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Datum:
24.08.2001
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Zeitung:
Frankfurter Allgemeine Zeitung
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Titel:
Erschütterung durch intensiven Schmerz
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Erschütterung durch intensiven Schmerz
RZ-Prozeß: Kronzeugenaussage über ein
Schußwaffenattentat
"Waffen und schießen, das war Jon sein Ding", sagte der
Kronzeuge Tarek M. über einen seiner früheren Gefährten aus
den Revolutionären Zellen (RZ). Mit Jon ist Rudolf S. gemeint, der im
Moabiter Prozeß gegen fünf mutmaßliche RZ-Mitglieder unter
Anklage steht. Am gestrigen Verhandlungstag ging es um ein
Schußwaffenattentat, das zwei RZ-Leute im September 1987 auf den
Bundesverwaltungsrichter Günter Korbmacher verübten. Korbmacher,
der als Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht für
Asylverfahren zuständig war, wurde dabei durch Schüsse an den
Beinen verletzt.
Den Aussagen des Kronzeugen zufolge soll Rudolf S. bei diesem Anschlag
als Schütze im Einsatz gewesen sein. An den Namen des zweiten
Tatbeteiligten, der ein bei der Tat verwendetes Motorrad gefahren hat,
konnte sich Tarek M. jedoch nicht erinnern. Sowohl die Bundesanwälte
als auch die Verteidiger befragten den Kronzeugen ausführlich
über diese Erinnerungslücke. Rechtsanwalt Becker hielt es
für ausgesprochen unglaubwürdig, daß Tarek M., der sich
ansonsten recht präzise an die jeweiligen Tatanteile einzelner
Gruppenmitglieder erinnert, dazu ausgerechnet in diesem Fall nicht imstande
ist.
Der Kronzeuge will sich zum Zeitpunkt des Attentats in einer
"konspirativen Wohnung" aufgehalten haben, in der er gemeinsam
mit einem weiteren Gruppenmitglied den Polizeifunk abhörte.
Näheres über den Ablauf des Anschlags habe er im nachhinein durch
Rudolf S. erfahren. Eine frühere Lebensgefährtin von Tarek M.
hatte hingegen in einer polizeilichen Vernehmung ausgesagt, M. habe ihr
anvertraut, daß er selbst auf den Bundesverwaltungsrichter geschossen
hätte. Diese Aussage wurde von der Zeugin zu einem späteren
Zeitpunkt zurückgenommen und korrigiert. Tarek M. bestritt gestern
mehrfach, daß er als Fahrer des Motorrads an dem Attentat beteiligt
war. Seine frühere Lebensgefährtin Carmen T. habe bei ihrer
später zurückgenommenen Aussage "wohl etwas
durcheinandergebracht". Tarek M. hatte Carmen T. 1994 kennengelernt
und ihr nach und nach seine revolutionäre Vergangenheit offenbart.
Dies sei mitunter recht kompliziert gewesen, da Carmen T. als ehemalige
DDR- Bürgerin "keinerlei Bezug zur linken Szene hatte".
Deswegen habe er ihr historische Zusammenhänge und viele
einschlägige Begriffe erst erklären müssen.
Rechtsanwalt Becker versuchte, dem Kronzeugen in einer intensiven
Befragung Näheres über diese deutsch-deutschen
Verständigungsschwierigkeiten zu entlocken. Wie Frau T. "mit
ihrem DDR- Horizont" die RZ-Geschichte wohl verstanden haben mag, und
um welche Begriffserläuterungen es in den Zwiegesprächen denn
gegangen sei? "Imperialismus war geläufig in der DDR",
antwortete Tarek M., "aber mit ,Substitution' oder ,Autonomie'
konnte sie nichts anfangen." Sie habe ihn auch des öfteren
kritisiert, daß er "zu intellektuell daherrede". Das
"politisch-ideologische Vokabular" der "linken Szene"
sei ihr sehr fremd gewesen.
Über die Frage des "politisch-ideologischen Vokabulars"
gab es nach dem Anschlag auf Bundesverwaltungsrichter Korbmacher auch
innerhalb der Revolutionären Zellen heftigen Streit. Wie Tarek M.
berichtete, kritisierten mehrere RZ-Mitglieder den Stil, in dem die
Kommandoerklärung gehalten war, die der Öffentlichkeit das
Attentat "vermitteln" sollte. Für die umstrittenen Passagen
des Schriftstücks machte M. vor allem die Angeklagte Sabine E.
verantwortlich. Sie habe in das Bekennerschreiben im nachhinein eine
Aussage über "unser Recht zu richten" eingefügt.
In der Kommandoerklärung, die auf Anordnung der Vorsitzenden
Richterin verlesen wurde, hieß es zur Begründung des
Schußwaffenattentats: "Die Schüsse auf die Beine des
obersten Asylrichters sollen dem kalt ausgeheckten Unrecht, der
kodifizierten Brutalität, die das Leben so vieler Menschen
zerstört, einen konkreten Namen, ein Gesicht, einen Körper
verleihen. Diese Schüsse sollen ihn zweifach brandmarken. Sie sollen
ihn verletzen, eine nachhaltige Erschütterung seiner Existenz durch
einen intensiven körperlichen Schmerz und eine langwierige
körperliche Beeinträchtigung bewirken, und er soll leiden, damit
er bezahlt und versteht."
JOCHEN STAADT
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