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Datum:
21.12.2001
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Zeitung:
Frankfurter Allgemeine Zeitung
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Titel:
Wer kennt schon alle die Akten?
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Wer kennt schon alle die Akten?
45 Tage im endlosen RZ-Prozess
Mehrere höchstrichterlich angeordnete Lauschangriffe
auf die Telefone eines Terrorismusyverdächtigen beschäftigen
seit Monaten die Anwälte im Moabiter Prozeß gegen fünf
mutmaßliche Mitglieder der "Revolutionären Zellen"
(RZ). Rechtsanwältin Studzinsky benötigt, wie sie gestern
am 45. Verhandlungstag sagte, noch sieben Monate, um insgesamt
1400 vom Bundeskriminalamt gefertigte Tonbandkassetten abzuhören.
Auf dem Bandmaterial befindet sich Telefonkonversation von Tarek
M., dem jetzigen Kronzeugen der Anklage. Bis Dezember 1999 galt
M. dem Bundeskriminalamt noch als ein Hauptverdächtiger für
mehrere in Berlin verübte Sprengstoffanschläge. Die Verteidigung
erwirkte die Herausgabe der Abhörbänder, um nun mit Hilfe
dieser Beweismittel die Glaubwürdigkeit des Kronzeugen zu erschüttern.
Am Rande des gestrigen Prozeßtages kritisierte
Marcel Bosonet als Vertreter einer Züricher Juristenvereinigung
die Anwendung der Kronzeugenregelung. Bosonet sagte auf einer Pressekonferenz,
die von Freunden der Angeklagten organisiert wurde, in dem Berliner
RZ- Verfahren werde "alles unternommen, um keine Transparenz
zu schaffen". Eine "wirkliche Hinterfragung des Kronzeugen"
sei in dem Prozeß bislang nicht möglich gewesen. Bosonet,
der als "internationaler Prozeßbeobachter" bislang
nur an zwei Verhandlungstagen dem Verfahren beigewohnt hatte, ging
hart mit den Untersuchungsbehörden ins Gericht. Er bezichtigte
sie der Vertuschung von Beweismaterial und erklärte, das gesamte
Verfahren stehe auf einer äußerst wackligen Grundlage.
Professor Wolf- Dieter Narr von der Freien Universität
schlug, wie er es selbst ausdrückte, in die gleiche Kerbe.
"In fast jeder Sitzung hat man den Eindruck, der Prozeß
kommt nicht vorwärts", sagte Narr. Ihm dränge sich
der Eindruck auf, "daß das Gericht nicht kompetent ist".
Angesichts der nur auf die Aussagen des Kronzeugen gestützten
Beweislage hätte das Verfahren seiner Auffassung nach erst
gar nicht eröffnet werden dürfen. Die nunmehr zwei Jahre
dauernde Untersuchungshaft der Angeklagten bezeichnete Narr als
Skandal. In einer gestern verbreiteten Petition an den 1. Strafsenat
des Berliner Kammergerichtes forderte der Politikwissenschaftler
gemeinsam mit einigen anderen Unterzeichnern die sofortige Freilassung
der fünf Angeklagten. Falls das Gericht die Untersuchungshaft
nicht umgehend aufhebe, heißt es in der auch von drei PDS-
Abgeordneten unterzeichneten Petition, müsse seine Unabhängigkeit
bezweifelt werden.
Am gestrigen Verhandlungstag kam es im Gerichtssaal
zu einem ungewöhnlichen Zwischenfall. Rechtsanwalt Eisenberg
schlug Alarm, da er einen Beamten des Bundeskriminalamtes auf den
für die Presse reservierten Sitzplätzen vermutete. Es
stellte sich jedoch auf Nachfrage der Vorsitzenden Richterin heraus,
daß es sich bei dem Mann um den Berichterstatter eines Fernsehmagazins
handelte. Ein tatsächlicher Bundeskriminalkommissar kam gestern
aber auch noch zu Wort, als Zeuge. Zur Wahrheitsfindung konnte er
jedoch nur wenig beitragen. Er erinnerte sich nämlich kaum
noch an den Inhalt seiner Aktenberge, die er 1999 hinterlassen hatte,
als er aus dem Dienst ausschied.
Jochen Start
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