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Einleitung
Die Rechnung der russischen SozialrevolutionärInnen
ging nicht auf: Das Volk nutzte das erfolgreiche Attentat auf den
Zaren vom 1. März 1881 nicht zum Aufstand. Im Gegenteil. Es
wartete von nun an um so vertrauensvoller darauf, daß die
Rächer aus dem Untergrund die Sache der Entrechteten in die
Hand nehmen würden. Das berichtet Vera Figner in ihrem Buch
"Nacht über Russland".
Mit der Möglichkeit zum Widerstand wird
nicht auch gleichzeitig die Notwendigkeit dazu vermittelt. Das ist
eine Erfahrung, die Teilen der Revolutionären Zellen auf die
eigenen Füße gefallen ist. Ist es ein Fehler im Konzept
des bewaffneten/ militanten Kampfes? Wird das, was eine Initialzündung
oder ein militanter Beitrag zu massenhaftem Widerstand sein soll,
zwangsläufig zur StellvertreterInnen- Militanz?
Sozialrevolutionäre Politik kann nur erfolgreich
sein, wenn sie immer wieder über ihre Grenzen (alle Grenzen!)
hinausgreift, das heißt auch, wenn sie sich in den internationalen
antiimperialistischen Widerstand einbindet. Die eigenen Prinzipien
werden so durch die Rücksicht auf die Kampflinien anderswo
auf harte Zerreißproben gestellt und dabei oft bis zur Unkenntlichkeit
verzerrt. Schließlich fragt mensch sich: Sind das eigentlich
noch unsere Ziele? Wir wollen uns nicht isolieren, aber wir wollen
auch nicht unsere Ziele verraten. Dieses Dilemma gilt für die
Spitzenmilitanz genauso wie für den Massenwiderstand.
Um diese beiden Fragestellungen kreist, grob
zusammengefaßt, die offene Diskussion, die seit dem Nachruf
auf Gerd Albartus im letzten Dezember zwischen und mit verschiedenen
Revolutionären Zellen stattfindet. Ob das ganze zu einer Verabschiedung
dieser Art von revolutionärer Arbeitsteilung führt, wie
es die RZ aus NRW sieht, oder zu ihrer Umgestaltung, wie die meisten
anderen meinen, ist noch nicht entschieden. Daß die Debatte
darüber offen geführt wird und daß Gruppen aus der
Illegalität nicht nur ihren Standpunkt mitteilen, sondern endlich
auch mal auf Kritik antworten, ist ein ermutigender Fortschritt.
Wir veröffentlichen hier nochmal die Diskussionsbeiträge.
soweit sie in Berlin zugänglich waren. Sicher sind in anderen
Städten noch andere Papiere zirkuliert. Insofern ist diese
Textsammlung nicht vollständig. Wir können nur hoffen,
daß sie auch nicht abgeschlossen ist. Denn bis jetzt hat es
aus der autonomen Bewegung zwar viel Kritik und Verteidigung für
die Positionen der Zellen gegeben, aber keinen Versuch, die eigene
Politik danach kritisch zu hinterfragen. Zum Beispiel das Prinzip
der "klammheimlichen Freude".
Finden wir nun militante/ bewaffnete Aktionen
richtig oder nicht? Wir sollten uns nicht mehr länger mit der
Antwort "für andere ja, für mich nicht!" drücken.
Wenn wir Militanz gerechtfertigt finden, drum doch wohl deshalb,
weil sie notwendig ist. Wenn sie aber notwendig ist, können
wir nicht daran teilnehmen, indem wir uns darauf beschränken,
die Praxis anderer zu befürworten; dann ist unser eigener Beitrag
gefragt. Wenn wir sie aber falsch finden, dann ist unsere Kritik
gefragt, und zwar unsere gut begründete und gleichzeitig schonungslos
aufrichtige Kritik. Das ist nicht unsolidarisch, sondern das genaue
Gegenteil: Augenzudrücken und Mund halten ist so ziemlich das
unsolidarischste, was wir uns gegenseitig antun können. Kritik
macht uns nur stärker.
August '92
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