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Interim 498, 30.03.2000
Runder Tisch militanter AktivistInnen zur Vergangenheit und Zukunft
der linksradikalen Bewegung
"Militanz ist ein Mittel, kein Programm"
Der Verrat von Tarek Mousli, der lange bei den Autonomen aktiv
war, hat die Szene durcheinandergewirbelt. Die nachfolgende Repressionswelle
hat uns erst recht gezwungen, uns mit der Geschichte der Revolutionären
Zellen auseinanderzusetzen. In der Szene ist das in Ansätzen
passiert, aber die Frage, welchen Stellenwert die RZ eigentlich
als militante Perspektive hatten, ist genausowenig angesprochen
worden, wie eine linksradikale Zukunft jetzt nach dem nachträglichen
Ende der RZ aussehen kann. Deshalb haben wir uns als militante AktivistInnen
verschiedener Herkunft zusammengesetzt und uns die Köpfe heiß
geredet. Mit freundlicher Unterstützung eines militanten Moderators.
Die RZ sind ein Gebilde der Vergangenheit. Aber die Linke wird
es auch in Zukunft geben. Und die politische Gegenwart ist durch
kontinuierliche Auseinandersetzungen geprägt, wie durch das,
was wir aus den Erfahrungen früherer militanter Organisierungen
und Vernetzungen gelernt haben. Neue Ideen zu produzieren, ist nicht
einfach, aber dieses Gespräch soll dazu anregen, auch wenn
es sich teilweise noch sehr stark an der Vergangenheit orientiert.
Wie die Zukunft des militanten revolutionären Widerstands aussieht,
das haben wir mit den folgenden Seiten zumindest versucht zu erfassen
und hoffen, dass die Interim es dem geneigten Lesepublikum zur Diskussion
stellt. Wir hoffen, dass sich viele Leute daran beteiligen werden
und hoffen auf regen Rücklauf.
Im Moment erschüttert und verunsichert der Verrat eines Einzelnen,
Tarek Mousli. Tareks Aussagen stellen einige Leute vor ein juristisches
und noch viel mehr Leute vor ein politisches Problem. Letztlich
geht es darum, warum und wofür militante Politik steht und
wie es kommen kann, dass ein solcher Einbruch geschieht.
Aber wir sollten uns mit Tareks Aussagen keinen Vorwand liefern,
nichts mehr zu tun und wie die Schlange auf das Kaninchen zu starren.
Verrat ist zum Glück in linksradikalen Zusammenhängen
die seltene Ausnahme. Mit der Kronzeugenregelung den eigenen Kopf
aus der Schlinge zu ziehen, indem man andere beschuldigt, hat es
in dieser Form bisher nicht gegeben. Nicht nur der Verrat und die
Bedrohung, die dadurch für einzelne ausgeht, macht die Erschütterung
aus. Die RZ waren und sind Bestandteil der linksradikalen Geschichte.
Die RZ waren sehr viel näher an der linksradikalen Szene, als
die RAF. Sie haben sich nicht als abgehobene Avantgarde gesehen,
sondern versucht, mit ihrer Politik gesellschaftliche Zusammenhängen
deutlich zu machen. Sie waren nicht isoliert aktiv, sondern in Bereichen,
in denen Gruppen mit legalen Mitteln arbeiteten - und bis heute
arbeiten. Viele Prozesse, zum Beispiel in der Auseinandersetzung
mit der Asylrechtspolitik, haben sie erst angeschoben. Ihre Aktionen
waren militant und direkt. Und deshalb trifft die nachträgliche
Repression erneut auf die Frage des Selbstverständnisses der
radikalen Linken - und nach dem Stand des Widerstands.
Unter den schön klingenden Wort der Globalisierung kommt eine
neue, modernisierte Form des Kapitalismus daher, die alte Fehler
abschüttelt und gesellschaftliche Strukturen und den Lebensalltag
der Einzelnen noch umfassender mit Ausbeutung durchzieht. Das ist
ein weltweiter Prozeß, der nach dem Prinzip des allumfassenden
Marktes immer weniger Nischen läßt. Dadurch werden Ausgrenzung
und soziale Hierarchisierung weltweit verschärft. Das wirft
für die Linke neue, wichtige Fragen auf: Die eines ganz neuen
Internationalismus, aber auch die der Vernetzung des Widerstands.
Denn neben den bekannten bzw. noch zu analysierenden negativen Folgen
bedeutet ein neues Herrschaftsmodell immer auch neue Möglichkeiten,
dagegen anzugehen. Das Kapital ist dem, was bei uns heute an widerständigen
Formen existiert, weit voraus. Damit müssen wir uns auseinander
setzen.
Wie sieht der Widerstand im neuen Jahrtausend aus? Ist die Praxis,
die die RZ angewandt haben, veraltet? Oder gibt es heute politisch
angemessenere Methoden? Das können wir nur herausfinden, wenn
wir uns auch auf das Neue einlassen und nicht in Nostalgie verharren.
Die Diskussion, was wir erreichen wollen, muß verknüpft
werden mit der Diskussion, wie wir es erreichen wollen. Außerdem
sollten wir uns die Praxis der RZ noch mal detailliert anschauen,
welche Aktionen was gebracht haben und welche nicht. Wollen wir
uns heute auf den Wettlauf mit den herrschenden Verhältnissen
einlassen? Oder haben wir die Kraft, jenseits der systematischen
Verwertung die Utopie einer gerechten Welt zu erhalten? Und schließlich:
Ist es an der Zeit, über andere, auch radikalere Formen von
Widerstand nachzudenken? Diese Diskussion ist kaum geführt
worden.
Wir hatten uns vorgenommen, im Gespräch zwischen verschiedenen
Gruppen und Einzelpersonen, die alle militant Widerstand leisten,
Antworten zu finden und unser Gespräch erst dann allen zugänglich
zu machen, die sich künftig an dieser Diskussion beteiligen
wollen. Trotz großer praktischer Nähe unterschieden wir
uns aber in einigen Fragen so deutlich, dass wir die Differenzen
stehen gelassen haben und nicht den Anspruch auf gemeinsame Einschätzung
überstülpen wollten. Es bringt nichts, eine Einigung erzwingen
zu wollen, denn es geht uns um den gesamten Prozeß, wie wir
das Thema Militanz künftig angehen sollen und welche Bedeutung
nichtlegale Mittel heute spielen und in Zukunft spielen können.
Die Linke soll sich und ihre Widerstandsformen weiterentwickeln
mit einem Blick nach hinten, um sich mit den Fehlern wie den Erfolgen
der Vergangenheit auseinander setzen, vor allem aber mit dem Blick
nach vorn: Widerstand war möglich, ist möglich und bleibt
möglich. Und nötig.
Viel Spaß beim Lesen!
I. Please welcome...
* Stellt Euch doch erst einmal vor.
Antonio: Ich bin seit Jahren mal mehr, mal weniger aktiv
an dem militanten Widerstand beteiligt. Aktiv beteiligt haben wir
uns zu allen möglichen Themen von Antifa über Anti-Castor/AKW,
Mumia-Soli, Kurdistan, Antirassistische bis hin zu Anti-staatlichen
und Anti-kapitalistischen Aktivitäten.
Ich selbst würde mich eher als den Protagonisten der klassischen
autonomen Bewegungstheorie verstehen. Da wo es brennt, wo sich viel
tut, wo soziale Bewegung und Kampagnen existieren (z.B. Anti-Castor)
wird mit militanten Mitteln unterstützt und eingegriffen. Diese
Konzept ist nicht als absolut zu verstehen - ist von der Tendenz
her aber immer eine Orientierung für mich gewesen. Bis auf
wenige Ausnahmen habe ich mich in Gruppen oder Zusammenhängen
organisiert, in denen nur Männer waren oder sind.
Giovanni: Das gilt im großen und ganzen für mich
auch.
Johnny: Ich bin seit den 80er Jahren aktiv, ebenfalls mal
mehr, mal weniger auf unterschiedlichem Niveau militant, in wechselnden,
gemischt geschlechtlichen Gruppen. Im Gegensatz zu Antonio arbeite
ich aber zu wenigen Themen langfristig. Eins davon ist Antifa.
Liliane: Ich bin ebenfalls seit den 80ern aktiv, wobei das
Mittel Militanz möglichst so eingesetzt wurde, dass es Bewegungsansätze
unterstützen sollte, was leider nicht immer gelang. Die Art
und Weise der Intervention wurde neben der so schön klingenden
"praktischen Bestimmung" doch häufig auch nach Machbarkeit
ausgewählt. Mir war aber tatsächlich immer wichtig gewesen,
die Hierarchie der Mittel möglichst klein zu halten, d.h. ich
war mir auch nicht zu blöde, nur mal sprühen zu gehen.
Militanz mit hohem Sachschaden ist einfach nicht immer angesagt,
auch wenn die Medien auf so etwas mehr anspringen. Da muß
mensch einfach mehr auf die eigene Vermittlung setzen. Die Themen
umfaßten die ganze Bandbreite linksradikaler Politik, wobei
der internationale Bezug eher unterentwickelt war, u.a. was Kurdistan
betraf.
Karla: Ich arbeite seit vielen Jahren in der autonomen Szene
oder vielleicht besser im Rahmen der autonomen Szene. Ich arbeite
ausdrücklich mit Männer-Frauen-Gruppen und kaum zu antisexitischen
oder antipatriarchalen Themen - das nur, wenn sich die Situation
ganz aktuell aufdrängt. Meine Konzentration liegt bei antikapitalistischen
und antifaschistischen Aktivitäten. Ich bin damit sicher keine
klassische Protagonistin der autonomen Bewegungstheorie - deshalb
die leichte Distanz am Anfang. In der Praxis macht das aber oft
keinen Unterschied.
Antonio: Außer ein paar gesmashten Sex-Shops innerhalb
von Demos - was ja auch schon ein wenig zurückliegt - gab es
bei uns/mir leider keine anti-patriarchale militante Praxis. Und
das sage ich deshalb, weil es eigentlich ein weites Feld von Möglichkeiten
gibt, militant einzugreifen, sei es gegen Bevölkerungspolitik
und Gentechnologie, ob gegen Porno- und Sex-Shops, gegen Vergewaltiger,
Mißbraucher und Frauenhändler oder gegen sexistische
Werbung und Vermarktung in den Medien und der Gesellschaft. Gerade
zu diesen Themen haben bis auf wenige Ausnahmen sowohl öffentlich
als auch militant fast ausschließlich Frauen gearbeitet und
agiert.
Eine militante Praxis über Jahre hinweg hatten hier v.a. die
Rote Zora entwickelt.
Bei Männern ist eine antipatriarchal politische Praxis, ob
nun militant oder nicht, faktisch nicht vorhanden, trotz vieler
schönen und wohlklingenden Formulierungen in Flugblättern
und Erklärungen.
Eine Ausnahme bilden hier die Flammenden Herzen mit ihren Anschlägen
gegen Kreiswehrersatzämter und Bundeswehreinrichtungen. (Aus
einer Erklärung von Dezember 1993 anläßlich eines
Anschlages auf das Kreiswehrersatzamt Marburg schreiben sie u.a.:
"Die Aktion ordnen einige von uns als einen Beitrag ein, den
Vormarsch einer vermehrt sichtbaren militaristischen Formierung
von Männern abzubremsen. Wir haben nicht die Illusion, diese
Entwicklung zu stoppen, zum Stehen zubringen. Wir sehen aber unsere
Chance und Aufgabe aktuell dann, die Zeit der linksradikalen Orientierungslosigkeit
zu nutzen, um dem eine antipatriarchale Widerstandsutopie entgegenzusetzen
und weitere militaristische Einbrüche in die Gesellschaft zu
verhindern.")
Nein, es geht mir nicht um mea culpa und was wir (die Männer)
in den letzten Jahren alles nicht auf die Reihe gekriegt haben,
sondern darum, Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft
zu übernehmen und endlich die Notwendigkeit zu begreifen, eine
öffentliche, politische Praxis gegen Männerherrschaft-Gewalt
und Macht in all seinen Ausformungen, einschließlich der Veränderung
eigener Verhaltensmuster, zu entwickeln.
Johnny: Ich finde es bemerkenswert, dass in Deiner Vorstellung
der Teil an Sachen, die Du NICHT machst, nämlich antipatriarchale
Aktionen mehr umfaßt, als der Teil, den Du machst. Das klingt
so superkorrekt, als wäre es direkt aus dem ungedruckten Autonomen-Knigge
oder der Interim abgeschrieben. Ich habe für mich den Beschluss
gefaßt, dass ich, bevor ich antipatriarchalen Vorsatz an antipatriarchale
Floskel reihe und dann auf andere verweise, lieber etwas weniger
rede und etwas mehr im antipatriarchalen Sinne tue. Das hilft, glaube
ich, mehr. Ich stelle mich ja auch nicht dauernd hin und sage: Leider
schaffe ich es nicht, eine dauerhafte antikapitalistische oder antirassistische
Praxis zu entwickeln.
Antonio: Grundsätzlich hast du Recht, zwischen Anspruchsdenken
und der Wirklichkeit klafft oft ein riesiges Loch; und sicherlich
sollten wir nicht allein an unseren Worten, sondern an unseren Taten
gemessen werden. D'accord!! Trotzdem ist es meiner Meinung nach
nicht falsch, solche Ansprüche zu formulieren.
* Ende Dezember 1999 wurden bei einer Großrazzia drei
Leute festgenommen, denen Mitgliedschaft in den RZ vorgeworfen wird.
Ist das das Ende der Ära der bewaffneten Linken?
Johnny: Ja und nein. Ja, weil es eine der letzten großen
Verfolgungswellen ist, was bewaffnete Reste aus der alten Bundesrepublik
angeht, die verbissene Rache der Bundesanwaltschaft, die frustriert
ist, weil sie nie jemand von den RZ gekriegt hat. Und weil es natürlich
nur nochmal das Ende der RZ bestätigt. Nein, weil militanter
Widerstand immer weitergehen wird, sich neue Formen sucht und neue
Leute dazu stoßen. Auch wenn wir nicht RZ waren, stehen wir
doch in der Tradition der undogmatischen militanten Linken. Das
ist nicht das Ende, das sei an dieser Stelle fest versprochen.
Karla: Ein schönes Versprechen. Ich sehe aber eine
lange Durststrecke, in der sich nur einzelner Widerstand militant
bemerkbar macht, aber keine kontinuierliche "Gegenmacht".
Ich glaube, dass wir sehr nachdrücklich daran arbeiten müssen,
neue Strukturen aufzubauen. Tut mir leid, liebe Staatsschützer
- damit meine ich nicht einfach: wir gründen etwas. Ich meine,
dass wir adäquate Formen finden müssen an die brennenden
Themen heranzukommen. Dass wir aus den Fehlern der Berufsorganisiertenmilitanten
lernen müssen. Wie schon die eine RZ festgestellt hatte, dass
Umfeld und die Umsetzung fehlen. Wie wäre es, sich auch mal
genauer anzuschauen, wen wir heute eigentlich ansprechen? Es gibt
Widerstand auf vielen gesellschaftlichen Ebenen. Ich bin ja ein
großer Fan, sich dem Internet-Widerstand anzunähern etwa.
Hightech-Kommunikation ist aber nur ein Bereich, ich glaube, dass
die veränderte Kommunikation auch andere internationale Zusammenarbeit
im Widerstand möglich macht (siehe Seattle). Und ich meine
damit nicht den klassischen fürsorglichen Internationalismus.
Und mir fehlt derzeit außerdem enorm der Zusammenhang von
Tat und Wort. Ich bin keine Anhängerin von Militanz an sich.
Mir fehlt das drumrum. Also kurz: ich will sagen, wir befinden uns
(hoffentlich) in der Phase der Aufbauarbeit.
* Ist organisierter, militanter Widerstand heute, gut zehn Jahre
nach Mauerfall, acht Jahre nach dem Ende der RZ und drei Jahre nach
der Auflösung der RAF überhaupt noch zeitgemäß?
Liliane: Militanz entwickelt dann eine Kraft, wenn es darum
geht, eine Idee, eine Utopie, die in Ansätzen hier und heute
umgesetzt wird, durch unmißverständliche Zeichen zu unterstützen.
In bewegungslosen Zeiten wie jetzt ist für mich Militanz eher
ein subjektiver Befriedigungsfaktor, um aus der alltäglich
erlebten Ohnmacht auszubrechen, um daraus Stärke zu kriegen,
um weiterhin widerspenstig sein zu können. Aber es gehört
oft eine Menge Ignoranz oder Selbstbetrug dazu, die politische Wirkungslosigkeit
einfach so zu schlucken.
Giovanni: Wir wüßten nicht, was sich für
Parameter verändert hätten, an denen wir ablesen könnten,
dass der organisierte militante Widerstand nicht mehr zeitgemäß
sei. Von der RZ wurde einmal mit einer Gegenfrage reagiert: "Ist
es wichtig, dass versucht wird, gefangene Revolutionäre rauszuholen?
Ist es wichtig, dass US-Kasernen brennen? Sollen wir Fahrscheine
lieber bezahlen als nachdrucken oder die Automaten abbrennen? Sollen
wir Schwarzfahrer-Karteien lieber vervollständigen statt anzünden?
Ist es richtig, Bauspekulanten anzugreifen?"
Auch das Komitee hat in seiner Auflösungserklärung eine
völlig richtige Einschätzung geäußert: "Es
ist heute ja oft das Argument zuhören, nachdem Niedergang der
linksradikalen Bewegung hätte einfaches "Weitermachen"
keinen Sinn mehr, wobei geflissentlich unterschlagen wird, dass
revolutionäre Politik hier in den letzten Jahrzehnten gesellschaftlich
immer nur eine Randposition inne hatte und nie eine realistische
Strategie zum Umsturz der Verhältnisse vorweisen konnte. Konsequente
militante Praxis könnte einer der Hebel sein, den Kreislauf
der Linken von Glaubwürdigkeitsverlust nach Außen und
Mutlosigkeit und Anpassung nach Innen zu durchbrechen. Radikale
Kritik an der bestehenden Praxis von Herrschaft, Unterdrückung
und Ausbeutung, die nicht alle Mittel von Widerstand nutzt, sucht
und erfindet, muß früher oder später den Glauben
an sich selbst verlieren".
Johnny: Es war noch nie so, dass die Herrschenden freiwillige
Zugeständnisse gemacht haben, geschweige denn, dass sich prinzipielle
Dinge geändert hätten, nur weil mensch darum
bittet. Wir sehen außerdem an vielen Punkten, dass die Definition
dessen, was als böse und gesetzesbrecherisch gilt, völlig
verschoben wird. Galt früher eine Motorradmaske oder ein Helm
als Vermummung, dann ein über die Nase gezogenes Tuch, ist
es heute eine dunkle Sonnenbrille mit Kapuze. Und morgen wird vielleicht
der aufrechte Gang verfolgt. Da entscheiden wir schon lieber selber
über unsere Mittel. Gesetze werden außerdem nicht deshalb
weniger verschärft oder gar zurückgenommen, weil es keine
Straßenschlachten oderAnschläge mehr gibt. Die Herrschenden
finden immer Gründe, den Repressionsapparat auszubauen: Flüchtlinge,
Jugendbanden, die angeblich so organisierte Kriminalität -
was halt gerade Mode ist. Insofern richten wir danach nicht unsere
Aktivitäten aus, sondern gehen davon aus, dass wir uns mit
vielen unterschiedlichen Mitteln politisches Terrain erkämpfen
müssen. Militanz ist nur eins davon. Wir sind diejenigen, die
handeln können, wenn wir wollen. Da verbindet sich das Persönliche
mit politischen Vorstellungen. Allerdings stimmt, dass nicht jede
Aktion in jeder Situation gut ist. Da hat die radikale Linke Nachholbedarf
und ist viel zu unflexibel.
Giovanni: Was nicht zeitgemäß ist, ist die Überschätzung
der gesellschaftsverändernden Bedeutung militanter Politikformen.
Eine Politik, die sich auf das Anzünden von Bonzenschlitten,
auf das Einschmeißen von Scheiben, das Werfen von Buttersäure
und das Zerstören von Fahrkartenautomaten und ähnliches
beschränkt, bleibt letztendlich folgenlos. So richtig und wichtig
dieses Agieren ist, so falsch ist es zu glauben damit die Machtfrage
zu stellen und darüber das Wirken in den Herzen und Köpfen
der Menschen zu ersetzen.
Karla: Davon spreche ich. Ein Brandsatz allein ist nur für
wirklich wenige ansprechend. Auch wenn er gut tut. Entscheidend
ist der inhaltliche Kontext.
Antonio: Militanter Widerstand ist kein Selbstzweck, deswegen
sollte er immer wieder aufs neue diskutiert werden. Wann und ob
und wie es Sinn macht ihn unter welchen Bedingungen einzusetzen.
Militanz ist ein Mittel - kein Programm an sich. Obwohl es auch
einen anderes Verständnis von Militanz gibt und in diesem eher
eine Lebenseinstellung bedeutet als nur die Anwendung von revolutionärer
Gewalt. Die Option, auf diese Mittel zurückzugreifen, dürfen
wir jedoch nie aus der Hand geben, denn dann hätten wir schon
verloren.
Zur Zeit glaube ich schon, dass militanter Widerstand zeitgemäß
ist, vor allem im Antifa- und im Antira-Bereich, Castor sowieso.
In beiden Bereichen arbeiten viele Leute dazu, eine gesellschaftliche
Sensibilisierung ist vorhanden und oft stellt sich die Frage eh
nicht in diesem Sinne, sondern es geht dann um die banale Sicherheit
auf der Straße, um Abwehrkämpfe und Selbstverteidigung.
Die Nazis haben sich immer mehr Freiräume erobert. Dass sie
vor kurzem am 29.1.2000 mit 500 Kameraden das erste mal seit 1945
wieder mit wehenden Reichskriegsflaggen durchs Brandenburger Tor
in Berlin gezogen sind, haben sie als Erfolg gefeiert, während
die Linke und die Antifa geschlafen haben... Oder sind wir, was
ja noch viel erschreckender wäre, nicht mehr in der Lage, solche
Aufmärsche zu verhindern? Vielleicht sollten mehr Busunternehmen
und Transportwege der Nazis auch mit militanten Mitteln angegriffen
werden.
* In der Linken wird anläßlich der Razzien und Festnahmen
viel über die Politik der Revolutionären Zellen diskutiert.
Habt Ihr oder was habt Ihr aus der Geschichte der RZ gelernt?
Antonio: Nun, ersteinmal möchte ich dazu sagen, dass
die RZ/Rote Zora ein wichtiger Teil der Geschichte der militanten
Linken waren und für viele z.Teil positiver Bezugspunkt auch
ihrer eigenen Politik. Viele Aktionen und auch Erklärungen
der RZ und noch viel mehr der Roten Zora fand ich sehr gut. Trotzdem
habe ich Kritik, die ich aber immer als solidarische Kritik verstanden
haben möchte. Nicht vergessen dürfen wir dabei aber auch
oder gerade insbesondere, dass wir nicht von einer RZ sprechen können,
sondern dass es sehr viel Gruppen gegeben hat, die zum Teil auch
sehr verschieden zu unterschiedlichen Bereichen (als Beispiel sei
hier der Internationalistische und Sozialrevolutionäre Flügel
der RZ genannt) agiert haben und das über drei Jahrzehnte den
70ern, den 80ern und bis 1995.
Und wir haben auch aus ihren Fehlern gelernt. Es gibt schon einige
Geschichten, die ich kritisiere oder ablehne. Dazu gehören
die Erschießungen (Wirtschaftsminister Karry 81) oder Knieschußaktionen
(wie gegen den Chef der Ausländerbehörde von Berlin Hollenberg
1986 und gegen den Asylrichter Korbmacher 1987) gegen politische
Gegner. Wir befinden uns heute meiner Meinung nach in keiner politischen
Situation, die eine Liquidierung unseres Gegners, einzelner Repräsentanten
des Systems erfordert. Mir ist bewusst, dass ich mich damit klar
im Widerspruch zur Politik der RAF befunden habe, obwohl viele heimliche
Freude empfunden haben, als beispielsweise Herrhausen (Top-Manager
der Deutschen Bank) 1989 erschossen worden ist.
Johnny: Das eine schließt das andere nicht aus. Ich
habe mich mächtig über die Herrhausen-Aktion gefreut und
denke trotzdem, dass Du Recht hast: Wir sind nicht in der Situation,
Menschen zu erschießen.
Antonio: Für die Zukunft kann das jedoch grundsätzlich
bei einer Verschärfung der gesellschaftlichen Verhältnisse
(wie z.B. Diktatur oder Faschismus) nicht ausgeschlossen werden.
Den Zeitpunkt, dieses Mittel anzuwenden und die Auswahl derer, die
zu liquidieren sind, müssen jedoch genau, sehr genau diskutiert
werden und das auf einer breiteren Ebene. Das kann und darf auf
keinen Fall leichtfertig passieren - es gibt nichts wertvolleres
als ein Menschenleben und wir werden den Widerspruch einerseits
für das Leben, für die Veränderung des Bewußtseins
der Menschen, gegen die Todesstrafe usw. einzutreten und andererseits
die Notwendigkeit, einzelne bestimmte Menschen töten zu müssen
um schlimmeres Leid zu verhindern nicht auflösen können.
Wer diesen Schritt dennoch wagt, sollte sich dessen immer bewusst
sein und vorher genau überlegen, ob es nicht noch andere Mittel
gibt, sein/ihr Ziel zu erreichen. Politischer Mord ist und sollte
das letzte und unausweichliche Mittel sein, um weiteres Verbrechen
zu verhindern, um weiteres Menschenleben zu retten.
Das mag jetzt alles ein wenig theoretisch klingen, ist es aber
nicht anläßlich der Erfahrungen im Zusammenhang mit den
Startbahnschüssen und dem Verfahren wegen des Tods von Gerhard
Kaindl nicht ohne Bedeutung. Dazu kommen wir vielleicht noch.
Knieschußaktionen, die mich an Bestrafungsaktionen von IRA-Kommandos
an "anti-sozialen" Jugendlichen (joyriders) erinnert,
lehne ich grundsätzlich sowohl aus politischen als auch aus
menschlichen Erwägungen ab. Ich weiß nicht, was daran
emanzipativ sein soll, jemanden mit vollem Bewusstsein und berechnetem
Kalkül durch Knieschüsse für den Rest seines Lebens
körperlich und gesundheitlich zu schädigen und zu beeinträchtigen.
Und das in einer Gesellschaft, in der Behinderte tagtäglich
diskriminiert werden.
Mir geht es nicht um persönliche Rache oder Genugtuung, ganz
gleich wie rassistisch und menschenverachtend beispielsweise manche
Asyl-Richter auch sein mögen. Mir geht es um die Veränderung
in den Köpfen der Menschen und nicht darum, mich an dem Anblick
rollstuhlfahrender Richter zu erfreuen. (Sowohl Hollenberg als auch
Korbmacher erhielten Steckschüsse in die Waden, nur durch Zufall
wurden die Kniescheiben nicht getroffen).
Die IRA hat dies in perfider Weise auf die Spitze getrieben. Um
ganz sicher zu sein, dass die Opfer später nicht mehr laufen
können, wurden die Kniescheiben gezielt sowohl von vorne als
auch von hinten durchschossen. Erst die massive Kritik der katholischen
Eltern der Kids an der IRA hat diese Praxis der Knieschüsse
eingedämmt.
Außerdem sollten wir uns immer deutlich in unseren Methoden
und Mitteln, die wir anwenden, deutlich von unseren Gegnern unterscheiden.
Dazu gehört auch, sie nicht zu foltern oder zu verstümmeln.
Und in den Medien wurde das negative Image von den kaltherzigen,
skrupellosen und unmenschlichen RZ's aufgebaut, dem auch nichts
groß entgegengesetzt werden konnte. Wie auch? Was ist das
Positive an einem Knieschuß? Leider hat die Linke damals diese
Aktion viel zu wenig kritisiert und auseinandergenommen.
Johnny: Ich kann Deine Kritik nachvollziehen, aber die RZ
haben das allerdings damals auch sehr genau begründet: Sie
fanden es unangemessen, jemandem wie Korbmacher, der so viel Leid
und Elend verantwortet, einfach nur das Auto abzufackeln. Wenn Du
so über die Medien sprichst, gehst Du Ihnen auf den Leim: Du
glaubst doch nicht ernsthaft, hätte es Karry, Hollenbach und
Korbmacher nicht gegeben, dass die RZ dann wärmer, menschlicher
rumgekommen wären? Ein Terrorist ist ein Terrorist ist ein
Terrorist - jedenfalls in den herrschenden Medien. Was richtig ist,
dass aus vielen Erklärungen der RAF und auch der Karry-Erklärung
eine Kälte spricht, die für eine Linke, die eine warme,
solidarische und gerechte Gesellschaft erkämpfen will, nicht
okay ist.
II. RZ und Solidarität
Antonio: Aber auch heute noch existiert zum Teil in der
Szene ein recht unkritisches Verhältnis zu diesen Aktionen,
wie an dem Plakat "Jedes Herz ist eine Revolutionäre Zelle",
das ja auch das Interim-Titelblatt (Nr. 492) der Ausgabe vom 27.1.2000
ziert, zu erkennen ist. Da wird mal eben als positives Beispiel
der RZ-Aktionen, die vielen Leuten aus dem Herzen gesprochen haben,
die Bestrafung von Richtern aufgezählt - so als hätte
es all die Diskussionen und Kritiken und Widersprüche zu dieser
Aktion nicht gegeben. Auch der Zusatz weiter unten im Plakat stehend,
"bei allen Differenzen" kann darüber nicht hinwegtäuschen.
Und mal abgesehen von der zu hinterfragenden Benutzung des Begriffs
der Bestrafung, der eher der Sprache und Logik der herrschenden
Repressionsmethoden des Staates als unseren eigenen Vorstellungen
entspricht und somit folgerichtig auch als repressiv und nicht emanzipativ
wahrgenommen wird, ist dieses Plakat eher ein Rückfall in platte
schwarz-weiß Symbolik revolutionärer Inhalte, das mich
wieder an die 80er Jahre erinnert. Schade eigentlich!!! Und trotzdem
hängt diese Plakat in fast jeder WG-Küche - bei uns übrigens
auch.
Johnny: Einspruch, Euer Ehren - aber ganz massiv. Ein Plakat
hat die Funktion, prinzipiell eine Aussage, einen Punkt, einen Umstand
zugespitzt darzustellen. In diesem Fall war nach den Verhaftungen
eine Situation, in der öffentlich praktisch nicht inhaltlich
geredet wurde. An den WG- und Kneipentischen wurde getratscht und
spekuliert, wen es wohl noch treffen könnte. Die Soligruppen
haben praktische Untersützungsarbeit angeleiert, sich über
den Bulleneinsatz beschwert oder über die tägliche Arbeit
etwa von Harald im FFM geredet. Das ist alles gut und schön,
aber es ist nicht über das eigentliche Thema des BAW-Überfalls
geredet worden - die militante Praxis der RZ über viele Jahre.
Ich habe dieses Plakat so aufgefaßt, dass es genau das thematisieren
und in die Diskussion tragen sollte. "Jedes Herz ist eine revolutionäre
Zelle" meint doch, dass jeder und jede spüren kann, wie
gesellschaftliche Unterdrückung und Ausgrenzung, die Unterteilung
in Teilhaber der Macht und in solche, die nichts oder nur wenig
haben, funktioniert. Jeder und jede, der oder die das fühlt,
ist potentiell ein Revolutionär, eine Revolutionärin -
wenn er oder sie sich nur auflehnt und kämpft. Und genau das
haben die RZ gemeint und getan.
Ich habe mich ausgesprochen gefreut, dass es so ein Plakat gibt.
Und vielen meiner Bekannten ging es ebenso. Das ist der Verdienst
dieses Plakates: Es hat thematisiert, dass es mehr gibt, als nur
legale antirassistische Arbeit zu machen und sich über einen
Bulleneinsatz zu mokieren - nämlich aktiv Widerstand zu leisten.
Ich verstehe auch nicht, wieso Du bei anderen Leute davon ausgehst,
dass sie nicht intensiv über ihre Sachen nachdenken. Wieso
soll so ein Plakat "mal eben" gemacht worden sein? Die
werden darüber schon nachgedacht haben. Wieso soll da eine
Formulierung "täuschen" wollen? Diese ganze Kritik
ist mir zu arrogant, wie auch der Vorwurf, das sei "ein Rückfall
in platte schwarz-weiß Symbolik revolutionärer Inhalte,
das wieder an die 80er Jahre erinnert". Was heißt hier
schwarz-weiß? Wieso soll ein positiv-kritischer Bezug auf
die RZ schwarz-weiß sein? Mir scheint da ein anderes Problem
mitzuschwingen: Viele Leute haben einfach keinen Bock mehr, sich
mit unbequemen, militanten antagonistischen Entwürfen rumzuplagen.
In der Interim Nr. 497 wird zum Beispiel in zwei Redebeiträgen
darauf verwiesen. dass sich die RZ auch antizionistisch ausgerichtet
hatten und das in dem Plakat bewusst unterschlagen wird. Als Beleg
wird ein RZ-Zitat von 1975 angeführt. 1975! Vor der Entebbe-Entführung!
Vor der Spaltung! Wer das macht, sucht doch ganz einfach nach einer
Ausrede, warum er da keine klare Position zu beziehen will oder
warum er die RZ ablehnen will.
Es ist doch bezeichnend, dass dieses Plakat das am meisten diskutierte
Plakat seit Jahren ist - kein Debattenbeitrag ohne Rekurs auf das
schöne Stück. Im übrigen verstehe ich nicht, warum
Du ein Plakat aufhängst, von dem Du findest, dass es der "Logik
der herrschenden Repressionsmethoden des Staates" entspricht.
Das würde ich nicht machen. Bei uns hängt das Plakat übrigens
nicht.
Antonio: O.K., O.K., Vielleicht haben die Leute sich wirklich
viel Gedanken über das Plakat gemacht. In diesem Fall nehme
ich das "mal eben so" zurück.
Und natürlich finde ich das gut, dass endlich mal ein paar
Leute sich sehr deutlich mit der militanten Politik der RZ solidarisiert
haben. Da gibt es doch gar keinen Widerspruch.
Meine Kritik geht doch eher in die Richtung einer etwas differenzierteren
Darstellung der Geschichte der RZ, auch der Solidarität. Und
mit platt meine ich eben z. B. auch die Aufmachung des Plakates,
in dem sich auch etwas ausdrückt: Dieser Stern in der Mitte,
von Rot umrandet und schwarz umgeben - na, wenn das nicht glorifizierend
und heroisch rüberkommt. Und das mit der Logik der herrschenden
Repressionsmethoden des Staates hast du mißverstanden. Das
bezieht sich nicht generell auf das Plakat, sondern nur auf die
Benutzung des Begriffes der Bestrafung. Ich will verändern,
aufklären über die rassistischen Praktiken eines Richters
z.B., auch verunsichern und deutlich machen, dass wir auch einzelne
Personen aus ihrer Anonymität reißen und sie für
ihre Politik verantwortlich machen. Um "Bestrafen" im
klassischen Sinne geht es mir dabei jedoch nicht. Und gerade auch
die Sprache, die wir benutzen, ist nicht unwichtig - und es gibt
eben viele Begriffe oder Wörter, die negativ besetzt und nicht
wertneutral sind.
Karla: So Jungs, jetzt kommt mal wieder runter. Will sonst
noch wer seine Küche beschreiben? Wollen wir jetzt die Achtziger
Jahre verdammen oder hochjubeln? Die Auseinandersetzung an diesem
Punkt ist mir unbegreifbar. Die Frage, ob wir etwas aus den Fehlern
der RZ gelernt haben, beantwortet sich doch nicht im Verständnis
von kritischer Solidarität.
Was ich aus dem Komplex RZ gelernt habe ist, dass man solch eine
Praxis nur in einer ganz bestimmten Lebensphase leisten und leben
kann. Damit meine ich nicht von 20 bis 30 oder von 50 bis 60. Ich
sehe vielmehr, dass diese Phase viel mit den Menschen anstellt und
deshalb auch wieder eine andere Phase kommen muß. Es liegt
eindeutig die Tendenz der Verselbständigung in einer klandestinen
Lebensweise. Wenn mensch einmal mit bestimmten Sachen angefangen
hat, darfs darunter nicht mehr sein. Um die zu bremsen, muß
irgendwann Schluß sein. Daraus schließe ich aber zugleich,
dass ein Obergang, ein "Abwechseln" organisiert werden
muß, dass politische Erfahrungen, Strukturen und praktisches
Wissen aufgebaut, aber auch weitergegeben werden müssen. Ich
habe aber den Eindruck, dass die gute alte Kadererfahrung, nämlich,
dass man Nachwuchs auch die Chance geben muß, etwas zu lernen
von den Alten nicht wirklich berücksichtigt wurde. Nur dann
kann man auch sauber Schluß machen und den Stab weiterreichen.
Nur so entsteht Kontinuität der Basis bei Weiterentwicklung
der Inhalte.
* Ihr habt das Thema Schußwaffen angesprochen. Die RZ
haben aber auch sonst auf einem technisch hohem Niveau agiert Wie
beurteilt ihr ihre sonstige Praxis jenseits der Schüsse?
Antonio: Auch die Anwendung von Sprengstoff und komplizierteren
Brandsätzen, die eher zum SpezialistInnentum neigt, als das
es zu massenweiser Nachahmung anregt, ist hinterfragenswert und
diskutierbar. Ich will damit sagen, dass mein Ziel ist, natürlich
mehr zu werden und das gelingt auch nur dann umso besser, wenn die
von mir angewandten Mittel auch von anderen ohne größere
Probleme angewandt und benutzt werden können. Das ist bei der
RZ oft nicht der Fall gewesen, denn wo zum Teufel soll ich mal eben
so schnell Sprengstoff beispielweise herbekommen? Es geht also hier
konkret um die Frage der Hierarchisierung der Mittel und inwieweit
dies beiden RZ's verinnerlicht war. (v.a. in der zweiten Hälfte
der 80er und Anfang der 90er) Die Praxis vieler militanter Kleingruppen
heutzutage mit sehr einfach nachzubauenden Schuhkartons (mit Benzinflaschen,
Joghurt-Bechern, den Kohleanzündern usw.) motiviert und regt
andere auch viel mehr an, da selbst mit einzusteigen.
Alle Materialien z.B. dieses Schuhkarton- oder Benzinflaschen-Brandsatz,
der problemlos unter Autos beispielsweise gelegt werden kann, können
in normalen Geschäften gekauft werden (Aber Vorsicht: achtet
auf Kameras und kauft immer woanders ein - und keine Prints). Die
Anleitungen können einfach verstanden werden. Hier kann die
Vermassung militanter Praxis Wirklichkeit werden.
Das soll grundsätzlich kein Abgesang sein, auf jeglichem höheren
Niveau zu agieren - die Frage ist doch, was ist mein Ziel? Wo fängt
Avantgarde Politik an? Will ich wirklich, dass viele auch so wie
ich agieren und wie kann ich das erreichen? Was ist die Strategie
meiner/unserer militanten Praxis und Politik?
Giovanni: Das läßt sich so einfach nicht sagen.
Die RZ waren viel zu heterogen in Zielsetzung, ideologischem Hintergrund,
auch in der Sprache ihrer Erklärungen, die ja immer wieder
ne Menge über die VerfasserInnen aussagen, um von "der"
RZ zu sprechen.
Aber angesichts des Desasters der Aussagen von Tarek Mousli, deren
genauer Inhalt und die Tragweite seines Verrates noch nicht bekannt
und abzuschätzen sind, sollte mensch sich die RZ noch einmal
genauer anschauen. Für viele von uns, die wir und der undogmatischen
autonomem Linken zurechnen sind, hatten die RZ schon so etwas wie
eine Orientierungsfunktion. Dies gilt v.a. für den sich auf
soziale Bewegungen beziehenden Teil dieser Gruppen. Orientierung
insofern, dass wir eine große Bedeutung gerade auf die Verankerung
unserer Politik in einer sozialen Bewegung legen. Da sind wir aber
natürlich auch schon bei unserem großen Problem. Soziale
Bewegungen existieren kaum und auch das permanente Hochhalten des
Widerstandes gegen Castor-Transporte läßt sich keine
große, soziale Bewegung herbeireden. Es existiert aber zumindest
eine gesellschaftliche Konstellation, in der es eine Offenheit gibt,
das Gewaltmonopol des Staates faktisch in Frage zu stellen und sich
nicht notwendigerweise von jeder nicht-legalen Aktion zu distanzieren.
Aber auch da dürfen wir uns nichts vormachen. Im Falle eines
Falles, werden wir erstmal relativ alleine dastehen.
Johnny: Der große Verdienst der RZ ist die Etablierung
einer militanten Ebene jenseits der Illegalität, wie sie die
RAF propagiert hat - eines Modells, das für viele Leute attraktiv
war und ist, die aus welchen Gründen auch immer nicht in den
Untergrund gehen wollten. Die RZ haben über 20 Jahre eine politische
und technische Praxis entwickelt, die für viele Vorbild und
Orientierung war. Sie haben nicht nur wie die meisten autonomen
Gruppen einen Anschlag gemacht und dann einen Absatz dazu veröffentlicht,
sondern sich in längeren Erklärungen intensiv mit einem
Thema auseinandergesetzt. Zu Themen wie Friedensbewegung, Startbahn
oder Antiamerikanismus sind lange Papiere veröffentlicht worden,
die sich mit dem Zusammenspiel von reformistischen und revolutionären
Bewegungen beschäftigt haben. Das war natürlich nicht
alles richtig, aber immerhin eine Form von politischer Qualität
und Auseinandersetzung, wie ich sie mir vorstelle.
Es ist natürlich billig, ein bißchen auf Korbmacher,
Karry und dem Sprengstoff rumzuhacken und dann zu sagen: Das war
aber kacke. Die RZ stehen auch für veröffentlichte Zeitungen,
Bücher und Sabotageaktionen wie dem Aufsteigenlassen von Aluminiumstreifen
an Heliumballons an der Startbahn, dem massenhaften Nachdrucken
von Fahrscheinen, dem Abfackeln von Schwarzfahrer- und Asylkarteien,
dem Abfackeln von Autos von Anwälten, die Vergewaltiger verteidigen
usw. usf. Ich möchte erstmal die autonomen Strukturen sehen,
die in der Lage sind, so intensiv so lange zu Themen zu arbeiten.
Oder ich erinnere nur an die abgefackelten Kaisers-Märkte,
womit die RZ Kaisers gezwungen haben, auf den Bau eines Supermarkt
auf dem Gelände des ehemaligen KZ Ravensbrück zu verzichten
- für mich eine der besten militanten Interventionen der 90er
Jahre.
Ich würde es mir wünschen, dass es Strukturen gäbe,
die in der Lage wären, Fahrscheine zu fälschen und zu
verteilen, die illegal mehrere Tausend Bücher mit Bauanleitungen
und inhaltlicher Debatte finanzieren, drucken und vertreiben könnten,
die in der Lage wären, in Behörden einzubrechen und Karteien
zu klauen.
Es ist richtig und wichtig, an den RZ viel zu kritisieren. Aber
wenn dies ohne eine differenzierte Position geschieht, die eben
dieser Vielfältigkeit gerecht wird, dann finde ich das nicht
okay. Viele Aktionen waren einfach richtig klasse.
III. Militante Avantgarde?
* Die RZ und die Rote Zora haben, rückblickend betrachtet
praktisch als erste Themen wie Antirassismus und Gentechnologie
angepackt. Liegt darin für Euch ein Anknüpfungspunkt?
Wie avantgardistisch darf, soll oder muß militante Politik
sein?
Giovanni: Die RZ waren sicherlich einer der Ersten, die
erkannt haben, welche Brisanz gerade in den Flucht- und Migrationsbewegungen
und den damit verbundenen staatlichen Abwehrversuchen liegt. Mit
Ausnahme von vielleicht Anti-Castor/AKW-Geschichen gibt es kaum
einen Bereich, in dem so viel und vielfältig gearbeitet und
gekämpft wird. Aber auch hier befinden wir uns in einem permanenten
Abwehrkampf gegenüber den staatlichen Macht- und Vernichtungsinteressen.
In einem solchen Abwehr- und Verhinderungskampf wird es immer schwerer,
die eigenen Positionen und Forderungen, die der Flüchtlinge,
und ihre Verbindungen zueinander aufzuzeigen. In den letzten Jahren
ist der Staat in fast allen Bereichen mit seinen Verschärfungen
durchgekommen.
An militantem Widerstand ist zwar einiges passiert, aber immer
häufiger werden die staatlichen Entscheidungsträger bei
diesen Aktionen ausgenommen. Immer öfter werden symbolische
Aktionen gegen Nutznießer dieser Politik durchgeführt.
Nicht, dass es falsch wäre, z. B. das DRK für seine schweinische
Rolle beim Unterhalten der Wohnheime verantwortlich zu machen, aber
es gibt v.a. auch die staatlich Verantwortlichen in den Bezirksämtern
und Regierungsgebäuden. Aber gerade diese scheinen uns immer
unantastbarer, immer unangreifbarer.
Antonio: Nun ja, ich denke die Flüchtlingskampagne
der RZ kam mindestens 10 Jahre zu früh. Folgerichtig hat sich
eine RZ (aus NRW) aufgelöst, weil sie erkannt hat, dass es
keine breite gesellschaftliche und/oder linksradikale Bewegung gegeben
hat. Ihre Aktionen waren wenig eingebettet. Das Ziel der Vermassung
konnte nicht erreicht werden. Das gilt für Berlin meiner Meinung
nach auch, auch wenn hier mehr dazu gelaufen ist.
Ich wage überhaupt zu bezweifeln, ob es möglich ist,
allein durch militante Aktionen, eine Bewegung, gesellschaftliche
Prozesse und Bewußtseinveränderung anzukicken und anzustoßen,
sofern keine Basis vorhanden ist. Ich denke, solche Vorhaben sind
zum Scheitern verurteilt. Auch der Versuch des Komitees 1995, den
Abschiebeknast in die Luft zu jagen, hatte schließlich keine
Basis, keine soziale Bewegung, aus der heraus sich agieren ließe,
auch wenn ihr Versuch, wenn er denn gelungen wäre, keinesfalls
nur eine symbolische Aktion dargestellt hätte. Vielen Flüchtlingen
hätte dies vielleicht vorübergehend Abschiebeknast ersparen
können, obwohl dies auch ein wenig spekulativ ist.
Erst heute oder seit wenigen Jahren ist Antirassismus ausgelöst
durch die Pogrome in Hoyerswerda 1991 und Rostock 1992, der faktischen
Abschaffung des Asylrechts durch die Drittstaatenregelung (Änderung
des §16 des Grundgesetzes), und der ständigen Verschärfung
ausländerrechtlichen Bestimmung wie Einführung von Chipkarten
etc. und dem Anblick abgebrannter Flüchtlingsunterkünfte
ein breiteres Thema innerhalb der linksradikalen Bewegung geworden.
Die letzten beiden Jahre gab es Grenzcamps mit mehreren hundert
Personen, 1998 eine "Kein Mensch ist Illegal"-Karawane,
mit großer Beteiligung von Flüchtlingen die durch etliche
Städte zog, Demos in den letzen Jahren vor Abschiebeknästen
in Büren, Grünau und anderswo, um nur einige Aktivitäten
aufzuzählen. Desweiteren existieren eine Menge andere Gruppen,
Kirchen, und Gewerkschaften die zu diesem Thema arbeiten.
Karla: Zu früh? Wieso? Gerade das frühe Erkennen
von Themen, oder wie ich es viel lieber sagen möchte: der Kampf
gegen die Anfänge ist eine unschätzbare Leistung. Stell
Dir mal vor wir sagen heute Nazis sind nicht überall, Rassisten
aber schon (was ja auch stimmt). Und daraus schließen wir,
dass der Kampf gegen Nazis und ich meine Kampf! nicht vordringlich
ist. Schließe ich dann weiter, dass wir Nazis erst wirklich
angreifen, wenn sie die Übermacht sind? Wenn ihre Infrastruktur
so steht, dass sie unsere Angriffe gar nicht erschüttern? Ich
plädiere zwar die ganze Zeit dafür, dass die Militanz
alleine nicht viel bewirkt, aber eine Sache aufzugreifen heißt
ja gerade mehr als Militanz. Heißt Strukturen sichtbar zu
machen und sie zu thematisieren zum Bleistift.
Es geht uns doch darum, dann aktiv zu werden, wenn wir das Problem
sehen. Wenn andere es nicht sehen. Wir müssen vielmehr in eine
solche Richtung diskutieren.
IV. Strukturen und Funktionalität
* Der Verrat des Autonomen Tarek Mousli hat eine alte Debatte
über tragfähige Gruppenstrukturen wiederangeheizt. Wie
sozial müssen militante Strukturen sein?
Giovanni: Es ist wichtig, unser eigenes Umfeld, unsere sozialen
(wenn sie es denn eben sind) Strukturen im Kopf zu haben. Und das
ist vielleicht auch eine Lehre aus der Geschichte der RZ, bzw. aktuell
aus den Aussagen Tareks. Wir können uns nicht vorstellen, wie
Tarek drauf ist, wenn er heute FreundInnen, frühere GenossInnen
ans Messer liefert, (und das mit allen Lügen und Konstrukten,
die sich sein Hirn ausmalen kann). Wir können uns aber auch
nicht vorstellen, wie er drauf war und wie es eine solche Entwicklung
vom treuen Genossen zum Verräter geben konnte. Aber wenn wir
die Texte und öffentlichen Erklärungen und Auseinandersetzungen
der RZ durchlesen, wird uns immer wieder klar, wie hart, funktional
und kalt das "Klima" teilweise gewesen sein muß.
Vieles in den Texten ist sicherlich nicht Ausdruck von Vertrauen
und Nähe. Gerade aber dies, dass heißt den vertrauens-
und liebevollen Umgang miteinander ist eine der Basen, auf denen
militante Gruppen agieren sollten. Ich denke, nur die Offenheit
auch für zwischenmenschliche Prozesse kann solche Entwicklungen
verhindern. Das soll nicht heißen, dass mensch sich nur noch
um den eigenen Bauchnabel dreht, aber wenn wir es nicht schaffen,
fern vom Funktionieren unsere Ängste und Verzweiflungen zu
thematisieren, werden wir immer wieder vor solchen Situationen stehen.
Antonio: Ergänzen möchte ich an dieser Stelle,
dass dieser harte funktionale, wenig vertrauensund liebevolle Umgang
etwas ist, dass in allen möglichen öffentlichen und halböffentlichen
Politgruppen innerhalb der Szene immer wieder zu beobachten ist.
Ohne jetzt im Einzelnen konkreter darauf einzugehen - denn das geht
an dieser Stelle ja schließlich nicht - kann ich dies leider
auch aus eigener bitterer Erfahrung nur bestätigen. Und das
in allen Facetten: Entweder bist du nur als Funktion wahrgenommen
worden oder funktional für eine Aufgabe, die sich andere, die
unglaublich überheblich und arrogant sind, für dich ausgedacht
haben, zugeteilt worden. Als Mensch mit all seinen Schwächen
und Problemen, mit seinem Kummer und Verzweiflungen, ob das nun
der Streit zu Hause in der WG ist oder mit deinen Eltern oder du
gerade Superstress mit deiner/deinem Liebsten hast oder sonstwas,
bist du nicht gesehen und wahrgenommen worden.
Ganz oft läuft das ja eher sehr subtil ab, dass du das in
dem Moment gar nicht bemerkst, dir das erst hinterher bewusst wird.
Wenn ich da jetzt rückblickend drüber nachdenke, erschrecke
ich manchmal selbst auch über mich. Da arbeitest du 2 oder
3 Jahre mit Leuten in einer Politgruppe zusammen, und wenn Einzelne
dir heute begegnen, wirst du von denen noch nicht einmal begrüßt,
und das ohne dass es einen größeren Streit gegeben hätte.
Da fragst du dich schon manchmal, was das eigentlich so alles wahr.
Das betrifft auch den Umgangston und die Streitkultur untereinander.
Da wird aufeinander rumgehackt, unter der Gürtellinie polemisiert
und ausgeteilt - da kann einem/r schon des öfteren gruselig
werden.
Aktuellstes Beispiel ist für mich der Kosovo-Krieg 1999 gewesen,
wo im Zusammenschluß vieler, die etwas gegen den Krieg machen
wollten, Einzelne andere Personen wegen deren Kritik am serbischen
Nationalismus, an der Politik der jugoslawischen Regierung und Milosevic
aufs Übelste beschimpft haben, des Verrates beschuldigten und
behaupteten, nur der billigen Bild-Zeitungspropaganda aufgesessen
zu sein. Natürlich verbergen sich da handfeste politische Konflikte
und unterschiedliche Heransgehensweisen dahinter - doch kann dies
kein Grund sein, die Ebene der solidarischen Kritik zu verlassen
und die anderen niederzumachen. Das geschieht nicht nur durch Beiträge
an sich, sondern auch und gerade durch die Art, wie sie vorgetragen
werden; wie oft und wie laut Einzelne sich durchsetzen und wie sie
reden. Da haben sich dann viele gar nicht mehr getraut, überhaupt
etwas zu sagen.
Aber davon kann ja jede und jeder ein Lied singen, von den informellen
Macht- und Redestrukturen in den ach so "tollen" politischen
Zusammmenhängen der autonomen und revolutionären Linken.
Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, das sich auf klandestine
Strukturen bezieht, du machst ein Fehler und daraufhin wird der
Kontakt mit dir abgebrochen oder du wirst ausgeschlossen, dir wird
mißtraut, ohne dir zu erklären warum, ohne sich die Mühe
der Vermittlung zu gehen. Und das obwohl du die Leute kennst, vielleicht
seit Jahren, und sie auch noch ständig siehst, mit ihnen auf
anderer Ebene auch noch was zu tun hast.
Es wird nicht diskutiert und Fehler gemeinsam analysiert und aufgearbeitet,
es wird mitgeteilt, ausgeschlossen, funktional entschieden, ohne
dass du Teil dieses Prozesses wärst. Auf solche Strukturen
kann ich gerne verzichten.
Das traurige ist, dass ich mich selbst z.T. darin bewegt habe und
es oft nicht fertig gebracht habe, das, was mich störte, zu
thematisieren. Manches bis heute nicht.
Der soziale Gehalt, die zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb
von Gruppen sind das, was wir oft vernachlässigen, aber eigentlich
die Basis gegenseitigen Vertrauens und die Grundvoraussetzung gemeinsamer
militanter Praxis.
Johnny: Prinzipiell ist das Pochen auf soziale Wärme,
auf ein Netz, was gegenseitig tragfähig ist, völlig richtig.
Das ist unverzichtbar. Politische, vor allem illegale Strukturen
sind allerdings weder ein Freizeittreff für Topfschlagen mit
Händchenhalten noch eine rein funktionale Kaderschmiede. Für
mich ist eine ausgewogene Mischung aus persönlichem Vertrauen
und persönlicher Nähe genauso wichtig, wie eine klare
politische Bestimmung. Ein politisches, sogar militantes Projekt
funktioniert meiner Meinung nach nur, wenn es ein Einverständnis
darüber gibt, was mensch politisch erreichen will und welche
Rolle der Einzelne, die Einzelne darin spielt. Und wenn es mehr
als drei Leute sein sollen, ist eine Struktur und Logistik unverzichtbar.
Gerade in einem illegalen Projekt muß klar und deutlich sein,
wer/welche was kann und bereit ist zu machen. Erst in einer klaren
Arbeitsstruktur wird deutlich, was geht und was nicht. Nur so ist
ein Weiterentwickeln möglich. Es geht also darum, den schmalen
Grat zwischen organisierter, politischer Effizienz und persönlichen,
sozialen Vertrauen zu finden.
Merkwürdigerweise sind es oft die größten Gegner
von klaren Strukturen, die vehementesten Kritiker von eindeutiger
politischer Bestimmung, die in ihrer WG oder ihrem Umfeld völlig
blind an Genoss/innen vorbeirennen oder drübertrampeln, wenn
es denen schlecht geht. Da fallen mir so einige Oberautonome ein,
die sich wirklich nicht mit Sensibilität bekleckern... Insofern
reagiere ich etwas empfindlich darauf, wenn den RZ jetzt so gerne
vorgeworfen wird, sie seien so kalt. Die Autonomen propagieren seit
10 Jahren sehr wortreich, wie warm und sozial Strukturen sein müssen
und wie böse Organisierung ist. Gleichzeitig ändert sich
in genau den gleichen Gruppen, die das propagieren, wenig bis nichts.
Und regelmäßig, wenn es zu Repression kommt, wird darüber
wieder geklagt. Eine solche Debatte finde ich nur dann gewinnbringend,
wenn sie nicht einseitig und schwarz-weiß geführt wird.
sondern rauszuarbeiten versucht, wieviel Soziales und wieviel Strukturelles
eine Gruppe braucht. Sonst ist sie, Stichwort ungeschriebener Autonomen-Knigge,
nur eine Selbstversicherung, wie gut mensch selbst doch ist. Ich
wüsste gerne, ob jemand von denen, die jetzt ganz genau wissen,
wie hart die RZ, wie falsch der Einsatz von Sprengstoff war, das
auch bei der Roten Zora kritisieren. Da höre ich immer nur
positive Stimmen, obwohl die Organisationsstruktur gleich der der
RZ war, es gemeinsame Aktionen gab und auch die Rote Zora mit Sprengstoff
gearbeitet hat. Eine Gruppe ist doch nicht besser, wenn sie aus
Lesben mit jüdischen Vorfahren besteht, sondern sollte nach
ihrer Struktur, ihrer politischen Praxis und ihren Äußerungen
beurteilt werden. Da sind die Maßstäbe nicht immer gleich.
Im übrigen ist für mich ein sensibler persönlicher
Umgang selbstverständlich, das betrifft nicht nur illegale
Projekte. Ich weiß ja nicht, mit wem ihr so abhängt,
aber bislang grüße ich noch alle Leute, mit denen ich
mal was gemacht habe.
Liliane: Alle militanten Gruppen haben ein Problem, das
sich nicht so leicht überwinden bzw. verändern läßt,
das betrifft auch die Rote Zora: du organisierst im Geheimen, führst
ein Doppelleben, darfst dir den Streß nicht anmerken lassen
oder erfindest Ausreden und Lügen. Anerkennung holst du Dir
im günstigstenfalls über die Medien.
In zugespitzten Situationen, wie kurz vor einer Aktion oder in
Repressionsphasen wirst Du hart, funktional, dein Toleranzpegel
anderen gegenüber sinkt. Und wenn du so abgespalten über
Jahre lebst, in dich verkapselt, meistens siehst du deine MitaktivistInnen
nicht so häufig, dann können Persönlichkeitsveränderungen
eintreten, die alles andere als emanzipativ sind. Ich behaupte,
dass Menschen die über längere Zeit militant aktiv waren,
am ehesten eine Phase notwendig haben, wo sie wieder als ganzheitliche
soziale Menschen Emanzipation erlernen müssen. Zumindest solltest
Du dir als Militante/r bewusst sein, dass du vom "besseren
Menschen, mit all seinen Widersprüchen oft entfernter bist
als andere Szenemenschen (bei aller berechtigter Kritik gegenüber
Szeneverhalten). Den Gedankengang zuende geführt, heißt
es für mich, im Kampf permanent gegen etwas zu sein, macht
mich langsam zur anderen Seite der Medaille. Deswegen hat es für
mich auch eine systemimmanente Logik wenn bewaffnete/militante Gruppen
mit Geheimdiensten zusammenarbeiten oder ihre vermeintlichen Verräter
wie es Gerd Albartus gewesen sein soll, hinrichten. Sprich: du solltest
immer eingebettet sein - sei es eine Bewegung oder wenigstens in
eine menschliche, emanzipative Utopie, die nicht nur dem platten
Kommunismus-Modell oder dem romantisierenden anarchistischen Ideal
entspricht.
* Alle Utopien, die ihr formuliert, sind durch den Verrat von
Tarek Mousli auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt worden.
Liliane: Finde ich nicht, auf welche Tatsachen denn? Tarek
versucht, sich mit Hirngespinsten freizukämpfen. Wir werden
sehen, wie weit die BAW damit kommt. Was mit Tareks Aussagen völlig
in den Hintergrund tritt, ist die Tatsache, dass es auf der militanten
(nicht bewaffneten) Ebene bisher kaum Verrat oder ähnliches
gab - das Kaindl-Verfahren mal außen vor gelassen.
Antonio: Tareks Aussagen sind bitter, sehr bitter. Die,
die ihn damals anvertraut haben, werden sich jetzt wohl Vorwürfe
machen - wie konnte das passieren. Ich weiß es auch nicht.
Interessieren würde mich jedoch, wie es passieren kann, dass
Leute, die jahrelang in der Szene aktiv waren, plötzlich oder
weniger plötzlich aufhören, Politik zu machen und warum
löst sich das ganze soziale Umfeld auf und verändert sich?
Was ist unser Anteil daran? Wo sind Brüche entstanden und warum?
Am Alter kann es meiner Meinung nach jedenfalls nicht gelegen haben.
Viele der möglichen Gründe haben wir ja schon aufgezählt
- Funktionalität, menschliche Kälte, Oberflächlichkeit
usw. wahrscheinlich hat eine Vielzahl von Faktoren und noch viel
mehr im Zusammenspiel dazu geführt, dass Tarek soviel redet
und Leute in den Knast befördert. Ich habe im Moment mehr Fragen
als Antworten. Ich kann nur wiederholen, was bereits schon hundert
mal gesagt worden ist. Leute, laßt euch Zeit, überstürzt
nichts, diskutiert über alles, laßt Ängste und Zweifel
zu. Die, die scheinbar immer alles klar haben, überspielen
damit vielleicht nur ihre Ängste und lassen nichts unter ihre
Oberfläche. Und die, die vielleicht oft am zweifeln und grübeln
sind, sind innerlich vielleicht viel mehr überzeugt und gefestigt,
weil sie sich eben nicht nur oberflächlich mit vielen Sachen
auseinander setzen. Laßt euch auf jeden Fall Zeit, diskutiert
lieber einmal zu viel, als zu wenig. Ein Patentrezept gibt es nicht
- aber achtet aufeinander, auch auf Spannungen und Probleme innerhalb
der Gruppe..
Und geht allen Sachen auf den Grund, warum machen Leute was, was
ist ihre Motivation? Was ist eure persönliche Motivation, oder
verschafft ihr euch dadurch Anerkennung und Bestätigung? Könnt
ihr wirklich die Folgen der Repression abschätzen? Seid ihr
wirklich bereit, 10, 15 oder mehr Jahre in den Knast zu gehen?
Johnny: Tarek ist ein Sonderfall, ich kenne nur ganz wenige
vergleichbare Werdegänge. Er hat in den 80er Jahren eine Entwicklung
durchgemacht, die viel zu schnell viel zu tief ging. Er hat einfach
mit Anfang, Mitte 20 nach wenigen Jahren Praxis total viel mitgekriegt.
Zumindest Ansätze, aus denen er jetzt Sachen bastelt. Zu einem
Zeitpunkt, zu dem andere eigentlich entweder entschieden haben,
nicht mehr die Seiten zu wechseln oder aber schon abgesprungen sind,
hat sich Tarek dann innerhalb weniger Jahre von der Szene verabschiedet
und hat sein Leben drastisch geändert - Anfang, Mitte der 90er.
Da war er schon in den 30ern. Das ist ungewöhnlich. Für
Tarek haben offenbar schon Statussymbole wie Geld und repräsentative
Frauen einen wichtigen Stellenwert gehabt. Das hat sich in den letzten
Jahren verschärft. Ich weiß natürlich auch kein
Patentrezept, aber die Dinge langsamer angehen, genauer nach den
Motiven zu gucken, Ziele und Inhalte zu diskutieren und darauf zu
achten, dass Leute nur das machen, was sie auch vertreten könne,
scheint mir schon richtig.
Antonio: Ich verstehe nicht, was "Statussymbole wie
Geld und repräsentative Frauen" mit seinen Aussagen und
Belastungen zu tun haben. Wo ist da der Zusammenhang? Das darauf
zu reduzieren oder das gar als Grund zu sehen ist doch politisch
fatal. Ich finde, wir sollten solche vereinfachten Erklärungsmuster
für seine Aussageberreitschaft zurückweisen. Die Problematik
ist viel komplexer und vielschichtiger. Ich kann mich da nur der
Meinung der Autonomem L.U.P.U.S.-Gruppe aus Frankfurt/Main (siehe
auch Jungle World vom 1.März 2000, Nr. 10) anschließen.
Wer sich mit Tareks Aussagen beschäftigt und nach den Gründen
fragt, sollte sich auch mit den Strukturen, sowie mit dem politischen
Hintergrund, in dem er sich bewegte, beschäftigen.
V. Die Spaltung im Jahr 1976
* Kommen wir noch mal zu den Revolutionären Zellen, um
die es der Bundesanwaltschaft momentan geht. Für die RZ war
1976 die Flugzeug-Entführung in Entebbe ein Einschnitt. Mit
Brigitte Kuhlmann und Wilfried Böse sind zwei RZ-Mitglieder
erschossen worden. Danach hat sich die Organisation gespalten und
Entebbe hat auch bei der Auflösungsdebatte 1992 eine wichtige
Rolle gespielt. Spielt das in Euren Diskussionen eine Rolle?
Johnny: Für mich ist das ganz, ganz weit weg und sehr
schwer nachvollziehbar. Bei dem ganzen Komplex laufen mir bis heute
Schauer über den Rücken.
Giovanni: Wir können aus der Spaltung der RZ nach Entebbe
'76 einiges in Bezug auf unseren Umgang mit nationalen Befreiungsbewegungen
lernen. Flugzeugentführungen an sich sind für uns keine
Aktionen, die von Linken durchgeführt werden sollten. Indem
eine zufällig in einem Flugzeug sitzende Gruppe von Menschen
als Geiseln genommen wird, negierst du grundlegende Kriterien revolutionärer
Politik. Es spielt dann keine Rolle, welche konkrete Verantwortlichkeit
für zu bekämpfende gesellschaftliche Prozesse diese Menschen
haben. Nur das Vorhaben, von einem Ort zu einem anderen zu fliegen,
macht sie zu Zielen einer Aktion. Grundsätzlich ist das Leben
und die Gesundheit von Unbeteiligten zu schonen, ein nicht auflösbarer
Widerspruch zu diesen Aktionen. Eine RZ erklärte dazu: "Statt
in einer grundlegenden Debatte Logik, Ablauf und Resultat der Aktion
(gemeint ist Entebbe) einer schonungslosen Analyse zu unterziehen
und daraus Schlußfolgerungen für unsere weitere Praxis
zu ziehen, gaben wir uns mit halbherziger Kritik zufrieden. Die
naheliegende Konsequenz, wieder an dem anzuknüpfen, wofür
unsere Politik in der BRD stand, nämlich die Orientierung auf
den sozialen und politischen Bewegungen im Lande, zogen nur einige."
Im gleichen Text wird sicherlich viel zu spät, Kritik an der
unbedingten Solidarität mit den Befreiungsbewegungen geäußert,
unter anderem deshalb, weil es wie so oft die Männer waren,
die alle neuen Schaltstellen der Macht besetzt und damit letztlich
das Patriarchat zementiert haben.
Antonio: Zu Entebbe und dem Verhältnis zu nationalen
Befreiungsbewegungen, insbesondere zu dem palästinensischen
Befreiungskampf ist das Papier einer RZ "Gerd Albartus ist
tot" von Dezember 1991 sehr aufschlussreich. Giovanni hat dazu
schon einiges gesagt. Hinzufügen ließe sich, dass es
u.a. sehr deutlich die mangelnde Auseinandersetzung mit Antisemitismus
innerhalb der Linken, insbesondere der bewaffneten Gruppen aufzeigt.
Der Widerspruch, dass Israel einerseits verantwortlich ist für
Vertreibung, Ermordung, Massaker (Shatila und Schabra 1982) an den
PalästinenserInnen, für ihre aggressive Siedlungspolitik,
ihre Funktion im Gefüge des Imperialismus im Nahen Osten, ihre
Zusammenarbeit mit diktatorischen Regimes, insbesondere Südafrika
während der Apartheid-Zeit und andererseits die Tatsache, dass
Israel zugleich Zufluchtsort der Überlebenden der Shoa ist
und somit uns wieder mit der eigenen deutschen Geschichte konfrontiert,
ist jahrelang ausgeblendet und kaum thematisiert worden.
Zwar stimme ich zu, wie eine RZ in ihrem Papier von Mai 1992 ("Wir
müssen so radikal sein, wie die Wirklichkeit") schreibt:
"Eine Lösung kann nur eine Revolution herbeiführen,
die allen Menschen eine gleichwertige Existenz erkämpft",
zumal ich als Anarchist jegliche Form von Staaten, Nationalstaaten
negiere und bekämpfe, weil sie nur wieder neuer Formen der
Macht und Herrschaft produziert, doch ist, um bei dem Beispiel des
palästinensischen Befreiungskampf zu bleiben, eben jenes Ziel,
die Revolution, was das immer auch sein mag, von dem Bestreben eben
jener palästinensischen Befreiungsorganisationen, einen eigenen
Staat zu schaffen, ebenso von der Realität eingeholt worden,
wie die Tatsache, dass ein gewisser Teil der palästinensischen
Bevölkerung das Existenzrecht Israel anerkennt, wenn auch nicht
in dieser Form und dieser geographischen Ausdehnung und des weiteren
Lösungen oft nicht so einfach und schwarzweiß zu erreichen
sind, wie wir uns das hier in den Metropolen oft vorstellen.
Vergessen sollten wir außerdem nicht, dass es auch innerhalb
der Linken in der BRD ein unreflektiertes, vereinfachtes Klischee-Bild
des Gesamtkonfliktes existierte. Noch gegen Ende der 80er Jahre
hing in der Hafenstraße in Hamburg ein Wandbild, mit der Aufforderung,
israelische Waren und Produkte nicht zu kaufen und Strände
und Kibbuze zu boykottieren.
Grundsätzlich sehe ich jedoch kein Widerspruch zwischen internationalistischer
und sozial bewegter Orientierung militanter Politik und Praxis.
Das kann sich beides doch ergänzen und muß nicht im Widerspruch
zueinander stehen. Ich halte es für wichtig und notwendig,
sich mit Befreiungsbewegungen, sozialen Aufständen und Revolten,
politischen Kämpfen, Streiks und allem, was progressiv und
emanzipativ in der Welt ist, zu beschäftigen und sich gegebenenfalls
zu solidarisieren, zu vernetzen und zusammenzuarbeiten. Auch wenn
wir unterschiedlichen Bedingungen unterliegen, gibt es viele Gemeinsamkeiten
und manchmal auch gemeinsame Ziele und Vorstellungen und Utopien
einer neu zu schaffenden, befreiten Gesellschaft.
Ein ausgezeichnetes Beispiel für internationale Solidarität
waren die Aktionen der Roten Zora im Juni und August 1987. Sie griffen
mehrere Filialen und die Hauptverwaltung der deutschen Adler Bekleidungsindustrie
GmbH an, die über die Textilfabrik Flair Fashion in Südkorea
produzieren ließ. Dort streikten die Arbeiterinnen gegen die
unmenschlichen Arbeitsbedingungen. Diese Aktion der Roten Zora fand
zu einem Zeitpunkt statt, an dem bereits eine breite Öffentlichkeit
zu diesen Kämpfen hergestellt war. In vielen Ländern des
Trikont wurden die Aktionen der Roten Zora begeistert aufgenommen
und als Ausdruck für eine internationale Frauensolidarität
begriffen.
Und die Aktionen der Roten Zora waren nicht ohne Ergebnis. Einige
der Roten Zoras schreiben dazu (aus ihrem Papier "mili's Tanz
auf dem Eis" von Dezember 1993): "Der materielle Erfolg
lag in der Durchsetzung der Forderungen der Flair-Fashion-Arbeiterinnen.
Der politische Erfolg bestand/ besteht in der Erfahrung der eigenen
Kraft, Forderungen durchzusetzen. Der materielle Erfolg kann die
Ausgangsbasis für weitere Kämpfe verbessern, er kann aber
auch von der Gegenseite zurückgenommen werden. Was bleibt,
ist die Erfahrung, dass wir in gemeinsamen Kämpfen Stärke
entwickeln können, an der die herrschende Macht Grenzen findet."
Johnny: Diese Aktionen der Roten Zora fand ich auch prima.
Aber es war ja auch so, dass sie bundesweit organisiert auf hohem
technischen Niveau mit Zeitzünder und einer chemischen Mischung
stattfanden und damit auch den so kritisierten Avantgarde-Charakter
hatten...
Ich bin an der Frage des Internationalismus' etwas zurückhaltender
geworden. In den 70er und 80er Jahren gab es eine weltweite Aufbruch-Stimmung,
die sich wesentlich an zwei Linien orientiert hat: Der Solidarität
mit den PalästinenserInnen und der Solidarität mit den
sozialistischen Befreiungsbewegungen in Lateinamerika. Ein intensiverer
Bezug auf Vietnam, China etc. hatte sich schnell durch den orthodoxen
Staatssozialismus erledigt. Heute gibt es diese Fixpunkte so nicht
mehr. In Palästina ist eine historisch ganz neue Situation
eingetreten, die für die Palästinenser sicherlich erstmal
ein Fortschritt ist. Und in Lateinamerika sind fast alle Hoffnungsprojekte
nur begrenzt weitergekommen. De facto sind die Militärdiktaturen
von bürgerlichen Demokratien abgelöst worden.
VI. Perspektiven des Internationalismus
* Was heißt das in puncto Internationalismus für
heute?
Johnny: Für mich ist eine Reaktion auf die historischen
Umbrüche, mich zwar solidarisch auf verschiedene Kämpfe
weltweit zu beziehen, das aber mit viel mehr Distanz zu betrachten.
Mit dem palästinensischen Autonomiegebiet verbindet mich heute
beispielsweise kaum noch was. Ich versuche, Verantwortung für
meine eigene Praxis da zu übernehmen, wo ich lebe. Ansonsten
beobachte ich aufmerksam, etwa die Entwicklung im Baskenland, wo
ich sehe, dass die ETA viele Fehler macht. Aber es ist nicht so,
dass ich da aktiv würde. Das, was die Rote Zora in einem Emma-Interview
zu der besagten Adler-Aktion gesagt hat: "Wir kämpfen
nicht für die Frauen in den Ländern der Peripherie, sondern
mit ihnen", kann ich heute leider nicht mehr von mir sagen.
Ich unterstütze vielleicht den kurdischen Befreiungskampf,
aber ich kämpfe nicht mit. Ich unterstütze vielleicht
den Kampf im Baskenland, aber ich kämpfe nicht mit. Was ich
allerdings mache, ist, mich hinter eine Analyse zu stellen, die
weltweite Entwicklungen vor allem im ökonomischen Bereich -
Stichwort Globalisierung - aufnimmt und zu verstehen versucht, wie
ddie Börse in New York mit den Warenströmen in Europa
und den Ausbeutungsverhältnissen der indischen Arbeiter zusammenhängt.
Antonio: Auch hier wieder sind die Rote Zora ein gutes Beispiel:
Als sie eine deutsche Rüstungsfirma (Lürssen-Werft in
Lemwerder bei Bremen) mit einem Brandsatz attackierten (am 24.7.1995)
(siehe auch Interim Nr. 341 vom 3. August 1995), haben sie in ihrer
Erklärung nicht nur aufgezeigt und deutlich gemacht, dass die
deutsche Regierung und deutsche Rüstungsunternehmen ihr dreckiges
Geschäft mit dem Krieg in Kurdistan verdienen, sondern auch
in einzelnen Punkten patriarchale, hierarchische und nationalistische
Strukturen und Erscheinungsformen des kurdischen Befreiungskampfes
(insbesondere der PKK) kritisiert. Ein Beispiel aus ihrer Erklärung:
"Mit der PKK kann frau sich nicht identifizieren - wir auch
nicht -, und leider wird Solidarität meistens von dieser Frage
abhängig gemacht. Wir wollen hier über politische Solidarität
diskutieren, die sich nicht länger an der Identifikation mit
Befreiungsbewegungen oder der Distanzierung von ihr mißt.
Über Identifikationen werden eigene Wünsche projiziert,
dsie versperren den Blick auf die realen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen.
(...) Die PKK selbst legt keinen Wert auf eine klare Formulierung
sozialer Befreiungsvorstellungen oder Programme. Sie und ihre deutschen
UnterstützerInnen fordern dazu auf, die "nationale Befreiung
des Landes" als Priorität anzuerkennen und daher ihre
militärischen Erfolge im bewaffneten Kampf gegen das türkische
Militär, in dem der "neue Mensch" schon mit Hilfe
der Partei geformt würde, zu unterstützen." Dies
ist für mich ein gutes Beispiel differenzierter, zugleich aber
auch solidarischer Internationalismus-Arbeit.
Entscheidend, was internationale Solidarität anbelangt, finde
ich jedoch, Kritiken und Widersprüche zu erkennen, und wenn
sie auftauchen und vorhanden sind, zu benennen und zu thematisieren.
Platte, unkritische Solidarität ist nicht nur unglaubwürdig,
sondern kann auch ins Desaster führen, wie am Beispiel Palästina
und der Geschichte um Gerd Albartus sich verdeutlicht hat. Ein anderes
Beispiel ist Kurdistan, wo sich auf platteste Art und Weise mit
der PKK z.B. solidarisiert wurde, ohne den Hauch von Kritik an patriarchalen,
hierarchischen, nationalistischen oder sonstigen Strukturen.
Jetzt, wo Öcalan im Knast sitzt und auch noch von dort Weisungen
gibt wie beispielsweise den bewaffneten Kampf gegen die Türkei
einzustellen und dies alles brav befolgt wird, allerdings nicht
ohne Widersprüche, wird deutlich, wie weitreichend Personen
und Führerkult in dem kurdischen Befreiungskampf, hier am Beispiel
der PKK, integriert und akzeptiert ist.
Chiapas ist ein weiteres Beispiel. Diese ganze Linke der Welt schaut
auf Chiapas und feiert den Aufstand der indigenen Gemeinden, die
Basisdemokratie und den Oberphilosophen Marcos. Revolutionsträume
hiesiger Metropolenlinke werden auf Chiapas projeziert, die süßen
Worte von Marcos verkleben die Widersprüche am Nationalbewußtsein,
am Helden-und Personenkult (z.B. überall Marcospuppen), an
patriarchalen und hierarchischen Realitäten und Gegebenheiten.
Ein neues Video über die Situation in Mexiko und v.a. in Chiapas
kommt leider auch nicht über übliche Klischees hinweg.
Der Film ist ein gutes Werbe- und Propaganda-Produkt, entstanden
mit allerbesten Absichten - den Widerstand in Chiapas als gut und
gerecht darzustellen. Das ist er sicherlich - aber darum geht es
nicht nur. Denn das ist nur ein Teil der Wahrheit, wir wollen mehr
wissen, nämlich, was hinter den Kulissen geschieht, die Details,
die Probleme, die Konflikte, die Auseinandersetzungen und nervenden
Streits usw. Wir sind mündig genug, selbst zu entscheiden.
Wer die unschönen Dinge verschweigt, belügt auch sich
selbst, weil er/sie sich eine Scheinwelt aufbaut in Träumen
oder Vorstellungen, die so nicht existieren und dann auf einmal
ganz hart und brutal von der Realität eingeholt wird. Nicaragua
hat dies auch sehr deutlich gezeigt. Abschließend ist dies
als ein Plädoyer für kritische Solidarität zu verstehen.
Das dem Grenzen gesetzt sind, ist klar und muß im Einzelfall
diskutiert und entschieden werden.
Ein gutes Beispiel für internationale Zusammenarbeit in heutiger
Zeit sind die Peoples Global Action Days, wie zuletzt am 30. November
1999. Weltweit haben Nicht-Regierungs-Organisationen, Basisgruppen,
rev. Linke, indigene BauerInnen, GewerkschaftlerInnen und Anarchistische
Gruppen gegen die WTO, Neoliberalismus, Transnationale Konzerne
und Globalisierung protestiert und Äktschens gestartet. Von
Seattle (USA), wo 50.000 Menschen gegen die Tagung der WTO-Konferenz
demonstrierten über tausende BauerInnen in Indien, die gegen
ein riesiges Staudammprojekt, finanziert von Multis und gegen den
US-Multi Monsanto, der Schweiz, wo 5000 Leute direkt vor dem WTO-Hauptsitz,
Frankreich, wo in 80 Städten insgesamt 80.000 Menschen bis
hin zu den Philippinen, wo 8000 Personen vor der US-Botschaft in
Manila demonstrierten. Sogar in Berlin gingen ca. 1750 Menschen
bei der Spackparade auf die Straße, um in einer ungewöhnlichen,
aber sehr wohl ermunternden und witzigen Art ihren Unmut und Protest
auszudrücken. Hinzufügen sollte mensch, dass einige diese
Spackparade allerdings angesicht der Ernst der Lage gar nicht so
angemessen fanden, vor allem, nachdem bekannt wurde, wie ernsthaft
unsere GenossInnen in Seattle doch gekämpft hatten.
Karla: Für mich waren die Revolutionären Zellen
schon immer mehr innerhalb Deutschlands relevant. Internationalismus
ist eine ideologisch richtige Haltung. Darüberhinaus war sie
für mich stets eine Frage der Solidarität und nicht der
revolutionären Hoffnung. Genau dieses aber unterstelle ich
großen Teilen der internationalistisch orientierten Autonomen.
Entweder StellvertreterInnenpolitik oder was es auch gab und was
ich auch zu Teilen der RZ sagen würde, vorgeschoben für
eine Praxis, die sonst keine Legitimation gefunden hätte.
* Die RZ haben aus der Entebbe-Diskussion den Schluß gezogen,
sich konsequent auf Aktionen in Deutschland zu beziehen. Einige
wie Johannes Weinrich, teilweise auch Gerd Albartus, haben dagegen
in der "Gruppe Internationaler Revolutionäre" weitergemacht.
Johnny: Wenn ich oben gesagt habe, dass es mich bei Entebbe
schaudern lässt, dann gilt das hier ganz besonders. Viele Aktionen
der Gruppe sind mir suspekt bzw. lehne ich Anschläge wie den
auf das Maison de France in Berlin grundweg ab. Auch alles, wie
hierarchisch die Strukturen innerhalb der Gruppe auf Carlos und
in der Ebene drunter auf Weinrich zugeschnitten waren, gefällt
mir gar nicht. Schließlich würde ich es rückblickend
als großen Fehler betrachten, mit den östlichen Geheimdiensten
so eng kooperiert zu haben. Diese Kritik gipfelt in der Liquidierung
von Gerd Albartus, die, nach allem was ich weiß, aus einem
letztlich völlig unerheblichem Grund geschah. Der ganze Komplex
ist für mich ein Beispiel dafür, wie sich revolutionäre
Politik verselbständigt und letztlich selbst unmenschlich wird.
Giovanni: Auch für uns ist die Carlos-Weinrich-Gruppe
ziemlich suspekt. Eine RZ hat einmal gesagt: "Die Erfahrung
der Grausamkeit des Gegners enthebt niemanden der Verpflichtung,
zu jedem Augenblick Auskunft über die Mittel und Methoden geben
zu können, die er selbst anwendet." Gemeint sind da v.a.
wohl auch die Kriterien, nach denen sich die Entscheidung für
eine Aktion vollzieht, benennen zu können. Für uns sind
benennbare Kriterien in den Aktionen dieser Gruppe häufig nicht
sichtbar geworden. Vielmehr wurde Leben und Tod auch von völlig
Unbeteiligten nur noch unter funktionalen Gesichtspunkten gesehen.
Das Leben eines Einzelnen wurde einen höheren Ziel geopfert.
Es stimmt uns nachdenklich, dass wir die Aussage von Magdalena
Kopp, Carlos selbst hätte Gerd Albartus in Damaskus hingerichtet,
nicht für ausgeschlossen halten.
Aber losgelöst von Carlos ist in diesem Zusammenhang einmal
mehr die Frage wichtig, wie sich Gruppen, nach außen abgeschottet
im Inneren weiter entwickeln.
Also die Frage, wie hinterfragbar waren die RZ, in welchem Diskussionsprozeß
standen sie mit ihrem sozialen Umfeld? Waren Entwicklungen transparent
und gab es Möglichkeiten, Fehlentwicklungen zu thematisieren?
Allein die Aussage, dass der Prozeß der schleichend weniger
werdenden sozialen Verankerung und das Verschwinden von Spontanität
und Kreativität Merkmal klandestiner Strukturen sei, ist so
banal wie richtig. Diesen Prozeß genauer zu durchleuchten
ist eine Aufgabe, die noch heute ansteht. In der Interim 187 werden
dazu treffende Fragen aufgeworfen: "Wie stark ward ihr eigentlich
noch in der Organisierung von sogenannter Massenmilitanz vertreten?
Oder habt ihr euch diese wichtige Erfahrungsebene aus konspirativen
Überlegungen heraus grundsätzlich abgeschnitten? Wie ist
es dazu gekommen, dass in dem Kampf "Um die Herzen und Köpfe
der Menschen" nur noch in Anschlagsdimensionen gedacht wurde
und die Ebene der Gegenpropaganda, der phantasievollen Vermittlung
vollkommen weggefallen ist?"
Uns fehlt dazu der gesamte Bereich der gruppeninternen Prozesse.
Denn sichtbar ist heute, dass es eine Minus-Auseinandersetzung innerhalb
dieser Strukturen gegeben haben muß, gekennzeichnet von Mißtrauen,
Fraktionierung und immer wieder nur der Absicht, "die Anderen
zu widerlegen". Darüber scheint uns auch einiges von Tareks
Aussagen und dem Umgang mit ihm erklärbar.
VII. Organisierter Widerstand heute
* Wie seht Ihr das Scheitern jüngerer militanter Projekte
wie dem K.O.M.I.T.E.E. ?
Antonio: Dass das Komitee gescheitert ist, liegt weniger
an der Form der Organisierung als an den Fehlern, die sie selber
gemacht haben und knüpft eher an das an, wovon wie vorher schon
mal geredet haben: Umgang untereinander, Funktionalität usw.
Das Komitee selbst schreibt dazu in seiner Auflösungserklärung
vom 6.9.1995: "Zu unseren Fehlern. Für die Ausführung
der Aktion hatten wir uns einen festen Termin gesetzt, dem ein,
wie sich herausstellte, äußerst knapp berechneter Zeit-
und Arbeitsplan vorausging. Je näher der Tag der Aktion kam,
desto deutlicher wurde, dass wir keinen Raum mit eingeplant hatten,
um neu auftretende Probleme und die latent vorhandenen Ängste
der Einzelnen zu thematisieren und kollektiv lösen zu können.
Wir verfielen einem Mechanismus, der in unserer Männercombo
nicht unbedingt neu war: es wurde von jedem Einzelnen verantwortlich
am eigenen Aufgabenbereich gearbeitet und dabei der Blick für
das Ganze verloren". Abschließend schreiben sie am Ende
ihrer Erklärung: "Der von uns anvisierte Effekt, mobilisierend
auf die radikale Linke zu wirken, hat sich durch unser Scheitern
und durch die Art des Scheiterns ins Gegenteil verkehrt. Wir werden
unsere politische Arbeit als K.O.M.I.T.E.E. beenden. Diese Entscheidung
haben wir aufgrund der Gesamtheit der von uns verursachten Fehler
gefällt."
* Warum agiert Ihr im Gegensatz zu den RZ oder dem K.O.M.I.T.E.E.
als "autonome Gruppen" und nicht unter kontinuierlichem
Namen?
Antonio: Aus Gründen der Repression habe ich mich und
viele andere auch entschieden, nicht unter dem gleichen Namen, sondern
jedes mal unter einem anderen Namen aufzulaufen. Du wirst im Falle
einer Verhaftung und Verurteilung nur für eine Aktion haftbar
gemacht und nicht für alle Aktionen, die im Namen einer Gruppe
stattgefunden haben. Die Kontinuität erklärt sich aus
dem inhaltlichen Bezug. Soweit dazu.
Johnny: Ich sehe Für und Widers. Was dagegen spricht,
hat Antonio schon gesagt. Was dafür spricht, finde ich auch
gewichtig. Das K.O.M.I.T.E.E. schreibt in seiner Auflösungserklärung:
"Wir sind davon ausgegangen, dass Beiträge und Interventionen
von Gruppen, deren Name für eine bestimmte Praxis und politische
Ausrichtung steht, von der Öffentlichkeit und der Linken mit
einer größeren Aufmerksamkeit gelesen, verfolgt und diskutiert
werden als Veröffentlichungen von Gruppen ohne erkennbare Kontinuität.
So hofften wir im Laufe der Zeit auf die Entwicklung der linken
Scene einen positiven Einfluß zu haben und Orientierungspunkte
zu setzen."
Das sind sehr starke Argumente für einen festen Namen. Was
autonome Gruppen wollen, weiß doch heute über die "Interim"-Leserinnen
hinaus niemand mehr. Und wer, welche da für was steht, auch
nicht mehr. Ich fände es konsequent, für die eigene politische
- nicht nur militante - Praxis auch politisch einzustehen und sie
weiter zu entwickeln. Denn die allermeisten Texte "autonomer
Gruppen" sind inhaltlich auf einem peinlichen Niveau.
Liliane: Es gibt auch inhaltliche Brüche, dies - unter
festem Namen zu agieren - nicht zu tun. Nämlich die Zementierung
der Hierarchie. Du erhältst einen Markennamen und gibst politisch
richtungsweisende Erklärungen ab, die dadurch in der Szene,
aber auch in den Medien mehr Gehör finden. Das ist selbsternannte,
unkontrollierbare Avantgarde. Du unterstreichst das dann auch noch
mit deinem persönlichen Einsatz, dafür Jahre in den Knast
kommen zu können. Die Kritik kann nur schriftlich erfolgen
und eine persönlich geführte Auseinandersetzung ist qualitativ
einfach etwas anders. Das heißt, als militante Gruppe kannst
Du auch gewissermaßen im eigenen Saft versauern. Wenn du wechselnde
Namen nimmst, machst du Dich selbst auch nicht so wichtig. Es lastet
auch nicht der Fluch auf Dir, technisch immer besser und versierter
zu sein, möglichst hohen Schaden anzurichten. Manchmal kann
ein gut gezielter symbolischer Nadelstich viel wirkungsvoller sein.
Ich denke die RZ und die Rote Zora waren (sind?) in einer Eigendynamik
gefangen, die da hieß: sie bürgen mit ihrem Namen für
Qualität, wenn schon illegal dann aber richtig, wofür
haben "wir" (die RZ) ansonsten unseren ganzen Sprengstoff,
unseren mühevoll aufgebauten Logistikapparat - der uns viel
Zeit, Kraft, Geld und u.a. viele sonstige Entbehrungen gekostet
hat - ihr müßt euch diese Eigendynamik so richtig vorstellen
und das dann noch isoliert, in keine größeren Debatten
über linksradikale/militante Strategien eingebunden. Stellt
euch mal vor, die RZ hätte irgendwann mal - wie jetzt in Erfurt
geschehen, allerdings natürlich nicht von ihnen - einen Farbbeutelanschlag
auf's Landratsamt gemacht. Ich hätte mich darüber riesig
gefreut und innerlich gesagt: welcome! Aber in der Szene wären
doch viele konsterniert gewesen. Ich will damit sagen, dass wechselnde
Namen ein Schutz vor Eigendynamiken und Abgehobenheit ist. Allerdings
liegt es auch an der Gruppe selbst, dies zu reflektieren und die
eigene Praxis dementsprechend zu verändern, dann kann ein permanenter
Name auch sinnvoll sein, weil Entwicklungen von außen besser
wahrnehmbar sind.
Johnny: Vieles ist ja richtig. Aber eine Gruppe kann unter
einem festen Namen genauso kontinuierlich mit Leuten diskutieren,
wie unter wechselnden, genauso abgeschottet oder kontaktfreudig
sein, muß ja nicht jede/r mitkriegen, wer genau was macht.
Ich finde, Du fängst Dich genau in der Logik. Es gibt für
mich keinen ersichtlichen Grund, warum nicht auch die RZ Nadelstiche
machen können sollten. Stichwort: Heliumballons an der Startbahn.
Mensch muß nur den Mut haben, sich von Erwartungshaltung frei
zu machen.
* Eine der Lieblingsaktionen "autonomer Gruppen" ist
das Anstecken von Autos - teilweise zielgerichtet; wie gegen das
DRK oder den Reinickendorfer CDU-Stadtrat Balzer, teils relativ
wahllos gegen "Bonzen-Autos" . Das ist nicht unumstritten.
Antonio: Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um an dieser
Stelle auf den Anschlag auf das DRK in Berlin vom 13.10.99 (Erklärung
in der Interim Nr. 487) einzugehen, den ich für nicht so gelungen
halte. Der Anschlag auf ein Auto des DRK-Parkplatzes, (der mißlang,
weil ein Zeitzünder laut Bullen nicht funktionierte), erfolgte
in Solidarität mit den 180 Flüchtlingen, die sich zu diesem
Zeitpunkt im Hungerstreik in drei von den DRK betreuten Wohnheimen
befanden, um u.a. die Abschaffung der Zwangsverpflegung, die Auszahlung
von Bargeld und eine menschliche Behandlung in den Unterkünften
zu erreichen. In der Erklärung wird desweiteren das Image des
DRKs als Wohltäterorganisation demaskiert und aufgezeigt, dass
das DRK bei der Verpflegung und Unterbringung von Flüchtlingen
aus Profitinteressen handelt.
Leider geht aus der Erklärung jedoch nicht hervor, wessen
Auto denn nun gezündelt werden sollte. In der Berliner Zeitung
vom 15.10.99 war zu lesen, dass sich auf dem betriebseigenen DRK-Parkplatz,
ständig sechs Fahrzeuge befinden. Auf dem Gelände befindet
sich eine Sozialstation, eine Seniorenfreizeitstätte sowie
das Büro des DRK-Kreisverbandes City, zuständig für
die Bezirke Charlottenburg, Tiergarten und Mitte.
Wessen Auto, bleibt völlig unklar, und somit dem Zufall überlassen?
Ist diese Aktion nicht ein Zeichen für Ungenauigkeit, wenn
eventuell das Auto eines Mitarbeiters der Sozialstation hätte
bei draufgehen können? Und die Erklärung gibt zwar Auskünfte
über Motive und Hintergrunde des Anschlages, doch in den Medien
werden solche Erklärungen oft nicht abgedruckt. Es bleibt also
auch hier völlig unklar, warum dort ein Sprengsatz plaziert
wurde (Berliner Zeitung v. 15.10.99) Eine gut gelungene Aktion sollte
jedoch durch sich selbst schon vermitteln, um was es geht - sonst
geht sie unter und wird nicht wahrgenommen. Die RZ schreiben dazu
(aus Revolutionärer Zorn Praxis 78): "Wenn man anfängt,
sollte man sich keine komplizierten oder politischen schwer vermittelbaren
Aktionen vornehmen. Je eindeutiger desto besser. Eine Aktion muß
aus sich heraus verstanden werden. Muß man sie erst groß
erklären, steht sie auf viel zu schwachen Beinen, um sich gegen
die Staats- und Medienhetze durchzusetzen. Denn die kommt immer
schlimmer, als man sich denkt. (...) Die Bullen und Medienhetze
hat das Ziel, die Aktionen und politischen Konzeptionen des bewaffneten
Kampfes so zu verzerren und zu entstellen, dass sich keiner darin
wiedererkennen soll, sich damit identifizieren kann. (z. B. da werden
dann aus Fahrscheinkontrolleuren harmlose Trambahnfahrer)"
* Und das Anzünden von "Bonzen-Autos"? Erst zu
Sylvester sind ein Dutzend Autos abgefackelt worden.
Antonio: Erstens: Das Abfackeln von Luxuskarrossen ist keine
uneingebettete Einzelaktion. Auch wenn das etwas diffus erscheint,
sie reiht sich vielmehr ein in eine Fülle von antikapitalistischen
Aktionen und Aktivitäten von Reclaim the street über Anti-EG
und Anti-WWG Aktionen bis hin zur Karawane der Inderinnen und Proteste
in Seattle gegen die WTO-Tagung.
Die Message ist sonnenklar: Es geht gegen die ungleiche Verteilung
des gesellschaftlichen Reichtums, gegen die immergrößer
werdende Kluft zwischen Arm und Reich. Und die Medien haben das
ganz gut begriffen. Denn sie titelten einen Tag nach der Aktion
"Luxuskarrossen abgebrannt' und zählten auf, wie teuer
jedes einzelne dieser Autos von Mercedes bis Porsche denn sei. Das
beinhaltete eben die Message, dass hier nur die teuren Autos, eben
die Reichen Zielscheibe der Aktion waren und somit nicht irgendein
Auto zufällig hätte in Flammen aufgehen können.
Die Aktion war auch deshalb gut, weil sie sich durch sich selbst
auch ohne Bekennerinnenbrief gut vermittelt hat. Und natürlich,
das ersetzt kein bekennendes Schreiben. Das ist richtig.
Johnny: Das sehe ich anders. Das Abfackeln von Bonzenkarren
ist für mich nur dann eine politische Tat, wenn sie sich klar
und unmißverständlich vermittelt. Ich sehe es eben nicht,
dass schon automatisch alle klar haben, was damit gemeint ist. Wenn
ich mir vorstelle, wie irgendein Linksliberaler, der selbst eine
Familienwagen für 30.000 Mark fährt, in den Nachrichten
hört, da ist ein Auto angezündet worden, sagt ihm das
doch erstmal gar nix. In Berlin brennt fast jeden Tag irgendein
Auto, meistens einfach aus fun oder Vandalismus. Nur, weil das teure
Autos sind, hat das noch keine Botschaft. Wieviele ZeitungsleserInnen
kommen wohl auf den Gedanken, dass das was mit Seattle zu tun haben
könnte?
Ich finde es einfach bitter, wie sprachlos wir oft sind. Warum
kann mensch einen Brandanschlag, vor allem wenn er so schön
koordiniert wie zu Sylvester ist, nicht ordentlich begründen?
Da kommt dann eine Woche später eine lauwarme Erklärung
nach, die so gut wie nichts aussagt außer: Ihr seid scheiße.
Gerade, weil wir alle wissen, was die Medien machen, sollten wir
ihnen so wenig Spielraum wie möglich lassen. Gerade weil wir
wissen, dass heutzutage so viel brennt, dass auch Nazis mit Feuer
operieren, sollten wir ganz genau sagen, was wir warum gemacht haben.
Und es muß doch möglich sein, da noch ein paar Worte
mehr zu zu sagen, als nur: Ihr kotzt uns an. Die gleichen militanten
AktivistInnen, die mit viel Energie stundenlang Brandsätze
konstruieren, sind genervt; wenn sie nur ein, zwei Stunden lang
ein ordentliches, perspektivisches Volkssport-Schreiben machen sollen.
Das verstehe ich nicht, das gehört doch zusammen. Wenn Leute
das nicht tun, stellt sich die Frage, warum sie dann überhaupt
eine Aktion machen.
Ich fand diese Brandanschläge okay, als sie in die Kampagne
"Wagensportliga° eingebettet waren, das hatte sich wie ein
Lauffeuer rumgesprochen, alle, von den Restaurantbesitzern in Kreuzberg
über den Staatsschutz bis zu den Pressefutzis wußten
Bescheid. Das war außerdem eingebettet in eine Anti-Umstrukturierungskampagne,
wo eh relativ viel gelaufen ist. Ich fände es auch in Ordnung,
eine bestimmte Kampagne zu einem Kiez zu machen und dann da Autos
abzufackeln. Oder sich den Regierungsumzug vorzuknüpfen und
dann teure Autos von BonnerInnen abzufackeln. Oder die Rolle von
Daimler als multinationaler Konzern zu thematisieren. Oder, oder,
oder. Aber so finde ich das einfach sprachlos. Was ist das denn
für eine Strategie? Sollen militante Aktivisten jahrein, jahraus
Autos anzünden gehen? In der Hoffnung, dass sich das über
den Preis schon vermittelt und welche eine Million Sachschaden hat,
kriegt einen goldenen Brandsatz? Ich darf das so offen kritisieren,
weil ich selbst an diesen Aktionen beteiligt bin. Die Kritik geht
also auch an die eigene Adresse.
VIII. Zur Wahl der Mittel
* Die RAF und die RZ sind sehr offensiv mit Schußwaffen
umgegangen. Habt Ihr jemals darüber nachgedacht, Schußwaffen
gegen Nazis anzuwenden?
Antonio: Schüsse auf Nazis sind auch schon mal diskutiert
worden, aber dann abgelehnt worden, weil die Meinung sich durchsetzte,
dass wir derzeit nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse
vorfinden, in denen politischer Mord gerechtfertigt und notwendig
wäre. Wir leben nicht im Faschismus bzw. faschistischen oder
diktatorischen Gesellschaft oder etwas vergleichbarem ähnlichem.
Nazis zu töten ist (derzeit) nicht unser politisches Ziel,
auch wenn wir nicht 100% ausschließen können, dass es
bei Auseinandersetzungen mit Nazis evtl. auch dazu kommen kann,
auch wenn das ausdrücklich nicht gewollt ist. Es gilt, dieses
Risiko so weit wie möglich zu minimieren, was z.B. heißt,
keine Messer mitzunehmen und einzusetzen.
Es gibt hier noch eine ganze Menge und breite Palette von Möglichkeiten
und Widerstandsformen, die wir auch noch nicht ausgeschöpft
haben. Der Spielraum, den wir haben, ist noch groß genug,
als dass wir zu solchen Mitteln, die stets das letzte Mittel sein
sollten, greifen müßten. In Schweden z.B. wurden nach
dem Mord an einem Journalisten durch Nazis in den darauffolgenden
Tagen durch viele schwedische Tageszeitungen die Fotos, Namen, Adressen,
Arbeitsplätze auf großanzeigenmäßigem Format,
auf der ersten Seite veröffenlicht. Durch dieses Outing wurden
viele Faschos bekanntgemacht und gesellschaftlich isoliert. Die
Kampagne hat sie aus ihrer Anonymität gerissen und bloßgestellt.
Ich würde dies als eine beispielhafte Aktion bezeichnen. Warum
passiert das in Deutschland nicht?
Der Kaindl-Fall hat ja gezeigt, wohin das führen kann, wenn
unüberlegte Aktionen stattfinden. Zwar haben die Nazis, die
sich im China-Restaurant getroffen haben, eins auf die Fresse bekommen
und aufgezeigt bekommen, dass sie sich nicht so einfach ausgerechnet
in Kreuzberg treffen und versammeln können. Doch dass Gerhard
Kaindl durch Messerstiche getötet wurde, war nicht geplant,
wurde durch jene Person, die mit dem Messer zustach, billigend in
Kauf genommen. Und das war ein schwerwiegender Fehler, wahrscheinlich
war den anderen Beteiligten nicht einmal klar, dass eine Person
von ihnen ein Messer dabei hat und dieses auch bewusst und gezielt
einsetzen wird.
Der sich dann anschließenden Repression konnte nicht standgehalten
werden. Zwei Jugendliche haben durch ihre belasteten Aussagen die
anderen in den Knast gebracht.
Später haben alle bis auf eine Person Aussagen bzw. Teilaussagen
gemacht. Denn auch wer aussagt, dass er nicht dabei war und ein
Alibi vorweist, macht damit nach dem Subtraktionsprinzip eine Aussage.
Ich will hiermit nicht automatisch und von vornerein alle Aussagen,
Teilaussagen und Einlassungen als total verdammenswert hinstellen,
Keineswegs.
Eine differenzierte Darstellung des Kaindl-Prozeßes ist nachzulesen
in der radikal, Nr. 151 vom Dezember 1994 in dem Artikel "Les
jeux sont faits!", Seite 40-43!
An der Startbahn wurden am 2.11.87 zwei Bullen erschossen. Bei
den anschließenden Razzien, Festnahmen und Repressionswelle
haben über 100 Leute geplaudert, zum Teil über Aktionen,
an denen sie selber beteiligt gewesen waren, aber gar nicht nach
gefragt worden waren.
Sowohl im Kaindl-Fall als auch in der Startbahn-Geschichte zeigt
sich, dass in beiden Fällen die Leute auf evtl. über sie
hereinbrechende Repression nicht vorbereitet und gewappnet waren.
In beiden Fällen ist aber auch nicht klar, wie viele Leute
von der Absicht des Vorhabens überhaupt Kenntnis besessen hatten.
Das bleibt spekulativ.
Nicht spekulativ bleiben darf allerdings der Ausgang von militanten
Aktionen - darüber sollte sich im Vorfeld eingehendst und ausführlich
unterhalten und auseinandergesetzt werden. Dem Zufall darf nichts
überlassen werden. Und wenn es darum geht, z.B. Tote zu vermeiden,
dann muß alles einem/r zur Verfügung Stehende dafür
auch getan werden.
Johnny: Wir sind mit Sicherheit nicht an diesem Punkt. Wenn
ich mich aber an die 80er Jahre erinnere, wo die Antiimps und viele
Autonome keine Probleme damit hatten, wenn der Chauffeur des Siemens-Managers
Beckurts neben seinem Chef für die gute Sache zerrissen wurde,
finde ich es schon merkwürdig, dass inzwischen, wo Nazis für
den Mord von über Hundert Menschen seit 1989 verantwortlich
sind, niemand darüber nachdenkt. Es war als revolutionärer
Metropolenkämpfer offenbar wesentlich einfacher, für den
abstrakten antiimperialistischen Kampf jemand zu töten, als
in einer Situation, wo mordende Nazibanden durchs Land ziehen, zurückzuschlagen.
Da denke ich manchmal, wie sich wohl die MigrantInnen hier wohl
so fühlen. Und manchmal denke ich auch, dass es ganz gut tun
würde, mal einem Nazischwein in die Beine zu schießen.
Ganz abgesehen davon, dass es eine interessante Frage wäre,
was wohl passieren würde, wenn Haider erschossen würde.
Aber das sind mehr theoretische Gedankenspiele. Kann mensch ja mal
drüber nachdenken, oder?
* Antifa ist einerseits der Bereich, wo militante Gegenwehr
am Nötigsten ist, andererseits wird dort am meisten gestritten.
Während Nazis morden, klagen auch Teile der radikalen Linken
unter kritischer Ablehnung von "Mackermilitanz" über
Antifa-Gegenwehr. Polemisch: Wenn von denen mal einer blutet, heult
die Linke. Ein Widerspruch?
Antonio: Warum ist da ein Widerspruch? Geht nicht Widerstand
mit Moral einher oder sollten wir nicht ausdrücklich darauf
achten, die Moral nie zu verlieren, immer uns unserer menschlich
und moralischen Werte bewusst sein. Wer die Moral angesichts der
Härte des Widerstandes verliert, der hat schon verloren. Deine
Formulierung, "wenn von denen mal einer blutet, heult die Linke...",
gefällt mir nicht. Das ist mir zu leichtfertig dahingesagt.
Gegen Nazis vorzugehen, ist eine Notwendigkeit und macht nicht Spaß
- auf blutende Nazis kann ich gern verzichten. Das kann immer mal
in einer Auseinandersetzung passieren; ist aber nichts, was ich
mal eben so lapidar hinnehme.
Und das die Linke dann heult - das müßtest Du konkretisieren
- in welchen Fällen das so war und warum und was Deine Kritik
an deren Kritik ist. Sonst ist das viel zu pauschalisierend und
platt. Und das vieles als Mackermilitanz innerhalb der Antifas gesehen
und kritisiert wird, finde ich absolut richtig. In kaum einem anderen
Bereich gibt es so viel Mackergehabe und Posing wie im Antifa-Bereich.
Angefangen von Leistungs- und Effektivitätsgedanken, von Maßstäben
wie Schlagkraft und sich Prügeln können (Agropro Kampfsport),
bis hin zu vereinfachten Weltbildern. Und in keinem Bereich, außer
auf dem Fußballplatz vielleicht, gibt es nicht von ungefähr
einen großen Überhang von Männern gegenüber
Frauen.
Also Mackermilitanz und Antifa gehören fast so zusammen wie
20.00 Uhr und Tagesschau. Aber das muß ja nicht immer so sein.
Und entschuldigt meine etwas polemisierende Art - das ist nicht
so niedermachend gemeint. Ich bin da eben auch von eigenen Erfahrungen
geprägt. Und eine Geschichte läßt mich nicht mehr
los, sie hat sich wie eine dicke Schraube in mein Hirn gebohrt.
Das ist schon ein paar Jahre her, das war, glaube ich 1990, als
wir mit ca. 100-150 Leuten zum Alex gefahren sind, weil wir gehört
hatten, dass sich dort Nazis tummeln würden. Schließlich
waren noch ein paar Nazis da, denen wir hinterhersetzten. Einen
Nazi, es war der Nazi-Kader Olaf Franke, holten wir im Nikolaiviertel
ein. Was dann passierte, war der völlige BlackOut einer emanzipativen
Antifa-Bewegung. Der Nazi wurde zu Boden geworfen und getreten.
Als die ersten damit fertig waren, kamen die Nächsten und traten
auf ihn am Boden liegend weiter ein, kurz danach kamen wiederum
die nächsten usw., die wieder auf den sich nicht wehrenden
Nazis mit heftigen Tritten eindroschen. Daraufhin kamen die nächsten
unserer ca. 50-köpfigen Gruppe und traten wiederum auf den
inzwischen Bewußtlosen ein. Es war widerlich, wie eine Meute
auf Hetzjagd haben (fast) alle nochmal fett und so richtig mit vollen
Hass zugetreten - Ja - "gib ihm diese Nazi-Sau". Erst
relativ spät gelang es uns, den inzwischen bewußtlosen
Nazi vor weiteren Tritten ins Gesicht zu bewahren. Später wurde
dann auf einem Straßenfest in Kreuzberg über Mikrofon
bekanntgegeben, dass ein Nazi wahrscheinlich liegengeblieben sei,
und evtl. auch tot sein könnte. Der Nazi hat überlebt.
Soweit dazu.
Ein anderes Beispiel, das auch ein wenig zurückliegt, betrifft
die Frage der Anwendung bestimmter Mittel. Es gab die Überlegung,
ein Nazi-Wehrsportlager, von dem wir wußten, wann und wo es
stattfindet, zu überraschen, alle anwesenden Nazis zu fesseln
und dann gezielt die Kader, (wobei das dann noch genauer hätte
bestimmt werden müssen, wer die Kader sind), heraussortieren
und ihnen mit diversen Werkzeugen gezielt so die Beine und Knie
zu brechen, dass sie bleibende Schäden davon getragen hätten.
Dies war ein ernst gemeinter Vorschlag einer Gruppe, die Rede von
den "Bonebreakern" machte die Runde. Schließlich
ist dieser Vorschlag auf einem Treffen nicht sofort aber dann doch
von einigen, jedoch nicht von allen abgelehnt und schließlich
verworfen worden. Gottseidank. Auch in unserer Gruppe gab es ein
Befürworter...
Notwendig finde ich Genauigkeit in der Zielsetzung und Klarheit
in der politischen Absicht. Auch finde ich wichtig zu erkennen,
dass es nicht nur um den einzelnen Nazi auf der Straße geht,
sondern auch um, was ihr ja richtig gesagt habt, um die Infrastruktur
der organisierten Nazis, die mensch vermehrt angreifen sollte. Druckereien,
Autos, Treffpunkte, Kneipen, Plattenläden, Busunternehmen,
die sie transportieren, usw,. Die Möglichkeiten sind vielfältig.
IX. Politische Perspektiven
* Viele Linke lehnen neue Technologien ab. Muß sich nicht
linker Widerstand nicht genau dort modernisieren?
Giovanni: Ja, das wäre gut. Die Gruppe Kabelschnitt
hat das ja auch schon praktiziert, als sie am Frankfurter Flughafen
wichtige Datenleitungen durch einen Anschlag blockiert und gestört
haben. Und viele HackerInnen gibt es ja auch, die ganz gute Sachen
machen. Leider werden viele dann von der Industrie gekauft, um ihre
eigenen Daten gegen teures Geld von ihnen schützen zu lassen.
Generell gesehen sollten wir natürlich flexibel sein und auch
in diesem Bereich widerständig die Herrschenden bekämpfen,
auch mit ihren eigenen Waffen und ihrer eigenen Technologie. Warum
nicht?
Johnny: Das, was Kabelschnitt gemacht hat, war gut - aber
leider viel zu isoliert. Die Linke hat leider einige Züge verpaßt.
Machen wir mal ein kleines Spielchen: Schließt die Augen und
assoziiert, ohne zu rationalisieren. Welche Form, welche Mittel
passen zu welchem Jahrzehnt? Die 70er: Massendemos gegen Atomkraft,
deutscher Herbst. Die 80er: Hausbesetzer, vermummte Autonome, 1.
Mai, Steine und Brandsätze auf Banken. Die 90er: Antifa, brennende
Autos und Hakenkrallen. Das sind im wesentlichen die gleichen Mittel
und Ausdrucksformen - aber in der Gesellschaft hat sich viel gewandelt.
Erinnert ihr euch noch an Ende der 80er Jahre: Da kursierten Flugblätter
und Aktionsaufrufe gegen Telefonkarten und Autonome zerkloppten
an der FU einen Haufen Computer - wegen der Technik. Und heute?
Telefonkarten sind schon wieder antiquiert und in jedem Büro
stehen haufenweise Computer. Und die Linke, die für sich in
Anspruch nimmt, kreativ-subversiv zu sein? Wir haben da viel verpaßt.
Ursprünglich war das Internet von einem antikommerziellem
Geist geprägt. Noch Anfang der 90er wurde eine Anwaltskanzlei,
die Werbung im Internet machte, tagelang elektronisch bombardiert,
bis sie sie wieder zurückgezogen hat. Es ist Usus in der Linken,
die passiven Mittel der neuen Techniken zu nutzen, Verschlüsselung
etwa. Aber die aktiven Mittel, wie Kabelschnitt oder Keine Verbindung
e.V. oder Hacker, praktisch kaum. Ein jüngstes Beispiel: Der
Angriff von Hacker auf die hippen Internet-Unternehmen, als deren
Internet-Seiten lahmgelegt wurden, hat die Firmen Millionen Mark
gekostet, enorme Imageschäden produziert und ein weltweites
(!) Medienecho hervorgerufen. Da möchte ich doch mal den Brandanschlag
sehen, der all dies erreicht. Wäre diese Aktion gut inhaltlich
begründet gewesen, würde mich das begeistern.
* Was sind für Euch Themen der Zukunft?
Antonio: Wie schon bereits vorher erwähnt sind AntiFa,
AntiRa und Castor Bereiche, in denen auch in Zukunft militante Politik
ihren Niederschlag finden wird.
Eine anti-patriarchal militante Praxis macht allerdings nur Sinn,
wenn sie auch in eine antipatriarchale Politik eingebettet ist.
Ansonsten könnten sich folgende Themen aufdrängen:
- Die Verhinderung der Fußballweltmeisterschaft 2006 in
Deutschland, das ist ein Thema! Des deutschen Lieblingskind Fußball
wegnehmen, dann werden alle erst richtig zornig. Eine schöne
Prestige und Image-Schädigung!!!! Dies könnte vielleicht
ein Erfolg wie bei der Anti-Olympia-Kampagne werden.
- Die deutschen Firmen, die sich weigern, den ZwangsarbeiterInnen
freiwillig minimale Entschädigung zuzahlen, angreifen - von
Bosch zu Porsche. Thematisierung der Zwangsarbeit, der Profitinteressen
und die Verwicklung deutscher Firmen in den Faschismus usw. mit
Bezugnahme auf heutige Profite und Rolle im neoliberalen Wirtschaftsgefüge.
(Deutschlands Reichtum auf den Rücken der Ausgebeuteten weltweit.)
- Abschaffung und vollständige Auflösung des deutschen
Adels - da Beschlagnahme ihrer Reichtümer schwer durchsetzbar
ist, verstärkte Angriffe und Verwüstungen gegen diese
Reichtümer (Autos, Villen etc.) EAT THE RICH-Kampagne starten
Liliane: ... Du hast eines vergessen: die Expo. Aber es
dürfte nicht Themen der Zukunft heißen, sondern wo sehen
wir strategische Ansätze und wie sehen die aus? Diese Antis
haben immer ihre Berechtigung sind aber langweilig und letztendlich
unbefriedigend. Ich würde eine Interim-Sondernummer im Sommer
oder Herbst sinnig finden, wo über diese strategischen Ansätze
- ob militant oder nicht - heftigst gestritten wird. Warum erst
so spät? Ganz einfach, weil strategische Überlegungen
im Moment nur rudimentär vorhanden sind und es erst eines Kicks
bedarf, um mal wieder sowas in Gang zu setzen.
Johnny: Nichts gegen eine prinzipielle Diskussion, aber
von meiner Seite aus mit anderem Ansatz: Sowas wie Castor oder Sex-Shops-Angreifen
kann doch kein Thema für die zukünftige Ausrichtung sein,
sondern nur ein praktisches Ergebnis dessen. Um jetzt hier keine
Aufsätze zu formulieren, nur kurz: Ich will an die gesellschaftlichen
Veränderungen im Zuge dessen ran, was in den vergangenen Jahren
gerne als Postfordismus beschrieben wurde. Eine RZ hat das übrigens
Ende der 80er in Berlin schon mal mit einem längeren Papier
thematisiert - wie immer waren sie auch da zu früh... Das Thema
ist zwar viel diskutiert worden, aber erst jetzt sehen wir, in welch
rasanter Geschwindigkeit die Welt umgekrempelt wird. All das, was
damit zusammenhängt - Sozialabbau, Demokratieabbau, die immer
umfassendere Durchdringung der Gesellschaft durch kapitalistische
Verwertung, der patriarchale Roll-Back - das ist für mich der
entscheidende Themenkomplex der Zukunft. Castor weghauen ist okay,
aber für mich letztlich nur nebensächlich.
* Fühlt Ihr Euch eigentlich manchmal ohnmächtig?
Johnny: Ja, wenn die Bullen den nächsten Genossen per
Killfahndung erschießen.
Giovanni: Mir fällt dazu ein Gedicht ein: "Wie
lange kann ich noch leben, wenn mir die Hoffnung verloren geht?",
frage ich die drei Steine. Der erste Stein sagt: "Soviel Minuten
du deinen Atem anhalten kannst unter Wasser, noch so viele Jahre."
Der zweite Stein sagt: "Ohne Hoffnung kannst du noch leben,
solange du ohne Hoffnung noch leben willst." Der dritte Stein
lacht: "Das hängt davon ab, was du noch Leben nennst,
wenn deine Hoffnung tot ist.."
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