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Der Preis der Zugehörigkeit
Schlussbemerkungen zum Klein-Prozess in Frankfurt/M.
Eva Horn
Vom 17. Oktober letzten Jahres an mussten sich Hans-Joachim Klein
und der Mitangeklagte Rudolf Schindler vor dem Landgericht in Frankfurt/M.
wegen dreifachen Mordes und Geiselnahme verantworten. Am 15. Februar
wurde Klein zu neun Jahren Haft verurteilt, Schindler, der von Klein
der Vorbereitung und logistischen Unterstützung beschuldigt worden
war, mangels Beweisen freigesprochen. Unsere Autorin, deren vorangegangene
Berichte in den Ausgaben 11 + 12/00 und 1 + 2/01 erschienen, zieht
hier nun ein Resümee des Prozesses.
Das Gericht hat es sich bei der Verhängung des Strafmaßes für Klein
nicht leicht gemacht. Was genau innerhalb des Verfahrens den Ausschlag
für die Berücksichtigung von Milderungsgründen gegeben hat, wurde
nicht ausgeführt. Hervorgehoben hat der Vorsitzende aber die außerordentlich
schwierige Kindheit des Angeklagten und die Tatsache, dass Klein
sich trotz dieser Vorgeschichte und aus eigener Kraft zum Ausstieg
aus dem Terrorismus entschieden und diesen Entschluss auch mit der
Hilfe der "Jemande" umgesetzt hat. Unter schwierigsten,
auch materiell schwierigsten Bedingungen habe er dann zwanzig Jahre
in Frankreich gelebt, viele Jahre mit Lebensgefährtin und Kindern.
Sein Verhalten zeuge von großer Buße und Demut.
Die Frage, ob Klein an Exzesshandlungen beteiligt war, sprich:
an der Erschießung des irakischen Sicherheitsbeamten, konnte nicht
geklärt werden. In diesem Zusammenhang erinnerte der Vorsitzende
noch einmal an die erstaunlichen Aussagen der österreichischen Zeugen,
die von den katastrophalen Ermittlungen der dortigen Behörden berichtet
hatten. Patronen und andere Gegenstände waren als Souvenirs mit
nach Hause genommen, Sachverständige erst Wochen nach dem Überfall
an den Tatort gerufen worden, vor allem aber konnte eine "Putzgruppe"
im Auftrag der OPEC bereits eine Stunde nach Abfahrt der Terroristen
mit den Geiseln einen Großteil der Spuren beseitigen. Und trotz
hoher Gefährdungslage sei das Gebäude der OPEC und die dort anwesenden
Erdölminister so gut wie nicht bewacht gewesen.
Den Angaben von Klein sei man in weiten Teilen gefolgt. Der Eindruck,
dass er willentlich falsche Angaben gemacht habe, sei nicht entstanden.
Und durch sein Buch Rückkehr in die Menschlichkeit habe er nicht
nur erste Anhaltspunkte für die inneren Strukturen der "Revolutionären
Zellen" gegeben, sondern auch die Bedeutung der Libyen-Connection
erkennbar gemacht. Die Aufdeckung und Verhinderung der geplanten
Anschläge auf Galinsky und Lepinsky sei ebenfalls sein Verdienst
(siehe Kasten).
Im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft halte das Gericht die
Beteiligung Schindlers bei der Anwerbung Kleins und der logistischen
Unterstützung des Überfalls nicht für zweifelsfrei erwiesen. Insbesondere
gehe man nicht davon aus, dass es Schindler war, von dessen Anwesenheit
im Aostatal sich Klein bedroht gefühlt habe, vielmehr komme dafür
weit eher der Zeuge Schnepel in Betracht. Dafür sprächen dessen
eigene Angaben und die seiner damaligen Freundin, die noch an einem
der letzten Verhandlungstage vernommen worden war.
In ihren Plädoyers hatten Staatsanwaltschaft und die Verteidigung
Kleins den Tatablauf aus ihrer jeweiligen Sicht noch einmal dargestellt.
Dass Klein die Tötung des irakischen Sicherheitsbeamten nicht nachzuweisen
war, darin waren sich beide Seiten einig. Allerdings wichen die
Anträge hinsichtlich der Strafe stark voneinander ab. Die Ankläger
forderten 14 Jahre, die Verteidigung eine Strafe, die den Weg zurück
in ein normales Leben nicht verschließt. Damit hatte sie
unter ausführlichem Verweis auf andere Urteile, insbesondere in
den Fällen Albrecht und Lotze eine Strafe im Auge, die acht
Jahre nicht übersteigt.
Die Verteidigung Schindlers hatte sehr ausführlich die widersprüchlichen
Angaben Kleins zur Beteiligung Schindlers aus den jeweiligen Vernehmungsprotokollen,
aber auch aus Darstellungen Kleins in Interviews rekapituliert und
Freispruch für ihren Mandanten gefordert. Auf Schindler warten allerdings
weitere Anklagen und Ermittlungen, sein Name wurde unter anderem
auch im Zusammenhang mit dem Karry-Mord und einigen Knieschuss-Attentaten
genannt.
Einen bleibenden Eindruck von den außerordentlichen Bedingungen,
unter denen Klein von Anfang an sein Leben zu bewältigen hatte,
konnte man an einem "Schiebetermin" gewinnen, einem kurzen
Verhandlungstag zwischen all den großen Zeugenauftritten von Cohn-Bendit
über Beltz bis zum Außenminister, als im praktisch leeren Gerichtssaal
ein Dokument verlesen wurde, das einen Blick auf die Beziehung zwischen
dem Vater Klein und seinem Sohn ermöglichte.
Es handelt sich um das Protokoll der Vernehmung von Kleins Vater,
die am 29.12.75 in Frankfurt/M. durchgeführt worden war, also gut
eine Woche nach dem Überfall auf die OPEC-Konferenz. Gleich
zu Beginn seiner Aussage erklärt der Vater, dass ihn das Erscheinen
der Beamten nicht überrascht, er habe ein Foto seines Sohnes bereits
in der Zeitung gesehen und sich sehr darüber aufgeregt, obwohl er
seit etlichen Jahren keinen Kontakt zu seinem Sohn hatte. Es sei
ihm, fügt er dann hinzu, gleichgültig, was mit seinem Sohn geschehe.
Ihn habe das, was passiert ist, aber gesundheitlich sehr mitgenommen.
Er selbst, fügt er noch hinzu, habe einige Jahre Dienst bei
der Polizei verrichtet. Für das, was sein Sohn getan hat, fehle
ihm jedes Verständnis.
Im Folgenden dehnt der Vater diese Gleichgültigkeit auch auf die
Vergangenheit aus: Es habe zwischen ihm und seinem Sohn in den letzten
sechs Jahren keinen Kontakt gegeben, sein Sohn meldete sich nicht
bei ihm und auch von seiner Seite bestand kein Interesse. In dürren
Worten rekapituliert der Vater dann die ersten Lebensjahre seines
Sohnes. Ein halbes Jahr nach dessen Geburt verstarb die Mutter (laut
Kleins Angaben im Prozess hat sie sich mit der Dienstpistole des
Vaters erschossen, er selbst glaubte sehr lange, sie sei bei seiner
Geburt gestorben), er habe das Kind dann in ein Heim geben müssen,
wo man es gut behandelte. Es litt jedoch an einer schweren Ernährungsstörung.
An Kontakt zu ihm fehlte es dem Kind nicht, er habe es so oft wie
möglich besucht (Klein selbst erinnert sich an Besuche seines Vaters
nicht). Mit drei Jahren gab der Vater das Kind zu Pflegeeltern.
An den Namen der Pflegfamilie erinnert er sich zum Zeitpunkt seiner
Vernehmung nicht (Klein gab im Prozess an, er selbst habe bis 1997
Kontakt zu seiner Pflegemutter gehabt). Dort blieb Hans-Joachim
bis er neun Jahre alt war (laut Klein war er elf), dann holte der
Vater ihn zu sich, da er wieder geheiratet hatte.
Der Vater betont, das Verhältnis seiner zweiten Frau zu seinem
Sohn Hans-Joachim sei genauso herzlich gewesen wie das zu dem dann
geborenen zweiten Sohn (Klein selbst sagte, es sei ihm bei seiner
Pflegemutter gut gegangen, jedenfalls besser als bei seinem Vater;
über seinen Stiefbruder sagte er, der sei jetzt 40 und hätte bis
1968 bei seinem Vater gelebt).
Der Sohn sei dann nach der Schulzeit in schlechte Gesellschaft
geraten, sich hauptsächlich in einem Jugendclub der Stadt Frankfurt
aufgehalten, die Autoschlosserlehre abgebrochen und stattdessen
immer aufsässiger geworden, weswegen man ihn in ein Erziehungsheim
schickte (Klein gab an, in das Heim sei er von sich aus gegangen,
um von seinem Vater wegzukommen).
Ein Jahr sei der Junge dort gewesen und regelmäßig von ihm besucht
worden. Man habe Hans-Joachim dort ärztlich behandelt und in der
Uni-Klinik untersucht. Über Diagnose und Behandlung weiß er nichts
zu sagen. Als der Sohn dann eines Tages zu Hause vor der Tür stand
und um Aufnahme bat, wurde ihm dieser Wunsch nach Rücksprache mit
dem Jugendamt erfüllt.
Bei der Bundeswehr, vermutet der Vater, sei er linksradikal beeinflusst
und vorzeitig entlassen worden, weil er den Dienst verweigert habe.
Danach kehrte er wieder ins Elternhaus zurück, war aber nach einiger
Zeit nicht mehr zu ertragen. Nach einer Tätlichkeit seines Sohnes,
habe er ihn aufgefordert, das Haus für immer zu verlassen. Seitdem
habe er von seinem Sohn nichts mehr gehört, auch nicht, als seine
zweite Frau starb, wovon der Sohn ja wohl durch eine Annonce in
der Zeitung erfahren haben dürfte.
Zum Schluss seiner Aussage betont der Vater, dass sein zweiter
Sohn mit dem ersten auf gar keinen Fall zu vergleichen sei; dieser
habe sich in jeder Beziehung positiv entwickelt und sei über die
Taten seines Bruders entsetzt.
Wenn man eine solche Aussage zu hören bekommt, fragt man
sich schon, wer sich seines Lebens mehr zu schämen hat, der Vater
oder der Sohn. Und man fragt sich auch, woher der Sohn die Kraft
hatte, sich aus dem Sumpf seiner Untat wieder herauszuziehen.
Neben dem Außerordentlichen hat diese Beziehung zwischen Vater
und Sohn aber auch etwas, das in den späten Sechziger- und Siebzigerjahren
häufiger anzutreffen war, nämlich diese geradezu reflexhafte Distanzierung
des Vaters von seinem Sohn. "Es ist mir gleichgültig, was mit
ihm geschieht", sagt er so, als könnte er sich an seinem Sohn
die Finger verbrennen oder in die Nähe der Tat geraten, die sein
Sohn begangen hat. Und am Ende betont er, dass sein zweiter
Sohn sich in jeder Beziehung positiv entwickelt hat. Diese reflexhafte
Distanzierung und die Hervorhebung der wohlgeratenen Kinder, im
Gegensatz zu den missratenen schwarzen Schafen kennen das
nicht viele von uns aus dieser Zeit?
Und führt diese Unfähigkeit, die schwarzen Schafe als die eigenen
Kinder zu betrachten, nicht heute auch dazu, dass wir uns ähnlich
reflexhaft von den gewalttätigen Glatzen distanzieren so,
als wären sie dann weniger die Nachkommen unserer Generation?
In der ersten Hälfte des Verfahrens, als Klein sich mal wieder
vor einer ganz unmittelbaren Beschuldigung des Mitangeklagten Schindler
herumdrückte, hatte der Vorsitzende Anlass, Klein zu fragen, ob
er denn Angst habe, ob er sich bedroht fühle. Klein antwortete damals
recht barsch, nein, er fühle sich nicht bedroht.
Mag sein, dass das zu diesem Zeitpunkt so war. Aber selbst wenn
es nicht so gewesen wäre, wenn ihm die Angst im Nacken gesessen
hätte, was hätte er antworten sollen? Ein Ja hätte unweigerlich
weitere Fragen nach sich gezogen: Von wem er sich bedroht fühle?
Vor wem genau er Angst habe? Und warum? Welche Anhaltspunkte er
dafür habe?
Überlegt man weiter in diese Richtung, dann ergeben sich neue Fragen.
Zum Beispiel, wer für Klein so etwas wie "die herrschende Gewalt"
repräsentiert, und ob er nicht zweierlei Gewalt untersteht, nämlich
einerseits der des herrschenden Gesetzes der Bundesrepublik Deutschland
und andererseits der des Ehrenkodex der Revolutionären Zellen. Zu
befürchten ist, dass es nicht nur aus Ersterem, sondern auch aus
Letzterem einen Ausstieg der Art, wie Klein ihn vollzogen hat, nicht
gibt (siehe Kasten).
Die Vernehmung des Zeugen Schnepel hat nicht nur eine Ahnung der
Ängste aufkommen lassen, von denen Klein im Zusammenhang mit seinem
Weggang aus dem Aostatal gesprochen hat; sie hat, von Duktus und
Argumentationsstil her, auch die Vermutung nahe gelegt, dass dieser
Zeuge der Verfasser des (in Auszügen abgedruckten) Briefes an den
Pflasterstrand aus dem Jahre 1977 ist. "HJK ist für die Guerilla
weltweit ein Problem", heißt es da, und der Vorsitzende fragte
zu Recht, wie denn gedacht gewesen sei, dieses Problem zu lösen?
An dem Abschnitt zu Galinsky wird eine ganz spezielle Denkweise
deutlich und der Zeuge äußerte sich, was seine Logik angeht,
bei seiner zeugenschaftlichen Vernehmung nicht grundsätzlich anders
; zunächst wird die Offenlegung von Klein verketzert, um gleich
anschließend all die Gründe anzuführen, die Kleins Angaben, man
habe geplant, Galinsky zu töten, ausgesprochen realistisch erscheinen
lassen.
Nicht was Klein sagte, ist völlig daneben, sondern dass er es sagte,
ist bestrafungswürdig. Das war die Botschaft damals. Die Frage ist,
ob sie das auch heute noch ist. Und in diesem Zusammenhang taucht
eine andere Frage auf, nämlich die, ob Klein sich an den Herrn Schnepel
deshalb keinesfalls erinnert (ich habe diesen Mann nie gesehen),
weil sich an ihn zu erinnern ganz einfach viel zu gefährlich ist.
Kurz vor Schließung der Beweisaufnahme hat der Vorsitzende Klein
noch einmal ausführlich befragt; dabei ging es vor allem um die
Klärung des zeitlichen Ablaufs seines Ausstiegs, darum, wann er
sich wo wie lange aufgehalten hat, aber auch um seine Motive, sich
öffentlich zu äußern. Klein sagte, er habe die Unterstützerszene
kaputtmachen wollen. Von innen heraus, fragte der Vorsitzende. Ja,
war Kleins Antwort. Aber nicht, hakte der Richter nach, um den Ermittlungsbehörden
Erkenntnisse zu ermöglichen? Darauf Klein: Meine Angst war nicht
die Polizei, sondern meine Freunde. Der Staat habe sich damals
so verhalten, dass eher neue Terroristen geschaffen wurden, und
er erwähnte das Beispiel Ruhland. Er aber habe kein Verräter sein
wollen.
Und dann bricht es aus ihm heraus. Wer sagt denn, dass, wenn ich
rauskomme, ich nicht eine Kugel in den Kopf kriege ... für mich
war es ein Prozess, dieses Buch zu schreiben, aber ich bin kein
Politiker ... und es kotzt mich an, dieses Buch heute zu lesen ...
Der Vorsitzende kommentierte die (erste) große Erregung Kleins;
er habe die ganze Zeit den Eindruck gehabt, er (Klein) sei gar nicht
mehr richtig dabei, er nehme keinen Anteil an dem, was hier vorginge,
an seiner Reaktion sehe er aber, dass dem nicht so sei. Was Klein
heftig bestätigte.
Es ist schwer, jene Zeit unparteiisch ins Auge zu fassen;
sie ist seit ihrem Verschwinden entweder hochmütig getadelt oder
albern gelobt worden, da den, der sie erlebte, zu viele teure Erinnerungen
blenden und der Spätergeborene sie nicht begreift. So viel darf
man indessen behaupten, dass die Form schwächer, der Kern fester,
Vergehen häufiger, Gewissenlosigkeit seltener waren. Denn wer nach
seiner Überzeugung handelt, und sei sie noch so mangelhaft, kann
nie ganz zugrunde gehen, wogegen nichts seelentötender wirkt, als
gegen das innere Rechtsgefühl das äußere Recht in Anspruch zu nehmen"
(aus: Die Judenbuche, von Annette v. Droste-Hülshoff).
Man stelle sich vor, eine Zeugin wird vor Gericht gefragt, ob ihre
Schwiegermutter (die schwerer Straftaten beschuldigt wird), jemals
bei ihr wohnhaft gewesen sei. Niemand käme auf die Idee, das kategorische
Nein der Zeugin und den Nachsatz, die hat nie bei mir gewohnt, als
uneidliche Falschaussage zu bewerten, weil selbige Schwiegermutter
sich knapp dreißig Jahre zuvor einmal für ein paar Tage zu Besuch
bei der Zeugin und Schwiegertochter einquartiert hatte.
Ob den Staatsanwalt ein inneres Rechtsgefühl getrieben hat, als
er beschloss, das Ermittlungsverfahren gegen Fischer zu eröffnen,
wird sein Geheimnis bleiben. Und ob er tatsächlich etwas von Fischer
wissen wollte, als er mit der Vokabel "wohnhaft" etwas
völlig anderes nahe legte als Margrit Schiller mit ihrem "da
bin ich ein paar Tage geblieben" gemeint hat, ebenfalls.
Im Kommentar zur Strafprozessordnung heißt es allerdings: "Ein
Missbrauch der Vernehmungsbefugnis liegt vor, wenn durch Inhalt
oder Form der Befragung überwiegende schutzwürdige Interessen des
Vernommenen verletzt oder wenn allein sachfremde Zwecke ohne Förderung
der Sachaufklärung verfolgt werden." (Pfeiffer/Fischer, Strafprozessordnung/Kommentar).
Der Fragenkomplex des Staatsanwaltes diente eindeutig nicht
der Sachaufklärung.
Und im Kommentar zum StGB ist im Hinblick auf die falsche uneidliche
Aussage zu lesen: "Falsch ist die Aussage, wenn sie der Wahrheit
nicht entspricht ... Es ist Sinn der Aussage durch Auslegung zu
ermitteln und nicht am bloßen Wortlaut zu haften." Der Unterschied
zwischen "wohnen" und "besuchen" hätte also
geklärt werden müssen. Es sei denn, der Staatsanwalt hätte etwas
anderes im Sinn gehabt.
Das Problem ist, dass die Kleinkariertheit und auch die Substanzlosigkeit,
die den Antrieb für solches Tun abgibt, in allen Lagern beheimatet
ist und schon lange zur Vergiftung des (medialen) Klimas beiträgt,
sodass man sich fragt: Haben die Leute nichts Wichtigeres zu tun
(zum Beispiel der Staatsanwalt, Stichwort Schnepel), als in den
(bereits weitgehend aufgedeckten Sünden) der anderen herumzustochern?
Es ist die Bereitschaft nachzutreten und mit Inbrunst bis in die
hinterste Ecke leuchten zu wollen, die ein schlechtes Beispiel abgibt
und Überdruss hervorruft selbst wenn man fasziniert dabei
zuschaut.
Wieweit in all die Taten, aber auch in die Verhaltensweisen Einzelner,
mit denen man im Rahmen dieses Verfahrens konfrontiert wurde, Fragen
der Faszination von Macht, der Ausübung von Macht, aber auch dem
Verlangen, der Machtausübung anderer zu gehorchen, mit hineinspielen
und wieweit solche Fragen auch die Entwicklung der Linken in den
Siebzigerjahren betreffen, wäre eine Debatte, die zu führen lohnenswert
(und schmerzhaft) sein könnte. Im Kapitel "Der Befehl: Flucht
und Stachel" in Canettis Masse und Macht heißt es: "Nur
der ausgeführte Befehl lässt einen Stachel in dem, der ihn befolgt
hat, haften. Wer Befehlen ausweicht, der muss sie auch nicht speichern.
Der freie Mensch ist nur der, der es verstanden hat,
Befehlen auszuweichen, und nicht jener, der sich erst nachträglich
von ihnen befreit. Aber wer am längsten zu dieser Befreiung braucht
oder es überhaupt nicht vermag, der zweifellos ist der unfreieste."
Canetti muss es wissen, unter den Befehlen seiner Mutter hat er
höllisch gelitten. Und aus einigen Veröffentlichungen der letzten
Zeit ist zu schließen, dass da noch mancher Stachel tief sitzt.
Auszüge aus einem Beitrag der Revolutionären Zellen zum Aussteigerbrief
von Klein (Pflasterstrand 11/77):
"... Den Kampf in der Stadtguerilla aufzuhören, ist kein Verrat.
Wider besseres Wissen entblöden sich einige Leute jedoch nicht,
das Problem, wie man sich gegen Verräter schützt, gleichzusetzen
mit geschichtlichen Ereignissen wie Kronstadt, der Ukraine, Katalonien,
die dadurch gekennzeichnet sind, dass abweichende politische Einstellungen,
Praxen beseitigt werden sollten durch Liquidierung der Individuen.
HJK (gemeint ist Hans-Joachim Klein, E. H.) ist für die Guerilla
weltweit ein Problem nicht weil er sich politisch getrennt
hat; das kann jeder, ohne dass ihm auch nur ein Haar gekrümmt wird.
Er ist ein Problem, weil die Art seines Aussteigens die Befürchtung
begründet, dass er auch vor dem Verrat konkreter Einzelheiten, Strukturen,
Treffpunkte, Namen nicht zurückschreckt. Die ersten Namen im JEMAND-Brief,
die Veröffentlichung angeblicher Pläne, deren Durchführung er angeblich
damit vereitelt, sind die ersten Signale auch für die Bullen,
dass er zum Deal bereits ist, wenn ers nicht mehr aushält
oder wenn sie ihn erwischen.
Der andere, selbstverständliche Weg hat sich für HJK verboten.
Sein verzweifelter Drang, immer der Größte sein zu müssen, der Top-Fighter,
der King, der Bewunderte, erlaubte ihm das nicht: Schwäche (vermeintliche
Schwäche!) zu zeigen, offenzulegen. Er schafft es nur, indem er
einen neuen Rahmen wählt, wo er seine Stat-Show abziehen kann, wo
er seiner Probleme, seiner tiefen Unsicherheit zeitweise Herr werden
kann. ...
Mit uns als wirklichen Menschen, als real existierender, kämpfender
Gruppe, mit den politischen Inhalten, mit der Logik der Stadt-Guerilla
wird sich nicht auseinandergesetzt z. B. Galinsky: ihr (der
Pflasterstrand, E. H.) fahrt auf HJKs Horrorstory ab (dass die RZ
plant, G. umzubringen, E. H.), statt zu überlegen, welche Rolle
Galinsky spielt für die Verbrechen des Zionismus, für die Grausamkeiten
der imperialistischen Armee Israels, welche Propaganda- und materielle
Unterstützungsfunktion dieser Typ hat, der alles andere ist, als
nur jüdischer Gemeindevorsitzender, und: was man dagegen
machen müsste und was man in einem Land wie unserem dagegen machen
kann ... Ihr entzieht euch dieser politischen Auseinandersetzung
und geilt euch auf an dem behaupteten (antisemitischen?) Faschismus
der RZ und ihrer Hintermänner.
HJKs Brief ist der noch fehlende Beweis für den Dreck,
den diese Linken absondern, um die Auseinandersetzung mit dem Konzept
bewaffneter Widerstand mit uns, mit sich, mit der Angst in diesem
System vermeiden zu können ..."
Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.
Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)
Ausgabe März 2001 (19. Jg., Heft 3/2001)
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