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RZ / Rote Zora

Offener Brief

Berlin, Anfang Juni 2000

Liebe Silke Studzinsky,
die Herren Herzog, Kaleck, Euler und Fresenius,
liebes Berliner Bündnis für Freilassung,
den Gefangenen zur Kenntnis,

wir wenden uns heute mit einem offenen Brief an Euch, weil wir einige Fragen und einige Anregungen zu dem haben, was im Zitronenfalter als die "wegen RZ- Vorwürfen Verhafteten" bezeichnet wird. Wir haben die Form eines Offenen Briefs gewählt, weil wir von vielen Menschen wissen, daß sie ähnliche Fragen und Einwände haben und wir glauben, daß einige davon öffentlich diskutiert werden sollten und schließlich, weil wir Euch nicht persönlich kennen und uns deshalb nur schwer an Euch direkt wenden konnten.

Wir haben uns in den Monaten seit den Verhaftungen solidarisch für die Verhafteten engagiert, weil wir glauben, daß die Linke auch und gerade In Zelten der Repression zu einander stehen muß. Für uns ist es eine Selbstverständlichkeit, einzelne Genossinnen nicht der BAW zu überlassen, egal, wie genau die Vorwürfe aussehen. Solidarität ist Bestandteil unseres politischen Verständnisses.

In diesen Monaten haben wir allerdings den uns irritierenden Eindruck gewonnen, daß bestimmte Formen der Solidarität nicht erwünscht sind. Um diesen Eindruck zu korrigieren, bitten wir Euch um einige klärende Worte.

Auf der bemerkenswert gut besuchten Veranstaltung im Kato Anfang Juni sowie im Zitronenfalter (Nr.2) ist in die Richtung argumentiert worden, jede Veröffentlichung von Aussagen schade. Unter anderem alleine der Gebrauch der Worte "Verrat" und "Verräter" sei ein Fehler, weil es beinhalte, die Gefangenen seien tatsächlich an dem Schuld, weswegen sie derzeit einsitzen. Überspitzt gesagt wird argumentiert, jede politische Debatte, die über die Punkte Kronzeugenregelung und § 129a hinausgeht, schade dem Verfahren, den Angeklagten und damit auch politisch. Darüberhinaus ist mehrfach Unverständnis über jüngste Debatten um die RZ geäußert worden.

Silke Studzinsky ging im Kato so weit zu sagen, es werde unter dem Vorwand der politischen Solidarität" eine Suppe gekocht. Ähnliches spielt sich im Solidaritätskreis ab.

Das alles verstehen wir nicht.

Wir würden in der Debatte gerne trennen zwischen der juristischen Ebene und der polltischen. Wir stimmen den Anwälten zu, daß Tarek Mouslis Aussagen ( abgesehn davon, daß es nicht legal wäre), nicht orginalgetreu veröffentlicht werden. Das hilft tatsächlich keiner Solidaritätsarbeit, sondern befördert Tratsch und Klatsch und behindert mehr als es hilft. Allerdings kennen wir auch keine relevante Forderung dieser Art.

Anders sieht es dagegen mit Informationen über die verschiedenen politischen Bereiche aus, zu denen Tarek bei der BAW ausgesagt hat. Es würde unserer Meinung nach nicht schaden zu veröffentlichen, daß Tarek zu den Projekten X, Y oder Z reichlich Informationen aussagt. Wer nicht an Inoffizielle Informationskanäle angeschlossen ist oder außerhalb Berlins wohnt, hat kaum eine Chance, sich ein Bild von dem zu machen, an dem die BAW und das BKA arbeiten und was vermutlich auf die linke Szene noch zukommt.

Ein Schweigegebot hätte unseres Erachtens zu Folge, daß der potentielle Druck auf einzelne Projekte oder auch Einzelpersonen zu einer Individualisierung eines politischen Problems, zur inneren Emigration und letztlich zu einem Rückzug des/derjenigen führen könnte. Das gilt besonders für diejenigen, die noch als ZeugInnen vorgeladen werden und vor der Frage stehen, ob und wenn ja für was sie notfalls in Beugehaft gehen sollen. Wir kommen insofern gar nicht darum herum, offensiv mit Aussagen umzugehen, die Tarek in Karlsruhe macht.

Damit wären wir bei einem unseres Erachtens zentralen Punkt: Natürlich steht aufgrund Tareks Aussagen die RZ- Sache aktuell im Mittelpunkt (schon alleine deshalb, weil sie für die BAW die interessanteste ist). Dennoch hat Tarek noch viel mehr ausgesagt und viele wichtige Projekte sind betroffen, die Verfolgung ausgesetzt sein können. Deshalb halten wir Tareks Aussagen für Verrat und ihn selbst für einen Verräter und werden dies auch weiterhin offensiv formulieren

Daß all dies nichts im Gerichtssaal verloren hat, daß die Anwältin und die Anwälte nicht diejenigen sind, die dies diskutieren sollten, sondern diejenigen, die mit Tarek und seinen Projekten zu tun hatten, versteht sich von selbst. Aber eine Formulierung wie: "Die Bewertung und Einschätzung der Aussage und der Person von Tarek Mousli auf Seiten der Beschuldigten ist allein deren Sache und die ihrer Verteidigerinnen und Verteidiger" (aus dem aktuellen Zitronenfalter) empfinden wir als Kapitulation des Politischen vor dem Juristischen. Es ist die Aufgabe der Anwältinnen, das beste für ihre Mandanten herauszuholen. Es ist Aufgabe der Linken, mit Menschen wie Tarek Mousli und seinem Verrat umzugehen.

Jede linke Bewegung hatte ihre Verräter in jedem Land zu jeder Zeit. Es ist neben der Frage nach dem Warum mehr die Frage des Wie damit- Umgehens, die uns deshalb wichtig Ist. Aus früheren Fällen wissen wir, daß ein solcher Verrat tiefgehende, demoraliserende Auswirkungen hat. Unser Interesse ist es (neben der Freiheit der Verhafteten), diese Auswirkungen so klein wie möglich zu halten.

Konsequent weitergedacht stehen wir vor der Frage, ob wir die Aufarbeitung dieser Politik der Klassenjustiz und damit der BAW überlassen und uns damit ein Stück eigener Geschichte verloren geht oder eben auch nicht. Und unsere Geschichte ist nicht zu trennen von den Aktionen und Positionspapieren der RZ. Über Viele Jahre waren die RZ jedenfalls ein Bezugspunkt der - nicht nur militanten Linken. Das zu erwähnen und auch in aktuellen Auseinandersetzungen zu diskutieren, ist kein Geheimnis, sondern das genaue Gegenteil, nämlich der Ansatz, sich nicht von herrschenden Gesetzen eine Debatte über die adäquaten politischen Mittel verbieten zu lassen. Das verschafft der BAW keinen strategischen Vorteil.

Wenn jede innerlinke Debatte mit dem Argument, sie schade dem Verfahren, abgeblockt wird, richtetet das einen Flurschaden an, der unseres Erachtens noch gar nicht absehbar ist. Diese Debatte ist unseres Erachtens völlig unabhängig von den konkreten juristischen Vorwürfen der Beschuldigten, weil sie die linke Szene insgesamt angeht und keine Frage von Personen ist.

Wenn Silke Studzinsky zu Tarek äußert: Ob das Kronzeugengesetz auf ihn Anwendung findet, kann ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht beurteilen" (Zitronenfalter), obwohl die BAW dies schon längst bestätigt hat, Obwohl selbst ihr eigener Mandant Harald G. von einer "Auseinandersetzung mit dem Kronzeugen" spricht (derselbe Zitronenfalter, 6 Seiten weiter), zeigt sich, wie ausgesprochen unwillig überhaupt eine Einordnung und Bewertung von Seiten der VerteidigerInnen und einiger Unterstützerlnnen vorgenommen wird.

So kann mensch vielleicht ein Verfahren unspektakulär und drohende Strafen in Grenzen halten. Ein politisch vorwärts weisender Umgang ist es unserer Meinung nach nicht.

Wir stehen vor der für uns etwas paradoxen Situation, daß Silke ( und andere) wünschen "eine breite politische Öffentlichkeit" zu schaffen (so ihre Anregung auf der Veranstaltung) und daß Harald für primär wichtig "die Diskussion um die politischen Ziele und Schwerpunkte des Soli-Bündnisses" hält, jede Schritte dorthin, aber konsequent kritisiert, teils auch behindert und ausgegrenzt werden.

Harald schreibt in einem Brief, er halte die Diskussion um die aktuell kriminalisierte Politik für wichtig. Im Mittelpunkt des BAW- lnteresses steht: Die RZ waren eine prinzipiell dieses Gesellschaftssystem ablehnende, mit bewaffneten Mitteln bekämpfende politische Organisation, deren Schwerpunkt sich Im Laufe ihrer Geschichte mehrfach gewandelt hat (nachzulesen etwa in den "Früchten des Zorn"). In den 80er Jahren verlagerten sie ihren Schwerpunkt von sozialen Bewegungen (Stichwort Startbahn, WAA) hin zu überwiegend antirassistischen Anschlägen, allerdings nicht nur, und bis zuletzt dokumentierten Anschläge wie der auf die Siegessäule (wegen des Golfkriegs) oder der auf die Kaisers- Filialen (wegen der Pläne, in Ravensbrück einen Supermarkt zu errichten) eine große politische Bandbreite. Die BAW hat eine politische Organisation kriminalisiert, die sich jenseits herrschender Gesetze organisiert hatte. Dies gilt ganz unabhängig von den Verhafteten und ihrer Schuld oder Unschuld.

Wir glauben deshalb, daß es richtig wäre, die Solidaritätsarbeit mehrebnig auszurichten.

  1. Zum einen müßte es unserer Meinung nach um eine juristische Strategie gehen, die selbstverständlich nicht in der Öffentlichkeit diskutiert werden sollte, von der wir aber davon ausgehen, daß sie die Art und Weise, wie ein Kronzeuge zu seinen Aussagen kommt. Welchem Druck er dabei unterliegt etc. intensiv thematisieren wird. Dazu könnten wir uns ein erneutes Aufgreifen der Diskussion um den §:129 a vorstellen, der ein reiner Gesinnungsparagraph ist und, wenn es der BAW nicht gelingen sollte, einzelne Vorwürfe einzelnen Personen nachzuweisen, auch in diesem Verfahre" eine nicht unerhebliche Rolle spielen könnte.
  2. Zum anderen ist eine solidarische Diskussion ohne Schaum vor dem Mund nötig. die die unterschiedlichen Ansätze politischer Betätigung von antirassistischer Prozessbeobachtung bis hin zu Schüssen in die Knie reflektiert. Das beinhaltet auch eine Debatte um die Politik der RZ, die von Aktivistinnen des Sollbündnisses mit dem Argument konterkariert wurde: Ich habe seit 10 Jahren nicht mehr über die RZ diskutiert. warum sollte ich es gerade jetzt tun?
  3. Schließlich müßte die Dimension des Verrats und vor allem der Umgang damit thematisiert werden. Dabei ist es unerheblich, was Tarek genau zu wem ausgesagt hat. Viel entscheidender ist der prinzipielle Rahmen. Die Aussagen eines Einzelnen sind für uns kein Grund, ein gesamtes linkes Selbstverständnis in Frage zu stellen und unsere Arbeit einzustellen.

Wir hoffen wie viele andere auf die Freiheit der Verhafteten. Dies durchzusetzen, setzt unseres Erachtens eine anders definierte Form der Solidaritätsarbeit voraus.

Mit linken Grüßen,

AG Solidarität

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http://www.freilassung.de/div/texte/rz/bp/int505.htm