Datum:
20.08.2001
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Zeitung:
Frankfurter Allgemeine Zeitung
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Titel:
Der große Bruder
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Der große Bruder
Die Stasi und der Terrorismus der "Revolutionären Zellen"
Am Freitag endete die Sommerpause für den 1. Strafsenat des
Berliner Kammergerichts. Der seit März laufende Prozeß gegen
fünf mutmaßliche Mitglieder der terroristischen Vereinigung
Revolutionäre Zellen (RZ) geht in die zweite Runde. Den Angeklagten,
die sich seit achtzehn Monaten in Untersuchungshaft befinden, werden
Sprengstoffanschläge auf die Zentrale Sozialhilfestelle für
Asylbewerber in Berlin-Wedding und auf die Siegessäule im Berliner
Tiergarten sowie Beinschußattentate auf den Leiter der Berliner
Ausländerbehörde, Harald Hollenberg, und den Richter am
Bundesverwaltungsgericht Günter Korbmacher zur Last gelegt.
Diese Straftaten wurden zwischen 1986 und 1991 begangen. Insgesamt
rechnen die Ermittlungsbehörden den 1973 gegründeten
Revolutionären Zellen weit mehr als 200 Anschläge zu, zwischen 40
und 48 davon gehen auf das Konto der beiden in Berlin operierenden
RZ-Gruppen.
Mitglieder der Revolutionären Zellen beteiligten sich unter dem
Kommando von Ramirez Sanchez, genannt "Carlos", an dem
bewaffneten Überfall auf die Wiener Opec-Konferenz im Jahr 1975 und an
der Entführung einer Air-France-Maschine nach Entebbe im Jahr 1976.
Das Bundeskriminalamt macht die Revolutionären Zellen auch für
die Ermordung des hessischen Wirtschaftsministers Heinz Herbert Karry im
Jahr 1981 verantwortlich.
Die Bundesanwaltschaft stützt ihre Anklage gegen die fünf
mutmaßlichen Berliner Terroristen auf die umfangreichen Aussagen
eines Kronzeugen. Tarek M., der selbst mehrere Jahre als aktives
RZ-Mitglied an Anschlägen der Gruppe beteiligt war und über
genaue Kenntnisse der Binnenstruktur dieser Untergrundorganisation
verfügt, erklärte sich nach seiner Festnahme im Dezember 1999
bereit, gegen seine früheren Kampfgenossen auszusagen. Das
Bundeskriminalamt verfügte bis zur Festnahme des jetzigen Kronzeugen
nur über spärliche Kenntnisse zu den Revolutionären Zellen.
Erst nach den umfangreichen Geständnissen von Tarek M. konnten den
nunmehr in Berlin Angeklagten von den Ermittlern des Bundeskriminalamtes
mehrere Anschläge zugeordnet werden.
Bestens im Bilde
Ganz im Unterschied zu den westdeutschen Ermittlungsbehörden war
der DDR-Staatssicherheitsdienst schon Anfang der achtziger Jahre über
die Revolutionären Zellen bestens im Bilde. Das geht aus Unterlagen
hervor, die Mitarbeiter der Bundesbeauftragten für die
Stasi-Unterlagen in ihren Archivbeständen aufgefunden haben. Im
Oktober 1988 verfaßte die für Terrorabwehr zuständige
Abteilung XXII der Stasi einen Sachstandsbericht über die
Revolutionären Zellen.
Bei näherer Betrachtung dieses Schriftgutes wird deutlich,
daß die Stasi-Terrorabwehr eher als Unterstützertruppe denn als
Abwehr agierte. Ihre Abwehrbereitschaft bezog sich offenkundig nur auf das
Territorium der DDR. Die zwielichtige Rolle des Staatssicherheitsdienstes
im Netzwerk des westdeutschen und internationalen Terrorismus ist seit dem
Ende des SED-Regimes schon mehrfach ans Tageslicht gekommen.
Im erwähnten Stasi-Bericht aus dem Jahr 1988 zeigte sich die
"Terrorabwehr" zunächst darüber zufrieden, daß
von den RZ-Gruppen "keine subversiven Aktivitäten gegen die
DDR" ausgingen. Es sei jedoch zu befürchten, daß durch das
"Wirksamwerden im Terror- und Gewaltgeschehen" außerhalb
der DDR negative Rückwirkungen auf sozialistische Staaten und
diplomatische Verwicklungen entstünden. Deswegen lautete die
"operative Zielstellung" des Staatssicherheitsdienstes für
das Jahr 1989: "Vorbeugende Verhinderung der Schaffung von personellen
Stützpunkten in der DDR sowie die Unterbindung von logistischen
Handlungen auf dem Territorium der DDR."
In den Jahren zuvor hatten solche "logistischen Handlungen"
noch mit Unterstützung des Staatssicherheitsdienstes stattgefunden.
Offenbar fürchtete die zuständigen Stasi-Offiziere, daß es
den westdeutschen Sicherheitsorganen gelingen könnte, das aufzudecken
und die DDR der Unterstützung terroristischer Organisationen zu
überführen. Insbesondere nach den tödlichen
Bombenanschlägen auf das West-Berliner "Maison des France"
und die Diskothek "La Belle" hatten amerikanische
Regierungsstellen die DDR mehrfach verwarnt und auf ihre Verantwortung
für diese Bombenanschläge hingewiesen.
Diese Hintergründe erklären, warum die mit den
Revolutionären Zellen befaßten Stasi-Offiziere im Herbst 1988
außerordentlich erleichtert feststellten, "daß auch im
Berichtszeitraum 1987/88 es dem Gegner nicht gelang, Einbrüche in den
,RZ' zu erzielen". Dazu hatte der DDR-Staatssicherheitsdienst 1987
nämlich einen nicht unwesentlichen Beitrag geleistet, indem er mehrere
Mitglieder der Revolutionären Zellen durch Telefonanrufe rechtzeitig
vor einer bundesweiten Durchsuchungsaktion des Bundeskriminalamtes warnte.
Daraufhin verschwanden eine ganze Reihe der verdächtigen Personen im
Untergrund und tauchten erst nach dem Ablauf der Verjährungsfrist Ende
der neunziger Jahre wieder auf.
Die vorzüglichen Kenntnisse der Stasi über Mitglieder und
Struktur der Revolutionären Zellen resultierten aus dem
"gezielten Einsatz" von Informanten "aus dem
Operationsgebiet" und einer intensiven Zusammenarbeit mit Leuten, die
dem inneren Kreis der Revolutionären Zellen angehörten. Ende 1988
verfügte das Ministerium für Staatssicherheit, wie es selbst
behauptete, über eine gute "inoffizielle Basis", also
Spitzel innerhalb und im Umfeld der Revolutionären Zellen.
Außerdem verzeichnen die einschlägigen Stasiakten auch
"inoffizielle Hinweise aus Kreisen West-Berliner Autonomer"
über die Revolutionären Zellen.
Dem Staatssicherheitsdienst waren bereits Anfang der achtziger Jahre die
engen Verbindungen zwischen den Revolutionären Zellen und der
"Carlos-Gruppe" bekannt. Dabei registrierte die Stasi im Zuge der
Kontrollen des Transitverkehrs von und nach West-Berlin auch die
gefälschten Pässe und Tarnidentitäten mehrerer
untergetauchter RZ-Mitglieder. So meldeten die zuständige
Stasi-Offiziere voller Ermittlerstolz im Oktober 1982, daß der unter
dem RZ-Decknamen "Max" erfaßte Gerd-Hinrich Schnepel mit
einem österreichischen Paß unter dem Namen Herbert Waldmann
wiederholt in die DDR eingereist war. Dem BKA sei es seit Januar 1978 trotz
intensivster Observation nicht gelungen, die Verbindung zwischen Schnepel
und den Mitgliedern der "Carlos-Gruppe" Johannes Weinrich und
Magdalena Kopp aufzudecken.
Die Stasi-Leute verfügten aber seit 1979 über eigene
Ermittlungsergebnisse, die genau diese Verbindung belegten. "Durch
operative Maßnahmen" hatten sie mehrere Zusammentreffen von
Schnepel und Weinrich in Ost-Berlin "unter Kontrolle gehalten".
Die Stasi war der Auffassung, daß sich Schnepel für etwa ein
Jahr der "Carlos-Gruppe" angeschlossen hatte und sich dann wieder
von der Organisation lossagte. Die Auslandsaufklärung des
Staatssicherheitsdienstes löschte 1985 Schnepels Registrierung als
Terrorist.
Ungeklärter Fememord
Sabine E. und Rudolf Sch., die derzeit in Berlin als mutmaßliche
RZ-Mitglieder vor Gericht stehen, gehörten nach Erkenntnissen der
Stasi zum Führungskreis der Revolutionären Zellen. Das hat auch
der Kronzeuge Tarek M. in seinen bisherigen Aussagen zur Sache so
dargestellt. Die Stasi-Unterlagen bestätigen ebenfalls die Aussagen
des Kronzeugen über Verbindungen zwischen den Revolutionären
Zellen und dem DDR-Staatssicherheitsdienst.
Tarek M. hatte vor der Sommerpause erklärt, das RZ-Mitglied Gert
Albartus habe Kontakte mit Stasi-Offizieren und palästinensischen
Terroristen in Ost-Berlin wahrgenommen. Aus den Stasi-Unterlagen geht
hervor, daß Schnepel die Kontakte zwischen Albartus und der
"Carlos-Gruppe" hergestellt haben soll. Albartus reiste danach
mit einem gefälschten Reisepaß unter dem Namen Hans-Jürgen
Buchholz immer wieder zur Treffen mit Johannes Weinrich und Magdalena Kopp
nach Ost-Berlin ein.
Die Stasi stufte Albartus 1982 als "festes Mitglied" der
Carlos-Organisation ein. Er war demnach in einer Art Doppelmitgliedschaft
sowohl für die Berliner Revolutionären Zellen als auch für
die von "Carlos" geführte "Organisation Internationaler
Revolutionäre" im Einsatz. Tarek M. sagte in dem Berliner
RZ-Prozeß, er habe seinen Freund Gert Albartus im Jahr 1987 vor einer
Reise nach Damaskus gewarnt. Albartus folgte jedoch der Aufforderung einer
palästinensischen Terrorgruppe und begab sich in den Nahen Osten. Die
Palästinenser stellten ihn nach seiner Ankunft in Damaskus vor ein
Revolutionstribunal und verurteilten ihn zum Tode. Die Gründe für
diesen Fememord sind bis heute unbekannt. Ein Videofilm über die
Hinrichtung von Gert Albartus soll sich im Besitz eines westlichen
Geheimdienstes befinden. Es ist zu erwarten, daß sich aus den derzeit
laufenden Recherchen der Stasi-Unterlagen-Behörde weitere
Aufschlüsse über den Fall Albartus und das Innenleben der
Revolutionären Zellen ergeben.
Jochen Staadt
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