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Der Schoß ist fruchtbar noch
Konkret Nr.3 1987
Oliver Tolmein
Als die Frauen der "Roten Zora" im vergangenen August dem Münsteraner
Institut für Humangenetik einen heißen Besuch abstatteten,
fielen ihnen auch ein paar Aktenordner in die Hände. Was sie
jetzt daraus veröffentlichten, zeigt eines: die Erbforscher
sind um ein freundliches Image bemüht. Die Leute sollen freiwillig
zur genetischen Erfassung antreten
Das Eingangsschild des Humangenetischen Instituts Münster
ist leicht zu übersehen: Lorbeersträucher verdecken die
Metallplatte. Den Wissenschaftlern dort mag das gelegen kommen.
Nicht wegen des Ruhmes. Das stolze Vorzeigen des eigenen Namens
ist für die Genetiker mittlerweile riskant geworden. Selbst
die Enquête-Kommission des Bundestags "Chancen und Risiken
der Gentechnologie" hat von ihrem Haus in der Bonner Winston-Churchill-Straße
11 das Türschild entfernen lassen, nachdem im Sommer letzten
Jahres die "Rote Zora" einen Brandanschlag auf das Münsteraner
Institut verübt hatte - den dritten auf eine Gentechnische
Einrichtung. Daß es dabei nicht nur um Zerstörungen geht,
hatten bereits 1983 Hamburger Attentäter deutlich gemacht,
die in die Beratungsstelle der Hamburger Humangenetikerin Stockenius
eingebrochen waren: das umfangreiche, dort "ausgelagerte" Beratungsmaterial
dokumentierte die Nähe von Frau Stockenius zu rassehygienischen
Vorstellungen, die im deutschen Faschismus der Ausmerzepolitik zugrunde
gelegen hatten.
Vergleichbares fanden die "Rote Zora"-Frauen in Münster nicht.
Jetzt, sechs Monate nach dem Anschlag und rechtzeitig zur Vorlage
des Abschlußberichts der Enquête-Kommission, haben sie
Teile der entwendeten Materialien zusammen mit einem Positionspapier
veröffentlicht: "Bei der Durchsicht der Akten haben wir keine
spektakulären Schweinereien aufgedeckt. Das heißt allerdings
nicht, daß hier solche nicht passieren, da unsere Auswahl
nicht repräsentativ ist. Wichtig für uns ist, von der
Fixierung auf Skandale wegzukommen. Sie gehören zwar zu diesem
System und sind als solche zu denunzieren. (.. .) Es ist vielmehr
die alltägliche Normalität - das Erfassen und Aufarbeiten
der Daten, das Einpflanzen des Selektionsgedankens in die Köpfe
der Menschen - die die Gefährlichkeit dieser Institute ausmachen."
Während sich manche Kritikerinnen und Kritiker noch darauf
konzentrieren, die Kontinuität von faschistischer Rassenhygiene
und BRD-üblicher Humangenetik nachzuweisen, distanzieren sich
die vorsichtigen Vertreter der derart angegriffenen Zunft bereits
von solchen Kollegen wie Dr. Marianne Stockenius. Auf Veranstaltungen
gegen humangenetische Beratung melden sich inzwischen auch "linke",
im Genetikbereich arbeitende Wissenschaftler zu Wort, sprechen sich
für das Selbstbestimmungsrecht der Frauen aus, verteidigen
aber auch die eigene Arbeit. Die Mainzer humangenetische Beratungsstelle
lädt gar Ernst Klee ein, der die Praktiken der Vernichtungsmedizin
im Dritten Reich untersucht und dokumentiert hat, um ihm vorzuführen,
wie wenig behindertenfeindlich die Beratungstätigkeit verlaufe.
Und in den Protokollen von Genetikertagungen muß man schon
sehr genau lesen, um ausdrückliche Argumente für Auslese
und Ausmerze zu finden.
Also falscher Alarm? Die Humangenetik doch harmloser als gedacht?
Das Gegenteil dürfte der Fall sein. Die Selektions- und Erfassungsgedanken
bilden nach wie vor die konzeptionelle Grundlage der humangenetischen
Beratung, sie prägen allerdings die Beratungspraxis derzeit
weniger, als ursprünglich vermutet. Die Humangenetiker bewegen
sich auf anderen Wegen, weichen den Angriffen auf ihre Arbeit geschickt
aus und sind dabei, das zu gewinnen, was sie für ihre Arbeit
derzeit am meisten brauchen: Vertrauen. Die "Forderung, daß
alle Paare mit begründbarem Bedarf an Beratung tatsächlich
einer Beratung zugeführt werden sollten," erscheint dem Münsteraner
Humangenetiker Prof. Widukind Lenz deshalb, wie er in einer Broschüre
ausführt, "mindestens zum gegenwärtigen Zeitpunkt unrealistisch
und unklug."
Deswegen betonen Berater wie Lenz auch immer wieder die Freiwilligkeit
aller Maßnahmen, ohne allerdings auf den bevölkerungspolitischen
Rahmen ganz verzichten zu wollen: "Würde die genetische Beratung
sich der 'Volksgesundheit' unterordnen, so würde sie rasch
an Vertrauen und Ansehen verlieren. Andererseits erscheint es durchaus
legitim, daß Ratsuchende sich auch Gedanken über ihre
Verantwortung gegenüber weiteren Generationen machen (...)
dann ist eine strikte Priorität des eigenen Interesses vor
dem Allgemeininteresse schwer vertretbar". Das schlechte Image muß
weg, da sind sich die Wissenschaftler einig. Die Leute müssen
freiwillig kommen - und sich davon etwas versprechen. Die Umstände
dafür sind günstig: die Angst, ein behindertes Kind zu
bekommen, wächst angesichts der konventionellen und atomaren
Umweltverseuchung. Die konservative Sozialpolitik, die auf der Suche
nach effektiven Billigpflegemodellen ist, die im Rehabilitationsbereich
Mittel kürzt und die die Spaltung in der Gesellschaft insgesamt
vorantreibt, übt zusätzlichen Druck auf Eltern aus, behinderte
Kinder als kaum vertretbare Last erscheinen zu lassen.
Von der Unsicherheit und Angst hatte bereits 1956 der Direktor
des Münsteraner Instituts für Humangenetik, Otmar von
Verschuer, der Vorgänger von Professor Lenz, dessen Archiv
der Anschlag der "Roten Zora" gegolten hat, profitiert. Verschuer,
im Dritten Reich ein renommierter Rassehygieniker, der unter anderem
Josef Mengele zu seinen Schülern zählte, hat 1956 im Atomministerium
(damals amtierenden Minister: Franz Josef Strauß) mit Verweis
auf die allgemeine Angst vor Erbschädigungen durch den radioaktiven
Fallout nach Hiroshima, Nagasaki und nach den Atombombentests, Mittel
für ein großangelegtes humangenetisches Projekt beantragt
und bewilligt bekommen: die Erfassung sämtlicher Neumutationen
im Regierungsbezirk Münster, um etwaige Veränderungen
konstatieren und hochrechnen zu können. Das von Verschuer konzipierte
Register, und das führt zu den von der "Roten Zora" entwendeten
Materialien zurück, wurde von Professor Wilhelm Tünte
weitergeführt - mit anderer Zielrichtung. Tünte interessierte
sich nicht für Neumutationen durch radioaktiven Fallout, er
benutzte die Daten als empirische Basis für die Entwicklung
der noch neuen Fachdisziplin "Sozialgenetik". Den jetzt zugänglich
gemachten Dokumenten zufolge, ist das Ziel dieser 1971 von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft geförderten Arbeit, "die soziale Dimension
genetischer Erkrankung sichtbar und meßbar zu machen, um ein
umfassendes Konzept zur Intensivierung der genetischen Beratung
zu entwickeln, in dem neben den genetischen Fragen auch die sozialen
und psychischen Aspekte Berücksichtigung finden". Themen sozialgenetischer
Untersuchungen, wie sie auch in Göttingen und Hamburg betrieben
werden, sind "die Beziehungen zwischen Intelligenz, Schichtzugehörigkeit
und Kinderzahl, die Abhängigkeit des Mongolismus vom Alter
der Mutter, genetische Konsequenzen des Geburtenrückgangs".
Ausgangspunkt der sozialgenetischen Forschung von Tünte ist
das Eingeständnis, daß es "keine normalen oder krankhaften
Merkmale (gibt), die zu hundert Prozent erblich oder nichterblich
sind. Immer sind Erbeinflüsse und Umweltfaktoren an der Entstehung
eines Merkmals beteiligt".
Professor Widukind Lenz, bis 1984 Ordinarius des Instituts für
Humangenetik in Münster, seitdem emeritiert, hat diesen Ansatz
in seiner Abschiedsvorlesung in prägnante Worte gefaßt:
"Humangenetik ist die Wissenschaft von den erbbedingten Unterschieden
des Menschen. Da nicht von vornherein feststeht, welche Unterschiede
genetisch bedingt sind und welche durch die Umwelt, bilden alle
Unterschiede zwischen Individuen oder Gruppen, deren rein exogene
Entstehung nicht ohne weiteres klar ist, den Gegenstand der Humangenetik."
Der Anspruch der Humangenetik ist, das ist die logische Konsequenz,
nahezu total: Verhaltensauffälligkeiten sind ebenso ihr Forschungsgegenstand
wie Intelligenz oder körperliche Fehlbildungen. "Daraus erwächst
die Möglichkeit, nicht normgerechtes Verhalten als Krankheit
zu definieren und möglichst breit zu erfassen," schlußfolgert
die "Rote Zora". Kritischer für die aktuelle Diskussion ist
aber ein anderes Moment: durch die Aufwertung des Umweltfaktors
gegenüber den rassehygienischen Theorien wird die Sozialgenetik
auch für ein bestimmtes Spektrum der Umweltschutzbewegung attraktiv.
So wie Teile der Anti-AKW-Bewegung sich lange Zeit für Krebsregister
eingesetzt haben, weil durch deren Auswertung der Zusammenhang von
Krebshäufigkeit und radioaktiver Belastung hergestellt werden
kann, haben nach Tschernobyl viele in der Ökobewegung auch
die pränatale Diagnostik und die humangenetische Beratung für
sinnvoll gehalten.
Aber auch so eingesetzt, bliebe die Humangenetische Beratung ein
Instrument der Herrschenden, jeweils einsetzbar für das, was
sie dauerhaft gegenwärtig nicht leisten kann: zu verhindern,
daß die Zahl von geschädigt Geborenen ansteigt. Ein pränatales
Massenscreening nach einer Chemie- oder Atomkatastrophe oder auch
nach einem Arzneimittelskandal à la Contergan, für das
nach dem Stand des Bewußtseins der Bevölkerung noch nicht
einmal Zwangsmaßnahmen ergriffen werden müßten,
würde - im Interesse der Industrie und des Sozialstaats - helfen,
die Folgen zu verhindern: liest man im Nachhinein die Artikel zum
Conterganskandal, so ahnt man, daß, hätten entsprechende
Diagnosemöglichkeiten zur Verfügung gestanden, von den
5000 geschädigt Geborenen, die meisten nicht das Licht der
Welt erblickt hätten. Der Firma Grünenthal hätte
das einen Strafprozeß und 100 Millionen Mark Entschädigungszahlungen
erspart.
Das zeigt zwar Wirkungsmöglichkeiten der humangenetischen
Beratung, wird aber dem Konzept von Wissenschaftlern wie Widukind
Lenz kaum gerecht, und bringt die politische Kontroverse um die
humangenetische Beratung nicht viel weiter: schließlich bereiten
sich die Humangenetiker heute nicht auf Sondermaßnahmen im
Ausnahmezustand vor, sie versuchen präventiv auf den Alltag
einzuwirken. Ihre Bündnispartner, denen sie sich verpflichtet
fühlen, sind dabei die pharmazeutische Industrie, die Politiker
und gebärwillige, aber besorgte Eltern. Über die allmähliche
"Verschlechterung des Genpools" macht sich ein Mann wie Professor
Lenz zwar auch Sorgen, für die aktuelle Arbeit sei das aber
ein "Scheinproblem". Lenz, der damals wesentlich an der Erforschung
des Zusammenhangs von Conterganeinnahme und Fehlbildungen, beteiligt
war, sieht diese markanteste Arzneimittelkatastrophe im Nachhinein
nämlich in einem anderen Licht: am verheerendsten findet er,
daß durch sie die Rolle der Medikamenteneinnahme während
der Schwangerschaft bei späteren Fehlbildungen erheblich überschätzt
wird. Umwelt, wie er und viele seiner Kollegen sie verstehen, ist
in erster Linie die Lebensweise der Eltern: "Die Hauptursache vorgeburtlicher
Schäden ist momentan Alkoholismus der Mutter" heißt es
in einem Schreiben von Lenz. Umweltgifte wie Dioxin, hohe radioaktive
Belastung oder teratogene (fruchtschädigende) Medikamente spielen
demgegenüber kaum eine Rolle.
Die "Rote Zora" hat einen aufschlußreichen Briefwechsel zwischen
Lenz und Boehringer Ingelheim zusammengestellt. Am 9. Oktober 1984
bedankt sich die "Fachzeitung Medizin" von Boehringer für einen
Besuch, den sie am 2.10. in Professor Lenz Institut machen durfte.
Am 12.10.1984 bittet Lenz die Boehringer-Leute um Zusendung zweier
Bücher: Jochen Bölsches "Das gelbe Gift", ein Buch über
den sauren Regen, und Peter Krebs "Die Kinder von Vietnam". Die
Bücher werden prompt geliefert und am 27.11.84 hat Dr. M.-J.
Klingspohr von Boehringer eine Kurzexpertise auf dem Schreibtisch
liegen, in der Lenz ihm Argumente gegen die für Dioxin in beiden
Büchern behauptete teratogene Wirkung liefert: Die im Vietnam-Buch
beschriebenen Spätschäden durch Entlaubungsmittel führt
Lenz auf Erbdefekte zurück, "sofern nicht in diesem Fall eine
besonders starke Exposition nachgewiesen wird". Die ebenfalls dort
wiedergegebene Totgeburtenhäufigkeit für das chemisch
verseuchte Tay Ninh (3,5 bis 5,9 Prozent) relativiert er als "durchaus
im Bereich der Totgeburtenhäufigkeit in unterentwickelten Ländern".
Diese Zuarbeit für einen Konzern ist kein Einzelfall. In mehreren
Briefen nimmt Lenz, von dem man nach seiner Contergan-Enthüllungsarbeit
hätte anderes erwarten können, Medikamentenhersteller
grundsätzlich in Schutz. Einem besorgten werdenden Vater, der
sich an ihn gewandt hat, weil seine Frau in der Schwangerschaft
ein Arzneimittel genommen hat, schreibt er am 8.3.77: "Hinweise
von Firmen, daß Medikamente nicht in der Schwangerschaft genommen
werden sollen, besagen nichts. Sie dienen lediglich dazu, daß
etwaigen Klagen von vornherein der Boden entzogen werden soll. Da
etwa I Prozent aller Neugeborenen schwere Mißbildungen. haben,
also natürlich auch I Prozent aller Neugeborenen, deren Mütter
irgendwelche harmlosen Mittel zu sich genommen haben, könnten
sich die Firmen der Schadensersatzklagen überhaupt nicht mehr
erwehren, wenn sie nicht vorsorglich derartige Warnungen anbringen
würden (...). Also vergessen Sie möglichst schnell die
unbegründete Sorge und freuen Sie sich auf Ihr Kind!"
Dieser Brief ist auch aus einem anderen Grund typisch: er dokumentiert
den fürsorglichen Gestus, mit dem sich die Humangenetiker an
die Ratsuchenden wenden. Verknüpft ist er mit dem Versuch,
die Kontrollmöglichkeiten zu erweitern. Einen anderen Vater,
der sich an Lenz gewandt hat, weil seine Frau und er Vetter und
Cousine 2. Grades sind, und sie wissen wollen, wie hoch das Risiko
ist, geschädigte Kinder zu bekommen, beruhigt Lenz, um dann
zu bitten: "Ich wäre Ihnen dankbar, wenn sie mich später
einmal bei gegebener Gelegenheit - etwa bei der Geburt des ersten
Kindes - von Ihrem Entschluß und seinen Folgen unterrichten
würden".
Informationen über "Fälle" zu erhalten, beschäftigt
die Humangenetiker auch sonst. Eine Meldepflicht für Fehlbildungen
gibt es nicht, dafür aber ein hervorragendes internes Informationsnetz,
das sogar bis in die DDR hinein reicht, wie ein Briefwechsel zwischen
Professor Lenz und Professor Patzer von der Medizinischen Akademie
Erfurt über Fälle von tuberkulöser Hirnsklerose zeigt.
Die "Rote Zora" präsentiert einen Brief der humangenetischen
Untersuchungsstelle in Hamburg Altona an Lenz, in dem er um Rat
wegen einer bestimmten Mißbildung (Holoprosencephalie) gebeten
wird. Aus dem Schreiben geht hervor, daß mehrere Ärzte
ihre "Fälle", die in Beratungsdateien oder Patientenkarteien
festgehalten sind, zusammengetragen haben - daß also die im
persönlichen Gespräch erhobenen Befunde recht freizügig
untereinander ausgetauscht werden. Nur Frau DL Stockenius hatte
diesmal Probleme: Sie "hatte im Moment keine Übersicht über
ihre Fälle, weil bei einem Einbruch etliche Unterlagen gestohlen
worden waren".
Diese Probleme hat künftig auch Professor Lenz, der in seinen
Briefen an die "verehrten Kollegen" immer wieder um die Zusendung
von Fotografien seltener Mißbildungsraten gebeten hat. Zerstört
wurde nach seinen Aussagen bei dem Anschlag der "Roten Zora" vor
allem seine umfangreiche Falldokumentation. "Das ist für unsere
aktuelle Beratungsarbeit ein wichtiger Fundus gewesen." Mehr allerdings
ein Erfassungskatalog als eine Ausgangsbasis für wissenschaftliche
Forschung. "Wir wollen nicht nur wissen, was ist Vererbung, sondern
auch, was ist aus den Leuten geworden."
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