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Irgendwo Januar 1985
Interview von Daniel Cohn- Bendit mit Hans- Joachim Klein
Am 2. Juni 1967 stirbt in Berlin Benno Ohnesorg, Student, sechsundzwanzig
Jahre alt. Während einer Demonstration gegen den Schah von
Persien wurde er von der Kugel eines Polizisten am Kopf getroffen.
Von diesem Augenblick an eskaliert die Gewalt. Die Medien der Bundesrepublik,
die Springerzeitungen, toben. Der Haß der Presse richtet sich
auf Rudi Dutschke, einen der Sprecher der Bewegung. 1967 in Berlin
bin ich ihm zum ersten Mal begegnet, und zwar während des großen
Vietnamkongresses. Damals war er schon der rote Rudi und ich Dany,
der Unbekannte.
Irregeleitet durch ein Klima des Hasses schreitet am 11. April
1968 ein junger Arbeiter der radikalen Rechten zur Tat: Er schießt
auf Rudi und verletzt ihn lebensgefährlich am Kopf. Die Bewegung
setzt an zum Sturm auf den Springerverlag, den man für die
herrschende Stimmung verantwortlich macht. Einige Gruppen gehen
von der politischen Verbalradikalität zur direkten Aktion über.
Es ist die Geburtsstunde der Roten Armee Fraktion, in der Öffentlichkeit
bekannter unter dem Namen »Baader- Meinhof- Bande«. An jeder Straßenecke
lauert der Tod. Die Attentate terrorisieren die Herrschenden der
Bundesrepublik. Holger Meins, zusammen mit Baader am 1. Juni 1972
verhaftet, stirbt 1974 an den Folgen eines Hungerstreiks.
Die Haftbedingungen sind gnadenlos, die Gesellschaft verhärtet
sich. Am 5. September entführt ein Kommando den Präsidenten
des deutschen Arbeitgeberverbandes, Schleyer, einen Exnazi, der
zugegebenermaßen glaubhaft - zur Demokratie konvertiert war.
Schleyer wird ermordet. Die Repression wird grausam, die Gemüter
entgleisen.
Baader, Ensslin und Raspe sterben in Haft.
Am 20. Dezember 1975 begeht im weihnachtlich erleuchteten Wien
ein junger Mann traurig seinen achtundzwanzigsten Geburtstag. Am
nächsten Tag soll er unter dem Befehl des berühmten Carlos
an der Entführung der Minister der OPEC-Runde teilnehmen. Drei
Männer werden getötet, er selbst schwer verletzt.
Mit dem Wiener Drama soll für diesen jungen Mann, Hans- Joachim
Klein, Arbeiter aus Frankfurt und aus Idealismus zum Terrorismus
gestoßen, eine lange Reise nach Damaskus beginnen. Aufgebracht
über die sinnlosen Morde, angeekelt vom triumphalen Empfang,
den die höchsten Autoritäten derjenigen Länder dem
Kommando bereiten, die die deutsche Guerilla inspirieren und finanzieren,
denkt er gleichwohl nicht einen Augenblick daran, sich der Polizei
auszuliefern oder seine Exgenossen zu verraten. Aber er fühlt
sich verpflichtet zu der Erklärung: »Die revolutionäre
Gewalt ist zum Geschäft abgesunken, zum mörderischen Gewerbe
zynischer und neurotischer Statisten.« 1980 veröffentlicht
er sein Buch »Rückkehr in die Menschlichkeit«, in dem er seinen
Weg detailliert beschreibt.
Heute ist er neununddreißig Jahre alt und lebt als Deserteur
des bewaffneten Kampfes im Untergrund. Er widmet sich seiner Familie
und hat große moralische und materielle Probleme. Ich hatte
die größten Schwierigkeiten, ihn zu finden und zu überreden,
sich filmen zu lassen. Am Ende hat er sich verkleidet, um nicht
erkannt zu werden. Ich habe also mit einem »Don Giovanni« gesprochen,
aber nicht über Opern, sondern über den Terrorismus, Carlos
und die Baader- Meinhof -Gruppe.
Interview
Dany Cohn- Bendit: Du hast dich also verkleidet, damit man dich
nicht erkennt?
Hans-Joachim Klein: Ich habe mich versteckt, irgendwo auf der Welt,
deshalb möchte ich mich nicht zeigen. Ich will nicht, daß
die Leute hier in der Stadt rauskriegen, wer ich bin. Zum Glück
sind alle Photos von mir aus den Zeitungen verschwunden, aber ich
setze alles daran, daß man mich vergißt. Weil ich verrückt
auf klassische Musik und Opern bin, habe ich mich verkleidet, und
zwar als Don Giovanni. Diese Figur fasziniert mich.
D.: Wie lebst du?
H.-J.: Ich verstecke mich - wie gesagt - im hintersten Winkel einer
kleinen Stadt eines kleinen Landes. Ich widme mich meinem Kind und
lebe nach seinem Rhythmus. Es wird um sieben Uhr wach, ich mache
Frühstück, und wir frühstücken zusammen. Dann
gehen wir spazieren, in den Park, wo die Schaukeln und die Rutschen
sind. Dann gehen wir wieder heim, ich mache den Haushalt, wasche
das Geschirr ab und koche für meine Frau und meinen Sohn. Anschließend
spielen wir ein bißchen und gehn wieder spazieren. Ich höre
enorm viel Opern und klassische Musik. Wenn mein Sohn alleine spielen
will, nehme ich mir ein Buch. Zur Zeit lese ich viel, die Biographie
von Milena, Kafkas Verlobter. Kurz gesagt, ich bin ein Hausmann.
D.: Kennen dich die Leute hier in der Stadt?
H.-J.: Sicher, physisch kennen sie mich. Sie haben uns gesehen,
mich und das Kind. Den Kleinen kennen sie, aber sie haben keine
Ahnung, wer ich wirklich bin. Und sie können es auch gar nicht
wissen.
D.: Aber sie sehen dich immer und jeden Tag mit dem Kind, gibt
das keine Probleme?
H.-J.: Nein, hierzulande gibt es viel Arbeitslosigkeit. Sie nehmen
halt an, ich sei arbeitslos.
D.: Und als du noch kein Kind hattest, was hast du da gemacht?
H.-J.: Dasselbe, aus dem Haus gehen, in den Park, mich auf eine
Bank setzen, jedes schmutzige Papier vom Rasen aufheben, jedes leere
Zigarettenpäckchen. Musik im Radio hören. Ich hatte ein
paar Alte kennengelernt, die ich dort immer wieder traf, und wir
haben zusammen meine Kassetten gehört.
D.: Wolltest du vorher auch schon Kinder haben?
H.-J.: Ich selbst hatte eine fürchterliche Kindheit, darum
habe ich lange gezögert. Aber jetzt ist das Kind mein ganzes
Leben.
D.: Was machst du, wenn er in die Schule kommt?
H.-J.: Ich weiß nicht. ..Mein Leben ist verpfuscht, ich habe
zu viele Dummheiten gemacht. Jetzt habe ich nur noch den einen Wunsch,
mit meiner Frau und dem Kind in Ruhe zu leben und sie glücklich
zu machen.
D.: Ist das nicht ein bißchen naiv? Du sagst: Ich habe Dummheiten
gemacht, böse Sachen, verzeiht mir.
H.-J.: Nein. Ich habe noch nie irgendjemanden um irgendetwas gebeten.
Ich habe Selbstkritik geübt, ich habe ein Buch geschrieben.
Auf mich wartet der Knast, aber ich ertrage kein Gefängnis,
das macht mich verrückt.
D.: Hast du das Gefühl, einen Friedensvertrag mit der Gesellschaft
geschlossen zu haben?
H.-J.: Oh ja, schon lange. ..
D.: Da verstehe ich etwas nicht. Wie kam einer wie du dazu, sich
auf den bewaffneten Kampf einzulassen? Zufall? Die Umstände?
Wir kannten uns, da warst du Mechaniker in Frankfurt. Du hast öfter
mein Auto repariert. ..du hast mir gesagt, daß du eine entsetzliche
Kindheit hattest - das erklärt einiges. Kannst du ein bißchen
von dir erzählen?
H.-J.: Ich bin 1947 geboren. Mein Vater war Bulle und Nazi, meine
Mutter Jüdin. Sie ist nach Ravensbrück gebracht worden
und daran gestorben. ..an den Folgen der Deportation.
D.: Deine Mutter war Jüdin und hat einen deutschen Polizisten
geheiratet, einen ehemaligen Nazi?
H.-J.: Ja, es ist verblüffend. ..Das hat mich jahrelang gequält,
ich bin immer noch nicht dahintergekommen. Es ist unvorstellbar,
wie im Jahre 1947 eine Jüdin, die deportiert war, mit einem
Nazi ein Kind machen konnte. ..Aber das Kind, das bin ich.
D.: Man hat behauptet, daß die internationale Guerilla antisemitisch
sei, hat dich das betroffen gemacht?
H.-J.: Ja. Da ist zum Beispiel die berüchtigte Liste, die
man in London gefunden hat, auf ihr war sogar der Name von Menuhin,
dem berühmten Violinisten. Carlos wollte ihn umbringen, nur
weil er Jude war.
D.: Hast du sie gesehen, diese Liste?
H.-J.: Nein, ich habe sie nie gesehen, aber ich weiß, daß
es stimmt. Ich kann dir auch nicht mehr sagen, wo wir zu der Zeit
waren. Da ist auch die Geschichte von Carlos, daß er sich
selbst mit dem Besitzer von Marks und Spencers »befaßt« hat.
Das ist ein Jude namens Sieff oder so ähnlich. Er hat an seiner
Tür geschellt und ihm eine Kugel in den Mund gejagt. Nur weil
er Jude war. Er hat überlebt, aber du kannst dir vorstellen,
in welchem Zustand, und mit was für einem Gesicht!
D.: Und das alles hast du vorher nicht gewußt?
H.-J.: Nein, ich hatte ja kaum Kontakt mit Carlos.
D.: Gehen wir noch einmal zurück: Erzähle mir von dir,
bevor du Carlos getroffen hast.
H.-J.: Meine Mutter war also gestorben, und mein Vater hat mich
sofort nach meiner Geburt in ein Kinderheim gesteckt. Dort blieb
ich, bis ich vier Jahre alt war, dann kam ich in Pflege. Zu einer
vierzigjährigen Frau, die nicht verheiratet war und selbst
noch bei ihren Eltern lebte. Brave Leute. Ich ging in einen Kindergarten
von der Kirche, an den ich noch ein paar Erinnerungen habe: Besonders
an eine Schwester, als sie ein Huhn schlachtete. Sie hat ihm den
Kopf mit einem Beil abgeschlagen. Aber sie hat es wohl nicht so
richtig erwischt oder so, denn ich habe dieses Huhn immer noch vor
meinen Augen, wie es ohne Kopf und voll mit Blut über den Hof
läuft. ..Ein anderes mal, es war in der Kirche, habe ich mich
nicht getraut zu fragen, ob ich mal raus könnte, und da habe
ich mir in die Hose gemacht. Zur Strafe haben sie mich ganz lange
in einen Schuppen eingesperrt. Ich habe es dir ja schon gesagt,
ich ertrage den Gedanken nicht, eingesperrt zu sein - das hat mich
verrückt gemacht. In dem Schuppen war ein Beil, mit dem habe
ich alles kurz und kleingeschlagen.
Mit zehn Jahren passierte mir die erste wirkliche Katastrophe.
Mein Erzeuger kommt an und teilt mir mit, daß ich eine andere
Mutter bekäme und bald auch einen kleinen Bruder. Und daß
er mich mitnehmen würde. Nach der Geburt des Kleinen hat er
sich mich buchstäblich zum Feind gemacht. Er schlug mich unter
jedem beliebigen Vorwand, schloß mich tagelang in mein Zimmer
ein oder ließ mich tausendmal denselben Satz schreiben. Nach
dieser Geschichte haben sich die Gewalttätigkeiten etwas gelegt.
Nach der Schule habe ich dann eine Lehre als Autoschlosser angefangen.
Aber die Stimmung zu Hause war immer entsetzlich. Ich bin ein paar
Mal abgehauen, und mit fünfzehn Jahren habe ich darum gefleht,
in ein Erziehungsheim zu kommen. Und dann ...Den ersten Kontakt
hatte ich mit einem Erzieher, der mich zur Begrüßung
geschlagen hat wie nie zuvor - und ich kenne mich schließlich
aus. ..Sicher, um mir eine Vorstellung ihrer Erziehungsmethoden
zu vermitteln. Dort bin ich ein Jahr geblieben, bin dann abgehauen
und - zu meiner großen Schande - zu meinem Vater zurück.
..
Da ich inzwischen stärker geworden war als er, hörte
er auf, mich zu mißhandeln. Aber er hörte nicht auf zu
wiederholen, daß ich im Gefängnis landen würde und
redete den ganzen Tag von dreckigen Niggern und Itakern ...Bei dieser
Gelegenheit brachte er mir auch bei, was Ich noch nicht wußte:
Daß meine Mutter Jüdin war und deportiert worden war.
Mit achtzehn habe ich ein Mädchen kennengelernt, das genauso
rumhing wie ich, auch von ihren Eltern geschlagen. Wir beschlossen,
uns zu verloben, aber die beiden Familien haben die Neuigkeit schlecht
aufgenommen. Dann lernte ich ein paar Kumpels kennen, eine ziemlich
triste Bande, und wir stahlen Autos. Ich bin auch dabei, wie wir
einen Schwulen verhauen. Meine Freundin läßt mich wegen
eines anderen von der Bande sitzen, und ich lande wegen Autodiebstahls
im Knast. Acht Monate mit drei Jahren Bewährung. Ich bin rausgekommen
unter der Bedingung, daß ich bei meinem Vater wohne und Arbeit
finde. Ich bin dann Hilfsarbeiter im Lager geworden, und da habe
ich auch zum erstenmal die Bekanntschaft mit Freunden von der Linken
gemacht. Ich entdecke, was Freundschaft ist und entwickle ein politisches
Bewußtsein. Ich lese viel, hauptsächlich dann bei der
Bundeswehr, wo ich oft im Bau bin. Ich lese Mao und tonnenweise
politische Texte. Meine Freunde waren eher Wehrdienstverweigerer,
aber ich wollte zum Bund gehen, um das Militär von innen her
zu bekämpfen und zu lernen, wie man mit Waffen umgeht. ..Kurz,
ich politisiere mich mehr und mehr. Ich mache bei der Studentenbewegung
mit, bei den Häuserbesetzungen und schließlich - nach
der Festnahme von Baader und den anderen - entschließen wir
uns, die »Rote Hilfe« zu gründen und gegen die Haftbedingungen
zu kämpfen.
Da ich meine Sympathie für die Rote Armee Fraktion nicht verberge,
und da diese »legale« Genossen braucht, werde ich kontaktiert. Ich
treffe mich mit ihnen und gebe zu verstehen, daß ich sie unterstütze,
aber daß es für mich nicht in Frage kommt, mich ihnen
anzuschließen.
Ich leiste einige Hilfsdienste: Devisen auf der Bank eintauschen,
für eine Woche eine Wohnung finden. Das geht aber schon schief,
denn entgegen dem, was ausgemacht war, bestehen sie darauf, länger
zu bleiben. Sie fangen mit Erpressung an. Ich bin sauer auf sie,
unterstütze aber weiterhin aktiv die Gefangenen.
D.: Später kämpfst du dann auf der Seite der Palästinenser.
Mit deiner Familiengeschichte, Mutter Jüdin und das alles,
war das logisch, daß du dort hingingst?
H.-J.: Nein, ich glaube nicht. Ich weiß nicht, wie ich das
erklären soll. Emotional war ich in die Geschichte verwickelt,
während mich meine Vergangenheit eigentlich nicht dort hingebracht
hätte ...Warum die Palästinenser? Es gibt ein Sprichwort,
das heißt: »Je weiter entfernt die Revolution, desto verführerischer
ist sie.«
D.: Carlos hat dich zu den Palästinensern geschleift. Wie
ist das vor sich gegangen? Ist er eines Tages zu dir gekommen und
hat gesagt »du bist mein Mann«?
H.-J.: Überhaupt nicht. Wir sind auf ganz verschlungenen Wegen
aufeinandergetroffen. Als Delegierter der Roten Hilfe habe ich an
Treffen teilgenommen und bin reichlich rumgekommen. Um mich herum
wurde viel von der Guerillabewegung gesprochen, von der nationalen
und der internationalen. Dann hat mich Boese angesprochen.
D.: Wer war das, Boese?
H.-J.: Der Chef der Revolutionären Zellen. Man kann über
ihn sprechen, er ist tot.
D.: Ist er in Entebbe gestorben?
H.-J.: Ja, er ist von den Israelis getötet worden.
D.: Wie kam er auf dich?
H.-J.: Er wußte, daß ich bei Demos sehr aktiv war.
Ich war Waffenfanatiker, und eines Tages hat er mich mit ins Waffenlager
genommen.
D.: Das heißt?
H.-J.: Ich sammelte alle Zeitschriften über Waffen, ich las
alles, Was ich auf diesem Gebiet fand. Von Demos und Häuserkampf
hatte ich die Nase voll und ich begriff, daß das zu nichts
führte. Ich war frustriert und hatte genug von der Legalität.
Die Rote Armee Fraktion hatte angefangen, Bomben zu legen. Holger
Meins war beim Hungerstreik gestorben, ich war aufgebracht, angewidert,
übergeschnappt. Also beschloß ich, in den Untergrund
überzuwechseln.
D.: Waren die einzelnen Guerillas international verzweigt?
H.-J.: Mein lieber Mann, ich kann dir sagen: Wie ich für den
bewaffneten Kampf trainiert habe, in einem Camp irgendwo in einem
arabischen Land; im selben Lager, ein bißchen weiter unten,
waren die Faschisten, von denselben Leuten ausgebildet wie wir.
D.: Was für Faschisten?
H.-J.: Rechte Phalangisten. Es war ein riesiges Camp, oben unsere
Häuser, unten ihre. Räumlich waren wir getrennt, aber
sie sangen ihre faschistischen Lieder, und wir, sozusagen die Linksradikalen,
unsere revolutionären!
D.: Was machten die Phalangisten dort?
H.-J.: Ausbildung im bewaffneten Kampf, wie wir.
D.: Ausgebildet von Palästinensern?
H.-J.: Von Palästinensern der Gruppe Waddi Haddad. Ihr Führer
nannte sich Abu Hani. Jetzt ist er tot.
D.: Kehren wir zurück zu deinem Werdegang. Wie kommst du zu
Carlos?
H.-J.: Ich habe also mit den Revolutionären Zellen kleine
Aktionen gemacht, wir sind viel herumgereist, hauptsächlich
in der Bundesrepublik. Eines Tages schlägt Boese mir vor, mit
nach Paris zu fahren. Dort hat er mich zu einem mitgenommen, den
ich erst für einen italienischen Mafiosi hielt: Iljitsch Ramires
Sanchez, alias Johnny alias Salem - für die Öffentlichkeit
Carlos. Sie sprachen englisch miteinander, damals verstand ich noch
kein Sterbenswörtchen. Ich habe nur verstanden, daß es
um Geld ging: Eine Million Mark. Boese erklärte mir, daß
es sich um die Rückzahlung falscher Flugzeugtickets handelte,
meine Fragen störten sie sichtlich. Später zeigte er mir
seine Waffen, Handgranaten, Sprengkörper usw. Das ganze Material,
das später auftauchte, als er sich die Schießerei mit
dem französischen Geheimdienst, der DST, lieferte, wo zwei
Agenten des Geheimdienstes ausgelöscht wurden. Und wo sein
besten Freund von ihm selbst hingerichtet wurde. Er hieß Michel
Moukar bel, und ich habe ihn sehr gemocht. Ein kleiner Dicker, sehr
freundlich, der nie zur Ruhe kam und dauernd Witze machte. Leider
sprach er nur arabisch und französisch, was unsere Beziehungen
einschränkte. Was seinen Lebensstil angeht, so stand er auf
Luxus wie Johnny. Unnötig zu betonen, daß wir später
bei gemeinsamer Aktionen in armseligen Absteigen wohnten und sie
in Palästen
Sicherheitsmaßnahme, wie sie sagten! Kurzum, in diesem Moment
hätte ich mir niemals vorstellen können, daß Carlos
Moukarbel töten würde. Offiziell ist er als Verräter
hingerichtet worden, der für die DST arbeitete. Aber ein Jahr
später hat mir Carlos wörtlich gesagt: »Ich habe Michel
Moukarbel nicht hingerichtet, weil er ein Verräter war, sondern
ein Feigling. Ich weiß nicht, was die DST oder die Jungs aus
Beirut mit ihm angestellt haben, nachdem sie ihn aus dem Knast entlassen
und nach Paris haben gehen lassen. Aber sie haben seine Ankunft
der DSTgemeldet.
Vielleicht haben sie ihn gefoltert oder unter Drogen gesetzt. Auf
jeden Fall hat er alles erzählt, das ist klar. Und als ich
anfing, die drei Agenten der DST unter Feuer zu nehmen, ließ
er sich in einen Winkel gleiten und hat die Hände über
den Kopf gehalten, statt mit zu helfen. Deshalb habe ich ihm zwei
Kugeln ins Genick geschossen.« Was konnte ich zu solchen Greueln
sagen?
D.: Aber wie erklärst du dir die Faszination, die so ein Mann
auf dich ausgeübt hat?
H.-J.: In erster Linie, das muß ich wiederholen, hatte ich
nicht die leiseste Ahnung von all den Greueltaten, die ich dir eben
erzählt habe. Was mich fasziniert hat? Seine Gewandtheit, sein
Sinn für Luxus, seine Waffen, die Tatsache, daß er sechs
Sprachen spricht, die Wahnsinnsmenge von Zeitungen, die er noch
in anderen Sprachen las, seine Kenntnis der politischen Begebenheiten
auf der ganzen Welt, sein Haus, das vollgestopft war mit Sprengkörpern.
Für mich war er ein terroristischer Gentleman.
D.: Ein bißchen James Bond. ..
H.-J.: Ja, ein revolutionärer James Bond, einer, der auf sein
angenehmes Leben in Venezuela verzichtet hat für den gefährlichen
Beruf des Guerilleros. Er kam aus besten bürgerlichen Kreisen
und verleugnete es nicht. Damit hat er auch seinen Luxus gerechtfertigt,
was Restaurants und Hotels anging. Außerdem spielte er nicht
den Häuptling, er behandelte mich von gleich zu gleich. Ich
glaube, ich fand, daß er das Leben eines »Helden« führte.
Und jetzt siehst du, was er aus meinem Leben gemacht hat.
D.: Was war genau das Ziel der Operation gegen die Ölminister
in Wien? Dieser Operation, die dich zwingt zu leben, wie du heute
lebst?
H.-J.: Wir verfolgten zwei Ziele. Ein militärisches, das darin
bestand, alle Minister zu entführen und als Geisel zu nehmen.
Und ein zweites, viel wichtigeres, ein politisches Ziel: Wir wollten
mit allen Ministern an Bord in ihre einzelnen Herkunftsländer
fliegen; auf jeder Etappe wären sie erst dann freigelassen
worden, wenn ihre Regierung eingewilligt hätte, eine propalästinensische
Erklärung zu verbreiten.
D.: Wie denkst du heute darüber?
H.-J.: Daß das alles absurd und verrückt war. Und daß
ich noch dazu mein Leben versaut habe.
D.: Und du hast entschieden, auszusteigen. ..?
H.-J.: Später, als wir im palästinensischen Lager waren,
ist mir alles klar geworden, und ich habe meine Entscheidung gefällt.
Sie sprachen von drei Leuten, die in Wien umsonst ihr Leben gelassen
hätten. Da ich an gefährlichen Operationen teilgenommen
hatte und völlig kompromittiert war, sprachen sie in meiner
Gegenwart ganz offen, denn sie waren überzeugt, daß ich
nicht mehr zurück könne. Damals habe ich den Entschluß
gefaßt, zu verschwinden. D.:Wie siehst du deine Zukunft?
H.-J.: Die einzige Hoffnung, die ich habe, ist, daß sie mich
mit meiner Frau und dem Kind in Frieden lassen. Im Moment ist das
meine einzige Hoffnung.
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