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RZ / Rote Zora

KURZ VOR DEM BEGINN DES PROZESSES ERSCHIEN FOLGENDER ARTIKEL IM 'SPIEGEL' (24.11.80) :

Voll unter Fittichen

Ein Mann ohne Beine und Augen als Angeklagter vor Gericht -Terroristenbekämpfung um jeden Preis?

Der falsche Schnurrbart, eine Brille mit Fensterglas und die Tragetasche liegen bereit -Utensilien für eine Kostümierung als Postbote.

Hermann Feiling, 26, hat die Fahrkarte nach München und einen Stadtplan in seinem Gepäck verstaut. Der Zug soll in zwei Stunden fahren. Feiling sitzt an diesem Morgen in seiner Heidelberger Studentenbude, Schneidmühlstraße 9, und packt noch einmal den wattierten Umschlag aus, den er in München deponieren will. Inhalt: länglich- zylinderförmiger Sprengstoff, zwei Zünder, Batterien, ein Schalter und ein Zeitverzögerer.

Kontrollieren will er, wieviel Zeit ihm bleibt von der Einstellung des Zünders bis zur Detonation. Er glaubt, der Stromkreis sei unterbrochen, verbindet die Bananenstecker mit den Buchsen - das Gemisch explodiert.

Der Sprengstoff zerreißt ihm beide Beine, zerstört beide Augen. Brandverletzungen bedecken den ganzen Körper. Marijanne Bayer, Mieterin der Wohnung im Stockwerk darüber, verspürt eine "heftige Explosion", die sie "förmlich vom Stuhl" hebt.

Im Krankenhaus werden Feiling beide Beine knapp unter dem Becken amputiert und beide Augen entfernt.

Vom Dienstag dieser Woche an wird der blinde und verstümmelte Mann in Frankfurt vor Gericht gerollt. Strafe ist an ihm nicht mehr zu vollstrecken; alle Freiheiten, die die Justiz einem Menschen nehmen kann, hat Feiling schon vor dem Urteil für immer verloren.

Es dürfte der erste Prozeß in Deutschland gegen einen Menschen in solchem Zustand sein. Mit welchen Mitteln Kriminalbeamte und Staatsanwälte die Anklagebasis erzwungen haben, daß und warum der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts überhaupt verhandelt, markiert einen Tiefpunkt bundesdeutscher Rechtspflege.

"Es widerspricht der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu machen und kurzerhand von Obrigkeits wegen über ihn zu verfügen" - goldene Worte aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1970. Ein solcher Vorstoß gegen das oberste Grundrecht wurde hier monatelang exekutiert.

23. Juni 1978: Die Operation, bei der Hermann Feiling Beine und Augen verlor, ist keine 24 Stunden her. Der Schwerverletzte ringt noch mit dem Tod. Er ist an zahlreiche Schläuche angeschlossen, die seine Körperfunktionen künstlich aufrechterhalten, vier Ampullen Dipidolor wurden gespritzt.

Im Pharmazeutischen Lexikon beißt es:
Dipidolor ist ein morphinhaltiges Schmerzmittel. das nur bei besonders starken Schmerzen verordnet wird. ..Bei einigen Patienten stellt sich eine Euphorie ein, d. h. ein unrealistisches Gefühl des Wohlbefindens, außerdem Gefühle der Geborgenheit. Es erleichtert gedankliche Assoziationen, eine ,positive Grundeinstellung', Gedankenflucht. ..

Das Mittel wirkte. Bedrängt von Ermittlungsbeamten, erklärt ein Arzt Hermann Feiling am Morgen nach der Operation für vernehmungsfähig. Oberstaatsanwalt Peter Wechsung, 36, macht sich ans Werk und bringt den Todkranken zum Reden. Den Namen Wechsung, so erinnerte sich Feiling später, habe er mit einem Anwalt in Verbindung gebracht, Daß er während der ersten Tage im Krankenhaus mit ihm geredet habe, sei ihm nicht erinnerlich.

Staatsanwalt Wechsung und seine Hilfsbeamten kommen fast täglich ans Krankenbett. Paragraph 136a der Strafprozeßordnung, wonach "die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung des Beschuldigten" nicht beeinträchtigt werden darf, spielt keine Rolle. Wechsung unterläßt sogar die gesetzlich vorgeschriebene Belehrung über das Recht auf Aussageverweigerung -"aus Zeitgründen", wie später in den Akten vermerkt.

Bald kommt Besuch von der Bundesanwaltschaft, auch ein Bundesrichter tritt auf den Plan. Die Unerbittlichkeit, mit der die Strafverfolger dem Schwerverletzten immer wieder aufs neue zusetzen, hat ihre Gründe: Hermann Feiling war Mitglied der Terror- Organisation "Revolutionäre Zellen" (RZ). Seinen Sprengsatz hatte er am argentinischen Konsulat in München deponieren wollen - nachdem er sich vergewissert hatte, daß das Gebäude samstagnachmittags menschenleer ist. Es war die Zeit der FußbalIweltmeisterschaft und Feiling wollte gegen das argentinische Militärregime protestieren.

Die RZ existieren seit 1973 und verstehen sich als Teil der sogenannten Stadtguerilla. Zu ihren Aktionen zählen Störungen staatlicher Funktionsabläufe etwa durch falschen Bombenalarm, das Zuschmieren von Überwachungskameras mit Lackfarbe, aber auch Sprengstoff- und Brandanschläge gegen "faschistische oder imperialistische Einrichtungen". Die Zellen unterhalten ein kunstvoll geknüpftes Informationsnetz, geheime Waffendepots und verfügen über hohes intellektuelles Niveau und technisches Wissen.

Das kriminelle Kaliber wurde deutlich, als 1976 bei der spektakulären Flugzeugentführung von Entebbe der Anführer des Terroristen- Kommandos, Wilfried Böse, den Tod fand - seinerzeit der deutsche RZ- Chef.

Jahrelang hatte das Bundeskriminalamt die Gefährlichkeit der RZ unterschätzt und über die als "Feierabendterroristen" verharmloste Gruppe kaum Erkenntnisse gesammelt. Der Fall Feiling kam den Fahndern gelegen, den Wissensrückstand endlich aufzuholen.

Sie nutzten die Chance. Die allzeit gegenwärtigen Ermittlungsbeamten waren die einzigen Kontaktpersonen, auf die der hilflose Feiling angewiesen war, forensisch waren sie zugleich seine Gegner. Der Germanistikstudent wurde regelrecht ausgepreßt, vierzigmal insgesamt. Resultat: 1296 Seiten Papier. Vieles davon, soweit objektiv nachprüfbar, entspricht den Tatsachen.

Die ErmittIer versteckten ihre Quelle in der Höheren Polizeischule zu Münster. Obwohl zu keinem Zeitpunkt ein Haftbefehl gegen Feiling bestand, wurde er dort von allen amtlich unerwünschten Kontakten abgeschirmt.

"Ich bin voll unter deren Fittichen", spricht Feiling auf ein privates Tonband und muß für seine Abhängigkeit noch dankbar sein, denn "unter anderen Umständen würde ich im Moment die Krückenschulung nicht haben".

Im Oktober 1978 will Feiling den Mannheimer Rechtsanwalt Stephan Baier sprechen. Dem wird mehrfach verweigert, mit Feiling auch nur zu telephonieren. Als er dann selber nach Münster fährt und Feiling dort anwaltlich beraten will, wird er nicht vorgelassen und muß wieder abreisen. Die Begründung hört er hintenherum: "Baier ist ein Sicherheitsrisiko." Kontaktsperre sogar ohne Haftbefehl - ein Novum der Terroristenbekämpfung. Erst als der Anwalt sein Recht beim Verwaltungsgericht einklagt, öffnen sich für ihn die Türen.

Baier ist ein ebenso engagierter wie kenntnisreicher Strafverteidiger und trägt sein linkes Image sicher zu Recht. .In Stammheim verteidigte er seinen Freund und Kollegen Klaus Croissant. Baier: "Natürlich höre ich jetzt den Vorwurf, ich hätte Feiling wieder umgedreht und mache Politik auf seinem Rücken. Er hat heute Schuldgefühle, weil er Freunde und sogar seine Verlobte belastet hat. Er wehrt sich dagegen, daß seine Aussagen verwertet werden."

Wie auch immer - ob persönlicher Entschluß oder Einsicht in den Rat von Freunden, auf deren Zuneigung und Solidarität als einzig verbliebener Lebensgrundlage Feiling sich wohl angewiesen fühlt: Widerrufen darf jeder.

Nicht nur für die RZ sind die Feiling- Protokolle von zentraler Bedeutung. Denn nur über diese 1296-SeitenAussage könnten die Strafverfolger erstmals vor Gericht den Nachweis führen, daß die RZ eine terroristische Vereinigung sind - Grundlage für sämtliche Folgeprozesse und Handhabe zugleich, alle RZ- Verdächtigen künftig auch ohne Haftgrund einzusperren.

Die Rechtslage ist zynisch zugespitzt. Vermutlich wird Feiling nicht bestraft; denn laut Gesetz sieht das Gericht, von Strafe ab, wenn die Folgen der Tat, die den Täter getroffen haben, so schwer sind, daß die Verhängung einer Strafe offensichtlich verfehlt wäre". Den naheliegenden Ausweg aber, das Verfahren gegen Feiling wegen Verhandlungsunfähigkeit einzustellen oder ihn nur als Zeugen zu hören, verbot offensichtlich die Staatsräson.

Denn als Zeuge hätte Feiling ein Zeugnisverweigerungsrecht, weil die Mitangeklagte Sybille Straub seine Verlobte ist. Machte er in der Hauptverhandlung von seinem Recht Gebrauch, so könnte er den Anklägern damit das gesamte Beweismaterial sperren und den Prozeß auch gegen die Mitangeklagten torpedieren, denn alle Protokolle seiner früheren Vernehmung dürften dann nicht verwertet werden.

All das indes gilt nur für Zeugen, nicht hingegen für Beschuldigte. Wohl nur deshalb muß Feiling auf die Anklagebank. Staatsräson vor Menschenwürde - diese Rangfolge hat stets neuen Haß in der Szene geschürt und den Terroristen Zulauf gebracht.

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http://www.freilassung.de/div/texte/rz/kassiber/feiling/sp241180.htm