstehenden: "Mein Nachbar." Wir reden über unser
Warum. Und du, wie lange schon? Und ich frage auch ihn: "Deine
Zähne, was ist passiert?" Festnahme durch das SEK.
"Verstehst du?" Ich verstehe.
Es gibt drei Mahlzeiten am Tag. Frühstück um 6.45 Uhr,
Mittagessen um 12 Uhr, Abendbrot um 15 Uhr. Es gibt verschiedene
Ein-Teller-Menüs: Gesunde Kost. Leichte Kost. Diät-Kost.
Moslem-Kost. Vegetarische Kost. Standard ist die "Gesunde Kost",
alles andere auf Antrag, gegebenenfalls unter Beifügung eines
ärztlichen Attestes. So erfahre ich es durch den Schließer. Sein
Motto: "Fragen Sie uns. Wir sind für Sie da." Gestern gab es
Tortellini. Die sind gesund, leicht, diät, moslem und vegetarisch.
Getrennt marschieren, vereint schlagen.
Einmal am Tag ist Umschluss. Außer dem Hofgang die einzige Stunde
an Werktagen (sonntags wegen Personalmangel gestrichen), wo wir nicht
eingeschlossen sind. Wir dürfen uns gegenseitig besuchen, aber immer
nur einzeln. Kein Skatspiel drin. Ich verabrede einen ersten Besuch auf dem
Hof. Er kommt. Seine Kaffeetasse in der Hand. Um den Hals den Tauchsieder.
In der Hosentasche eine Orange. Ich biete Tee oder Kaffee an. Ich offeriere
Erdnüsse (Geschenk vom Besuch, Automatenzug). Wir reden eine Stunde.
Lachen, sind ernsthaft. "Eine Mann kaputt. Staatsanwalt sagen sechs
Jahre, Richter machen neun. Jetzt Revision." Wie soll das gehen? Was
wird aus der Familie. Was passiert danach. Wir reden später
weiter.
"Ihr Anwalt ist da." Circa zwölf Türen.
Aufschließen. Zuschließen. Dann hinter einer Glasscheibe. Reden
über Mikro. "Ich soll dich grüßen."
"Danke." "Brauchst du etwas?" Ja, Hilfe, aber unter
diesen Umständen? "Find dich erst mal zurecht." Und dann ein
Blick in die ersten Akten. "Hast du meine Post schon?" Nein, auch
die Verteidigerpost wird kontrolliert. Von einem Lese-Richter. Und der ist
gerade krank. Oder in Urlaub. Wegen der Trennscheibe werden wir etwas
unternehmen. Notfalls bis zum Verfassungsgericht. Wie lange?
Der Hofgang heißt Freistunde. Wir spielen Federball. Die Federn
stammen von Tauben, so circa vier Federn. Der Ball besteht aus
zusammengeklebten Kreis-Scheiben aus Shampooflaschen, Durchmesser sechs
Zentimeter. Chilenische Erfindung, dort vielleicht ohne Taubenfedern.
Schön leicht, er darf nicht auf die Erde fallen. Rekord sind 21
Ballwechsel. Das Spielen auf dem Hof ist verboten. Unfallgefahr. Nach der
Stunde ruft der Schließer "Einrücken."
Spaßvögel rufen auch "Ausrücken". Neulich ist auf
Berta 2 wieder einer ausgerückt. Direkt in die Ewigkeit.
"Brauchst du was?" Ja.
Moabit, August 2000
Matthias Borgmann wurde am 18. 4. 2000 verhaftet und sitzt seitdem
in Untersuchungshaft. Es wird gegen ihn und fünf weitere Personen,
die alle ebenfalls in Haft sitzen, wegen § 129a "Mitgliedschaft
in einer terroristischen Vereinigung", unter anderem konkreter
Beteiligung an zwei Sprengstoffanschlägen (1987 Anschlag auf
die Zentrale Sammelstelle für Asylbewerber und 1991 auf die
Siegessäule in Berlin) ermittelt. Die Beschuldigungen stützen
sich allein auf die Aussage eines Kronzeugen, der selber dieser
Anschläge, der Mitgliedschaft nach § 129a und der Rädelsführerschaft
beschuldigt wird. Er hat sich als Kronzeuge zur Verfügung gestellt,
befindet sich mittlerweile auf freiem Fuß und kann mit Straffreiheit
beziehungsweise neuer Identität und finanzieller Unterstützung
durch die staatlichen Behörden rechnen.
Erst kürzlich hat der Bundesgerichtshof die Haftbeschwerden
aller Verteidiger - auf Aufhebung der Haftbefehle - abschlägig
entschieden, obwohl alle Beschuldigten über feste soziale Bindungen
im Bezug auf Familie und Arbeitsplatz verfügen. Selbst eine
Kautionsstellung in Höhe von 500.000 DM ist mit der Begründung
abgelehnt worden, wenn Freunde und Familie eine solche Summe aufbringen
könnten, wären sie auch in der Lage, die Flucht zu finanzieren.
Diese Argumentation führt die Kautionsregelung ad absurdum.
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