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VSA-Verlag, Stresemannstr. 384a, 2000 Hamburg 50, ISBN
3-87975-577-2
Aus dem Kapitel: Der Prozess gegen "Reinders u.a." (Lorenz/
Drenkmann- Prozess) S.149ff
Der Kronzeuge
November 1978: Reiner Hochstein betritt die Szene, der
"Kronzeuge" für den Drenkmann- Mord. Durch die 16- teilige
"Geständnis"- Serie in Springers "Welt" im
September 1977 war die Verteidigung erstmals mit seiner Existenz
konfrontiert worden. Bis dahin hatte die Anklage ihr Hauptbeweismittel
unterschlagen. Erst im Dezember 1977 hatte die Verteidigung die Protokolle
von Hochsteins Vernehmungen durch Staatsanwalt Müllenbrock von
März und April 1977 bekommen.
"Um den Personenschutz, unter dem Reiner Hochstein in den Saal
eskortiert wird, könnte ihn manch Prominenter beneiden", bemerkt
der Reporter der Welt. "Begleitet von vier Schutzpolizisten und zwei
Justizbeamten, abgesichert von einem halben Dutzend Kriminalbeamter eilt
der 39jährige Hochstein einmal nach links oder rechts zu den
Anklagebänken zu blicken, zu seinem Stuhl vor dem Richtertisch."
Richter und Verteidiger wissen noch nichts von dem Deal zwischen Hochstein
und seinen Gesprächspartnern aus Verfassungsschutz und
Staatsanwaltschaft. Für sie ist Hochstein zunächst einmal der
Zeuge der Anklage, für mindestens einen der Richter gar der Zeuge, der
weiß, "wie es wirklich war".
Am Tag des ersten Hochstein- Auftrittes verblüfft Ralf Reinders die
Prozeßöffentlichkeit mit einem überraschenden
Geständnis. Er berichtet von drei gleichzeitig ausgeführten
Banküberfällen im September 1970 in Berlin. Bisher waren Justiz
und Öffentlichkeit davon ausgegangen, daß alle drei Banken von
der RAF überfallen worden waren, denn Karl- Heinz Ruhland, der
legendäre RAF-"Kronzeuge", hatte im Prozeß gegen Horst
Mahler diese Version geliefert. Es sei ganz anders gewesen als von Ruhland
berichtet, verrät Reinders. Er schildert die Überfälle als
Gemeinschaftsaktion der "Tupamaros Westberlin" aus denen
später die "Bewegung 2. Juni" hervorging und der RAF; die
RAF habe zwei und die Tupamaros eine Bank überfallen, nämlich die
in der Altonaer Straße in Tiergarten. Reinders zeigt sich über
Einzelheiten in bezug auf Planung und Ausführung der Überfalle
bestens informiert ("Die bei allen drei Aktionen benutzten
Perücken ... stammten aus Friseurläden in der Bundesallee und der
Katzbachstraße"). Mit seiner Erklärung wolle er, so
Reinders, "zeigen, wie sogenannte Kronzeugen auftreten und daß
das, was sie sagen, nicht das ist, was sie wissen. Daß sie Sachen
sagen, von denen sie nicht die geringste Ahnung haben, sondern vom
Staatsschutz für die Aussagen präpariert werden." Von
Reinders' Geständnis nimmt die Berliner Presse keine Notiz.
Im Oktober 1974 war Hochstein nach Berlin übergesiedelt, nachdem
die Polizei eine von ihm und Andreas Vogel mitbenutzte illegale Wohnung in
der Bremer Pappelstraße entdeckt hatte. Vier Monate später war
er in Hamburg von der Polizei gestellt worden. Die Berliner Ermittlungen
gegen ihn wegen seiner möglichen Beteiligung am Drenkmann-Attentat am
10. November 1974 waren stillschweigend eingestellt worden. Zur Erinnerung:
Hochstein hatte sich in den etwa drei Tage dauernden Gesprächen mit
Grünhagen selbst belastet, an der Planung des Attentats beteiligt
gewesen zu sein. In der Anklage des Generalbundesanwalts wurde er dennoch
an keiner Stelle erwähnt.
Für Beobachter wurde bald klar, daß Hochstein entweder
für seine Aussage belohnt worden war, indem seine Beteiligung an
dieser Tat ignoriert wurde, oder weil er der Anklage mit einer
erfundenen Geschichte den Zugriff auf eine ganze Reihe "bekannter
Terroristen" ermöglicht hatte. In diesem Fall mag die Belohnung
in der Nichtbeachtung einer anderen Tat bzw. der frühzeitigen
Entlassung nach dem Hamburger Urteil bestanden haben. Wie es
tatsächlich war, wurde niemals bekannt.
Im Protokoll des Berliner Verfassungsschutzbeamten Grünhagen, das
zu Beginn von Hochsteins Vernehmung weder Richtern noch Verteidigern
bekannt ist, liest sich sein Geständnis zum Thema "Vorbereitung
und Ausführung der Tat" so:
Am Sonnabend, dem Todestag von Holger Meins (9.11.74), rief
Inge Viett in der Martin- Luther- Straße an und fragte, ob Hochstein
und Vogel allein seien, "da wir mal vorbeikommen wollen". Nach
ca. einer Stunde erschienen Inge Viett und Ralf Reinders und berichteten
über den Tod von Holger Meins.
Sie erklärten, daß da "unbedingt etwas
geschehen" muß. Reinders sagte dazu: "Wir wollten
später einen holen. Auf alle Fälle müssen wir jetzt etwas
machen." In dieser Gesprächsphase haben weder Reinders noch Viett
über konkrete Planungen berichtet. Reinders erklärte noch,
daß man Hochstein und Vogel für die bevorstehende Aktion
brauchen würde, "weil einige bei ihren Tanten sind, und die
kriegen wir jetzt nicht." Ralf Reinders ist dann für ca. eine
Stunde weggefahren und kam kurz vor Mitternacht zurück. Er bemerkte
wieder, daß er "an keinen herangekommen sei" und daß
man doch vielleicht erst einmal losfahren könne, um sich die Adressen
anzusehen. In dieser Gesprächsphase erklärte Reinders, daß
man sich ein "Justizschwein" holen müsse und daß
eigentlich nur der Richter Zelle, der für das Mahler- Urteil
verantwortlich sei, sowie der Kammergerichtspräsident von Drenkmann in
Frage kämen.
Etwa gegen Mitternacht fuhren dann Inge Viett, Reinders,
Vogel und Hochstein mit dem schon erwähnten Fiat los. um die Adresse
des Richters Zelle abzuklären. Hochstein hat den Weg wie folgt
beschrieben: Martin- Luther- Straße, Schloßstraße.
"dann an einer großen amerikanischen Kaserne vorbei und danach
rechts von der Hauptstraße abgebogen". Dann wurde der Wagen
abgestellt, und die vier gingen etwa fünf Minuten zu Fuß. Es
wurde fest gestellt, daß alle Jalousien des Hauses von Richter Zelle
herunter gelassen waren. Viett und Reinders erklärten, daß sie
die Umgebung nicht gut fänden und man zu der Adresse des von Drenkmann
fahren würde. (...) Danach fuhren die vier nach Charlottenburg.
Hochstein erinnert sich nur, daß in unmittelbarer Nähe der
Wohnung des von Drenkmann an der Ecke ein Zeitungskiosk war. Während
Reinders und Hochstein im Wagen sitzen blieben, sind Inge Viett und Vogel
ausgestiegen und kehrten nach ca. fünf Minuten mit der Bemerkung
zurück: "Das bringt jetzt nichts im Dunkeln." Reinders und
Viett brachten dann die beiden wieder in die Martin- Luther- Straße
zurück.
Man verabredete sich für den nächsten Tag
(Sonntag den 10.11.1974), 15.00 Uhr, am Viktoria-Luise-Platz. Zum
vereinbarten Zeitpunkt waren Hochstein und Vogel am Viktoria-Luise-Platz.
Ralf Reinders und Inge Viett erklärten den beiden, daß nur einer
mitzumachen brauchte, worauf sich Vogel sofort in den Wagen setzte.
Reinders und Viett akzeptierten die Entscheidung von Vogel sofort, und
Hochstein ist "unheimlich frustriert" wieder zur
Martin-Luther-Straße zurückgegangen. Bis zu diesem Zeitpunkt
waren Hochstein nähere Einzelheiten der Planung und Durchführung
nicht bekannt. Am Montag gegen 06.00 Uhr kam Vogel in die Wohnung
Martin-Luther-Straße zurück und weckte Hochstein auf Vogel war
sehr aufgeregt und sagte, daß "trotz der vielen Bullen"
alles klargegangen sei.
Ohne daß Hochstein konkrete Fragen stellte,
erzählte Vogel, daß sie "zu viert" zur Wohnung des von
Drenkmann hochgegangen seien. Er sei als erster die Treppen hoch gestiegen
und hätte die Blumen in der Hand gehabt. Vorher hätte er sich
einen Bart angeklebt. Nach dem Klingeln "haben wir die Tür
aufgedrückt und sind gleich auf die drauf". Weiter führte
Vogel dann aus, indem er auf Kratzspuren an der rechten Hand hinwies:
"Die Alte ist auf mich drauf und hat unheimlich gekratzt." Dann
hätte "Ralf (Reinders) geschossen", und "ich habe auch
einen in die Wand abgegeben". Danach seien alle die Treppe hinunter
gelaufen, und er sei mit "Paul" in dem blauen Fiat 127, "den
du kennst", ab gefahren.
Des weiteren bemerkte Vogel, daß er
"Scheiße gebaut" hätte, weil er beim Hinauswerfen
eines Stadtplanes aus dem Handschuhfach die Zulassung mit hinaus geworfen
hätte. Danach hätten sich dann alle noch getroffen. und es
hätte "einen unheimlichen Krach" gegeben, weil "die
Sache schiefging". Er sei dann noch bis zum Morgen bei
"Paul" geblieben und danach zur Martin-Luther-Straße
gefahren. Vogel erzählte noch, daß außer "Paul"
und "unseren beiden" (damit waren Reinders und Viett gemeint)
auch noch "Konrad" (Fritz Teufel) mit dabei war. Aufgrund der
Schilderung des Vogel gegenüber Hochstein müssen an der Tat
sieben Personen teilgenommen haben, wovon die nachfolgend aufgeführten
Hochstein namentlich bekannt wurden: Inge Viett, Ralf Reinders, Fritz
Teufel, Andreas Vogel und "Paul".
Hochstein ist eine einzige Äußerung von Reinders
erinnerlich, in der dieser indirekt seine Beteiligung an der
Erschießung des von Drenkmann gegenüber Hochstein zugab: Er
sagte einmal auf von Drenkmann bezogen: "Der Typ wollte einfach nicht
umfallen. Der hat sich irre gewehrt." Außerdem bemerkte Reinders
in diesen Zusammenhang noch, daß dabei seine Brille "total
zerkratzt" worden sei.
Rechtsanwalt Wolfgang Panka, Verteidiger von Till Meyer, hatte sieh
gemäß der vereinbarten Arbeitsteilung der Verteidiger auf den
Kronzeugen Hochstein spezialisiert. Für Panka war Hochsteins Wechsel
des Verteidigers im August 1977 (Hochstein hatte seiner Anwältin das
Mandat entzogen und Rechtsanwalt Dulde neu verpflichtet) der entscheidende
Hinweis dafür, daß mit dem Zeugen "etwas faul
ist".
An den ersten Vernehmungstagen berichtet Hochstein über seinen
Werdegang. Beobachter beschreiben ihn als "ruhig, konzentriert, und
ohne einmal ins Stocken zu geraten" und vergleichen die Präzision
seiner Aussage mit der eines Schweizer Uhrwerks. Bis auf die Beteiligten
weiß in diesen Tagen niemand, wem Hochstein seine Sicherheit
verdankt.
Hochsteins Selbstsicherheit scheint noch eine Weile stabil, doch als er
in der Hauptverhandlung mit seinen achtzehn Monate zurückliegenden
Aussagen gegenüber dem ermittelnden Staatsanwalt Müllenbrock
konfrontiert wird, zeigen sich erste Probleme. Anfang 1978 hatte ihm sein
Verteidiger die Aussageprotokolle für ein paar Tage in die Zelle
geschickt; Hochstein war also recht gut vorbereitet. Erinnerungsprobleme
hat er im Zeugenstand nicht, vielmehr zeigt sich, daß Einzelheiten
aus seinem "Geständnis" nicht mit den ermittelten Fakten
übereinstimmen. Zum Beispiel zur Rolle von Andreas Vogel in der
Tätergruppe. Vogel hatte zwar bei seiner Verhaftung den Tatrevolver
bei sich, völlig ungeklärt war jedoch, wer ihn im Flur der
Wohnung des Kammergerichtspräsidenten benutzt hatte. Als
"Blumenbote" war Vogel bisher nur von Hochstein genannt worden;
niemand sonst hatte ihn belastet, weder die Witwe noch andere Zeugen aus
dem Wohnhaus der Drenkmanns in der Bayernallee. Auch die
Einschußstelle - laut Hochsteins Aussage in der Hauptverhandlung soll
Vogel in die Decke geschossen haben war nicht gefunden worden. Von
großer Bedeutung war auch, daß Hochstein in seinem
"Geständnis" zwei Schützen mit zwei verschiedenen
Waffen genannt hatte - Andreas Vogel mit einem Revolver Walther PKK
7,65 und Ralf Reinders mit einer Heckler und Koch -, tatsächlich
waren jedoch alle drei Schüsse aus nur einem Revolver der Marke Smith
& Wesson, Kaliber 38, Spezial abgefeuert worden. Zwei Geschosse hatten
von Drenkmann getroffen, das dritte stellte die Kriminalpolizei auf dem
Fußboden des Hausflures sicher. In der Hauptverhandlung wiederholt
Hochstein die "Geständnis" - Version: "Andreas trug
noch seine 7.65er- Pistole bei sich, als wir uns an jenem Morgen
unterhielten."
Auf die Frage an Hochstein, weshalb er, wenn schon so gut informiert,
nicht an der Tat beteiligt wurde, gab es zwei verschiedene Antworten. Laut
Grünhagen- Protokoll (das im Moment, weil geheimgehalten, in der
Verhandlung noch keine Rolle spielt) mußte Hochstein hinnehmen,
daß nicht er, sondern Andreas Vogel ohne Diskussion seinen Einsatz
durchsetzen konnte. Diese Darstellung hatte Hochstein in der Vernehmung
durch Staatsanwalt Müllenbrock am 17. März 1977 bestätigt
und vor einem Richter wiederholt. Fünf Wochen danach, am letzten Tag
der Vernehmungsserie des Staatsanwalt, veränderte Hochstein seine
Aussage. Er behauptete nun und sagt nochmals in der Hauptverhandlung, durch
"dreimaligen Münzwurf von der Aktion ausgeschlossen worden"
zu sein. Am 7. November schließlich will sich Hochstein nicht einmal
mehr daran erinnern können, daß sich Andreas Vogel am Morgen
nach der Tat bezichtigt hatte, der "Blumenbote" gewesen zu sein.
Inzwischen war Frau von Drenkmann, die nicht Vogel, sondern Ralf Reinders
als Blumenbote erkannt haben wollte, als Zeugin in der Verhandlung
gehört worden. Ähnliches passiert mit dem angeblichen
Fluchtwagen, dem blauen Fiat 127: Hochstein sagt, er erinnere sich nicht.
Seine Geschichte erscheint von Vernehmung zu Vernehmung
unglaubwürdiger; der "gute Eindruck", den Pressebeobachter
ihm bescheinigt haben, schwindet kontinuierlich. Zu erkennen ist, daß
sich Hochsteins Aussagen "dort, wo es um angebliche eigene
Wahrnehmungen ... geht, grundsätzlich widersprechen." Der
Strafsenat wird später in seiner Urteilsbegründung feststellen,
ihm sei
der nicht zu beseitigende Verdacht entstanden, daß
Hochstein sein Aussageverhalten in der Hauptverhandlung dem Ergebnis der
Beweisaufnahme anpassen wollte, so wie er es aus Presseberichten über
die Bekundungen der Augenzeugen verstanden hatte. Er hat nämlich
eingeräumt, aus der Presse entnommen zu haben, Frau von Drenkmann habe
in der Hauptverhandlung den Angeklagten Reinders als den Todesschützen
identifiziert und nach den Bekundungen der Augenzeugen komme ein Fiat 127
nicht als Fluchtfahrzeug in Frage
Doch so weit ist es noch nicht in jenen ersten Novembertagen 1978. Noch
ist das Gericht bereit, dem Zeugen Hochstein zu glauben. Immerhin kennt
Hochstein Teile der Logistik der "Bewegung 2. Juni"; seine
verschlüsselte Notiz im Adressenbüchlein war nicht erfunden,
sondern hatte sich für die Polizei als brauchbar herausgestellt. Schon
eine Woche nach Beginn der Hochstein- Vernehmung aber legt die Verteidigung
Dokumente vor, die Hochsteins Glaubwürdigkeit den ersten Stoß
versetzen.
Mehrfach hatte Rechtsanwalt Panka in der Vergangenheit beantragt, Akten
aus anderen Verfahren gegen Hochstein sowie Hinweisordner der
Ermittlungsbehörden beizuziehen. "Die Verteidigung kann sich
nicht damit zufrieden geben, daß die Ermittlungsbehörden in
eigener Machtvollkommenheit entscheiden, welche Hinweise brauchbar und
welche unbrauchbar sind", hatte Panka schon am 17. Januar 1978
kritisch festgestellt. Im Beweisantrag vom 26. Oktober 1978 fordert Panka
zum wiederholten Mal Einsicht in eine Reihe von Vorstrafenakten. "Es
versteht sich von selbst", schreibt der Verteidiger verärgert,
"daß der Zeuge Hochstein umfassend nur befragt werden kann, wenn
der Verteidigung der Inhalt der o.a. Akten bekannt ist. Ich verweise
darauf, daß ich bereits vor mehr als neun Monaten den
größten Teil der hier benötigten Akten beizuziehen
beantragt habe."
Panka bekommt die Hochstein-Akten, aber sie sind unvollständig. Es
fehlen zwei Vernehmungsniederschriften vom 17. März 1977 und ein
ursprünglich unter VS-Schutz "Geheim" gestellter
staatsanwaltlicher Vermerk über Vorbesprechungen zwischen Hochstein
und dem Staatsanwalt. Der Vermerk solle weiterhin der Verteidigung
vorenthalten werden, fordert die Bundesanwaltschaft, er enthalte
"keine für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Zeugen
bedeutsamen Ausführungen", heißt es in dem entsprechenden
Schreiben vom 9. November 1978; "Umstände, die Zweifel an dieser
Aussage begründen könnten, sind weder dargetan noch
ersichtlich." Was keineswegs stimmte, denn tatsächlich hätte
der Vermerk der Verteidigung verraten, daß Hochstein schon viel
früher abgesprungen war, nämlich schon im Januar 1976. Gerade das
sollte vertuscht werden.
Eine Woche nach Beginn der Hochstein- Vernehmungen präsentiert die
Verteidigung überraschend zwei in Eigeninitiative recherchierte
medizinische Gutachten über Hochsteins Alkoholmißbrauch. Panka
hatte sich die Unterlagen "selbst besorgt", erklärt er dem
verdutzten Vorsitzenden. In den Akten war nicht zu lesen gewesen, was nun
offenbar wird: "massive Trunksucht" des Zeugen, mit der Folge
"hirnorganischer Ausfallerscheinungen".
Hochstein wird, nachdem er seine Geschichte erzählt hat, innerhalb
von zwanzig Tagen im Block vernommen. Es geht um seine Persönlichkeit,
und um die steht es nicht gut. Mehrere Zeugen, unter ihnen die Gutachter,
charakterisieren ihn als "großsprecherisch und
wankelmütig", Hochstein wird als "Hochstapler"
bezeichnet, er sei "hochgradig alkoholabhängig" gewesen, er
habe in der Vergangenheit "delirante Züge" gezeigt, ihm sei
bis Juli 1974 Sozialhilfe gewährt worden, weil er infolge seines
"chronischen Alkoholabusus" arbeitsunfähig krank gewesen
sei. Der jahrelange Alkoholmißbrauch - es waren
Alkoholkonzentrationen bis zu 3,3 Promille festgestellt worden - verbunden
mit seiner zusätzlichen Medikamentenabhängigkeit
("zeitweilig über 30 Tabletten Distraneurin täglich")
"habe bei Hochstein zu einer schweren physischen und psychischen
Schädigung geführt." Es kommt außerdem heraus,
daß Hochstein stolz auf seine Charakterisierung als "windiger
Zeuge" ist, die ein Richter in einem anderen Verfahren vorgenommen
hatte. 188
In der Hauptverhandlung versucht Reiner Hochstein scheinbar
unbeeindruckt, seinen Giftkonsum herunterzuspielen. Ab und zu habe er
getrunken, aber so schlimm sei es nicht gewesen. Für den Tag der
Festnahme gibt er ein oder höchstens zwei Glas Rotwein zu, die
polizeiliche Blutprobe hatte jedoch eine Konzentration von 2,5
Promille an den Tag gebracht. Hochstein hatte gelogen, wie so oft schon.
Die Verteidigung nennt sein Lügen eine "alkoholbedingte
Verdrängung der Tatsachen".159
Es ist nicht schwer, einen Alhoholabhängigen zum Reden zu bringen.
Man stelle sich einen alkoholisierten Festgenommenen vor, dem Polizisten
den Flachmann aus der Jackentasche nehmen und auf den Tisch des
Vernehmungszimmers stellen. Man stelle sich weiter vor, daß dieser
Festgenommene darum bittet, einen Schluck aus dem Flachmann trinken zu
dürfen, was ihm für die Dauer der Vernehmung verboten
wird. Keine Fiktion, sondern so geschehen am 4. März 1972 auf einer
Hamburger Polizeiwache. Bei dem Festgenommenen handelte es sich um Reiner
Hochstein, der im Laufe der Vernehmung seine beiden Mittäter schwer
belastete und die eigene Tatbeteiligung herunterspielte. Die Dreiergruppe
war damals verdächtigt worden, gemeinschaftlich einen Molotow-Cocktail
gegen ein Strafgebäude in Hamburg geworfen zu haben. Mit Bezug auf ein
ärztliches Gutachten wurde Hochstein am 28. November 1975
freigesprochen. Das Gericht hatte sich der Meinung des Arztes
angeschlossen:
Die Aussicht, vielleicht doch etwas trinken zu dürfen,
stellt bei einem Alkoholabhängigen, wie dem Angeklagten Hochstein,
einen beträchtlichen Anreiz dar, der großen Einfluß auf
seine Aussagebereitschaft gehabt haben könne.
Damit war Hochsteins Misere eindeutig beschrieben. Und außerdem:
War auszuschließen, daß er sich in Berlin in ähnlich
desolater Lage befand?
Stück für Stück wird der Kronzeuge in diesen Tagen von
der Verteidigung demontiert. Aber immer noch ist nicht geklärt, wann
und unter welchen Umständen Hochstein zum Zeugen der Anklage wurde.
Hochstein terminiert auf Nachfragen den Beginn seiner inneren Wandlung vom
sogenannten Stadtguerillero zum Belastungszeugen auf den Mai 1976. Er sagt,
der Tod von Ulrike Meinhof im Mai 1976 habe ihn entscheidend
beeinflußt. In der Untersuchungshaft sei er danach
zu der Überzeugung gelangt, daß der bewaffnete
Kampf kein geeignetes Mittel revolutionärer Politik sei, weil er den
Faschismus in der Bundesrepublik provoziere. Dieser Wandlungsprozeß
sei Anfang 1977 abgeschlossen gewesen und habe dann dazu geführt,
daß er in der Vernehmung durch den Staatsanwalt Müllenbrock am
17. März 1977 erstmalig Angaben zu Namen und Tatkomplexen im
vorliegenden Verfahren gemacht habe.
Das war - guten Gewissens und auf Empfehlung von
Staatsschutzbehörden gelogen. Mit der Vertraulichkeits- Zusage seines
Beschützers Grünhagen wähnte sich Hochstein amtlich
abgesichert.
Verteidigern und Angeklagten ist bekannt, daß das Berliner
Landesamt für Verfassungsschutz über einen Spezialisten für
"besondere Fälle" verfügt. Sein Name ist Michael
Grünhagen - aus dem Fememord-Verfahren gegen die Wolfsburger
Wohngemeinschaft um Ilse Jandt ein Begriff. Grünhagen war es nicht nur
im Vorfeld dieses Verfahrens gelungen, einen, dem die Anklage wegen
Mittäterschaft ins Haus stand, umzudrehen und zur Aussage gegen seine
früheren Freunde zu bewegen: den späteren "Kronzeugen"
des Staatsanwalts, Jürgen Bodeux. Nicht ausgeschlossen ist, daß
Grünhagen sogar von der Tatplanung wußte; möglicherweise
lieferte er der Tätergruppe, der auch der Kronzeuge Bodeux
angehörte, die Munition, jedenfalls nahm er die Waffe nach der Tat vom
V-Mann Weingraber in Verwahrung. Und auch in einem weiteren
spektakulären Fall hatte Grünhagen Material zu seiner
Berühmtheit geliefert: wegen seiner unwahren Behauptung, er und ein
Polizeibeamter seien am Abend des 10. Februar 1971 von dem damaligen
RAF-Mitglied Astrid Proll gezielt beschossen worden, war Astrid Proll acht
Jahre lang von einer Verurteilung wegen Mordversuch bedroht. Der
Verfassungsschützer und der Polizist hatten den falschen Tatvorwurf,
festgehalten in Grünhagens als Beweismittel anerkanntem Vermerk, wider
besseres Wissen in die Welt gesetzt.
Inzwischen gab es mehrere Eigentümlichkeiten, die auf eine diskrete
Kooperation zwischen Hochstein und dem Verfassungsschutz hindeuteten. Da
war als erste der Wechsel des Verteidigers ohne vorherige
Auseinandersetzung, da waren die fehlenden Seiten in einigen Akten, die der
Verteidigung inzwischen überlassen worden waren. Zur Erinnerung:
Staatsanwalt Müllenbrock hatte einige Blätter seines Vermerks
unter "VS-Geheim" gestellt; es handelte sich um zwei Protokolle
von Hochstein- Vernehmungen vom 17.3.77 Aus einer anderen Notiz ergab sich,
daß vier Seiten einer Geheimakte gegen "Fehlblätter"
ausgetauscht worden Waren. Es kam hinzu, daß sich Hochstein acht
Wochen nach dem "offiziellen" Beginn seiner Aussagen seinem
Freund Manfred Adomeit noch als ungebrochener Kämpfer
präsentierte:
dass man in der gefangenschaft das ziel nicht ausm auge
verliert ne erfahrung, die wohl jeder von uns gemacht hat. und da hat
natürlich die isolation ihre funktion desorientierung,
gehirnwäsche -, ne funktion, die man sich permanent bewusst machen
muss, um wirkungsvoll dagegen kämpfen zu können. der punkt ist da
die eigene erfahrung, die erfahrung mit sich selbst -ne sache, die du
natürlich theoretisch nicht im Griff hast, weil: theoretisch haben wir
das ja alle gewußt, was in den knästen auf uns wartet.
Hochstein hatte in der Tat praktische Erfahrungen mit den besonderen
Bedingungen der Einzelhaft für terrorismusverdächtige Gefangene.
Nach seiner Festnahme im Februar 1975 kam er in den B II-Trakt der
Hamburger U-Haft-Anstalt am Holstenglacis. Dorthin, wo die Gefangenen der
terroristischen Szene sitzen. Nach etwa sieben Monaten wurde seine
Isolation schrittweise aufgehoben. Vierzig Minuten am Tag durfte er nun mit
anderen Gefangenen aus dem Umfeld der RAF auf dem Hof umhergehend sprechen.
Doch diese harten Zeiten waren vorbei; Hochsteins Beschreibungen galten
nicht mehr. Kurzum: er hatte gelogen. Vielleicht zur Sicherheit, und damit
Adomeit der revolutionären Gesinnung des vermeintlichen Freundes
gewiß bleibt, hatte Hochstein seinem Brief eine Liste mit
Buchempfehlungen angehängt,
die ich stark gefunden hab + woraus ich ne menge geschnappt
hab:
Frantz Fanon ("Die Verdammten dieser Erde"), Ernesto Che
Guevara ("Ökonomie und Neues Bewußtsein", und
"Guerilla Theorie und Methode") gehören ebenso dazu wie Ho
Tschi Minh ("Revolution und nationaler Befreiungskampf"). Den
Genossen präsentiert sich Hochstein nach wie vor als überzeugter
Revolutionär. Daß Hochsteins Wandlungsprozeß in der Tat
schon viel früher als Anfang 1977 abgeschlossen war, kommt im
Spätsommer 1980 ans Licht.
Anfang Mai 1980 wird in Hamburg Hochsteins Vertrauensperson aus dem
Chinarestaurant kommissarisch vernommen. Was der Zeuge zu Protokoll gibt,
paßt genau ins Bild: Hochstein habe sich in dem Gespräch im
November 1974 "echt abbrechen müssen", daß die Leute
vom "2. Juni" ihn nicht gebrauchen konnten, weil es "bessere
als ihn" gab.
Im gleichen Monat bringt die Zeitschrift "Konkret" einen
Bericht über die Rolle des Verfassungsschutzes im Mordfall Ulrich
Schmücker mit einem Foto von Michael Grünhagen. Der
Verfassungsschützer, dem Hochstein schon im Januar 1976 Rede und
Antwort stand, ist enttarnt. Andreas Vogel erinnert sich, den Mann schon
einmal gesehen zu haben - vor Jahren im Hamburger Polizeipräsidium.
Das war, noch bevor Hochstein mit dem Staatsanwalt zu reden begonnen hatte.
Vogel und Hochstein waren damals am selben Tag zur Vernehmung ins
Präsidium gebracht worden. Es lag nahe, aus dieser Kombination der
Ereignisse die richtigen Schlüsse zu ziehen. Des Rätsels
Lösung lag buchstäblich auf dem Tisch, weiterer Hinweise bedurfte
es nun nicht mehr.
Am 1. August 1980 stellt die Verteidigung den folgenden Beweisantrag. Es
sei der "entscheidende letzte Antrag" gewesen, der den Kronzeugen
unbrauchbar gemacht habe. Rechtsanwalt Panka trägt vor:
In der Strafsache gegen Reinders u.a. wird beantragt, den
Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz, Herrn Michael
Grünhagen, 1000 Berlin 47, Dörchläuchtingstr.. 48, als
Zeugen zu laden und zu vernehmen. Der Zeuge wird bekunden, Reiner Hochstein
habe ihm gegenüber in Kenntnis des Umstandes, daß er - der Zeuge
-für den Verfassungsschutz arbeite, bereits im Jahre 1976 umfangreiche
Angaben hinsichtlich seiner vermeintlichen Kenntnisse über die
Bewegung 2. Juni und ihre Mitglieder gemacht. Die Beweisaufnahme wird
ergeben, daß der Zeuge gelogen hat, als er in der Hauptverhandlung in
diesem Verfahren bekundete, er habe erst im Jahre 1977 begonnen, Aussagen
zu machen. Der Zeuge Grünhagen besitzt keine besondere
schutzwürdige Verfahrensstellung, da seine wahre Identität
allgemein bekannt und daher nicht mehr zu verbergen ist. Abgesehen von dem
öffentlichen Auftreten dieses Zeugen in dem Strafverfahren gegen
Astrid Proll ist die Identität dieses Zeugen auch bekannt, da er
zumindest 1978 und 1979 Elternsprecher der Klasse 3.1 der Fritz- Karsen-
Gesamtschule in 1000 Berlin 47, Onkel-Bräsig-Str. 76, gewesen
ist.
Nicht Michael Grünhagen kommt in die Hauptverhandlung, sondern sein
Chef, der Leiter des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz, Franz
Natusch. Innensenator Peter Ulrich hatte Grünhagen keine
Aussagegenehmigung erteilt. Der Vorsitzende Geus begnügt sich mit der
Auskunft, Grünhagen lebe unter einem anderen Namen außerhalb
Berlins und sei als Beweismittel unerreichbar. Innensenator Ulrich
hält außerdem immer noch einen zehnseitigen Vermerk über
eine Zeugenaussage Grünhagens sowie Notizen über seine
Gespräche mit Hochstein von Anfang 1976 zurück. Auch Natusch
verrät nicht den Inhalt des Vermerks, gibt jedoch immerhin zu,
daß Hochstein bereits Anfang 1976 den Verfassungsschutz
"informiert" hatte. Welche Demütigung für das
Gericht!
Hochstein versteckt sich inzwischen zunehmend hinter angeblichen
Erinnerungslücken; Fragen von Gericht und Verteidigern blieben
entsprechend unbeantwortet. Ihm sei damals Vertraulichkeit zugesichert
worden, wirbt er um Verständnis. Doch warum? Was hatte sich der Zeuge
versprochen? Oder - war ihm etwas versprochen worden? Fragen, auf die es in
der Hauptverhandlung keine Antworten gibt.
Die Verhandlung müsse aufgrund der fortgesetzten
Geheimhaltungsmaßnahmen ausgesetzt werden, fordert RA Harald Reme am
9. und 10. September 1980. Richter Geus droht "verfahrensrechtliche
Konsequenzen" für den Fall an, daß dem Gericht bisher
geheimgehaltenes Material weiter vorenthalten wird. Schließlich
werden acht der gesperrten zehn Seiten freigegeben, und zwar jene, die
Hochsteins Angaben zum Drenkmann-Mord enthalten. Im Vergleich mit der
Müllenbrock- Vernehmung besteht die eklatanteste Abweichung darin,
daß Hochstein in der Grünhagen- Vernehmung Fritz Teufel als
Mittäter genannt hatte.
Der Senat verkündet seinen Beschluß am 200. Verhandlungstag,
dem 19. September 1980. Er beginnt mit der Feststellung, daß der
"Antrag, die Hauptverhandlung auszusetzen, ... unbegründet"
sei, und setzt mit außergewöhnlicher Offenheit fort:
Nach der sehr umfangreichen Beweisaufnahme zur
Glaubwürdigkeit des Zeugen Hochstein bestehen erhebliche Zweifel an
der Richtigkeit seiner Bekundungen. Diese Zweifel beziehen sich sowohl auf
seine allgemeine Glaubwürdigkeit als auch auf einzelne Aussagen im
vorliegenden Verfahren.
Hochstein habe seit seinem 16. Lebensjahr bis zu seiner Festnahme am 26.
Februar 1975 immer wieder im Übermaß Alkohol getrunken, seit
1965 sei er in diesem Zusammenhang ca. 10 mal auch strafrechtlich in
Erscheinung getreten, heißt es weiter.
Seinen Alkoholmißbrauch hat der Zeuge in der
Hauptverhandlung nur zögernd eingeräumt und zu bagatellisieren
versucht. Soweit es den Alkoholgenuß am Tage seiner Festnahme
betrifft, ist seine Bekundung falsch. Er hat hierzu angegeben, lediglich
ein bis zwei Glas Rotwein getrunken zu haben, hatte aber eine
Blutalkoholkonzentration von etwa 2,5 Promille. Einige Zeugen haben ihn
glaubhaft als großsprecherisch und wankelmütig
geschildert.
Im Laufe der mehreren Vernehmungen im Ermittlungsverfahren
hat der Zeuge Hochstein seine Angaben in zwei wesentlichen Punkten
geändert. Er hatte zunächst den Entschluß der Beteiligten,
einen Richter zu töten, sowie seinen eigenen Ausschluß von der
Aktion durch einen Münzwurf verschwiegen. Erst in einer späteren
Vernehmung im Ermittlungsverfahren hat er diese beiden Tatsachen bekundet
und in der Hauptverhandlung wiederholt.
In der Hauptverhandlung hat der Zeuge in drei wichtigen
Punkten, nämlich zu den Fragen, ob nach dem Bericht des Angeklagten
Vogel der Angeklagte Reinders die tödlichen Schüsse abgegeben
hat, ob Vogel selbst der Blumenbote war und ob die Täter vom Tatort in
einem Fiat 127 geflohen sind, seine früheren Aussagen abgeändert.
Hierdurch ist der nicht zu beseitigende Verdacht entstanden, daß
Hochstein sein Aussageverhalten in der Hauptverhandlung dem Ergebnis der
Beweisaufnahme anpassen wollte, so wie er es aus Presseberichten über
die Bekundungen der Augenzeugen verstanden hatte.
Auch den Ausführungen zu Hochsteins Wandlungsprozeß schenkt
der Senat keinen Glauben mehr.
Im Widerspruch hierzu (dem Beginn der Wandlung mit Ulrike
Meinhofs Tod, M.O.) hat er in der Hauptverhandlung nach Vorhalt der
Bekundungen des Zeugen Natusch am 5. September 1980 ein geräumt,
daß er bereits Ende Januar/ Anfang Februar 1976 gegenüber
Mitarbeitern des Landesamtes für Verfassungsschutz in bis zu sechs
mehrstündigen Gesprächen umfassende Angaben auch zum Tatkomplex
von Drenkmann gemacht habe. Damit steht fest, daß seine Darstellung
über den zeitlichen Ablauf seines Wandlungsprozesses und den damit
verbundenen Entschluß, umfassend auszusagen, falsch ist. Hierdurch
entstehen schwerwiegende Zweifel, ob das von ihm für seine
Aussagebereitschaft angeführte Motiv richtig ist.
Dieser Zweifel kann nicht durch die Erklärung des
Zeugen Hochstein ausgeräumt werden, er habe gemeint, seine Angaben
gegenüber dem Landesamt für Verfassungsschutz- dienten nur
operativen Zwecken und würden vertraulich behandelt; denn auch
für die Offenbarung zu diesem Zweck hat der Zeuge ein
verständliches Motiv nicht angeben können.
Der Verdacht, daß der Zeuge Hochstein das wahre Motiv
nicht oder zumindest nicht vollständig angegeben hat, wird auch
dadurch noch verstärkt, daß er am 5. September 1980 bei seiner
Vernehmung in der Hauptverhandlung ohne ersichtlichen Grund darauf bestand,
daß alle seine Angaben vor dem Landesamt für Verfassungsschutz
vertraulich behandelt würden. Erst nach einer Rücksprache mit
einem unbekannten Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz
fand er sich am 12. September 1980 dazu bereit, auf den Schutz der
Vertraulichkeit zu verzichten, soweit es seine Angaben über den
Drenkmann- Komplex betrifft. Nach wie vor aber bleibt es undurchsichtig,
warum er nicht in vollem Umfang auf die Wahrung der Vertraulichkeit
verzichtet hat. Er hat nämlich in der Hauptverhandlung in mehreren
ganztägigen Vernehmungen erschöpfend über seinen gesamten
Werdegang, insbesondere auch zu seinen Verbindungen mit politischen,
anarchistischen und terroristischen Kreisen in Bonn, Hamburg, Bremen und
Berlin ausgesagt. Deshalb kann aus seiner Sicht ein Interesse an der
Geheimhaltung auch diese>- Teile seiner Angaben ebenfalls nicht mehr
bestehen, wenn er in der Hauptverhandlung vollständig und richtig
ausgesagt hat. Die von ihm gegebene Erklärung, er wolle verhindern,
daß Widersprüche konstruiert würden und daß er
diffamiert werde, überzeugt nicht. (...)
Die unwahren Angaben zum Wandlungsprozeß, das Fehlen
eines einleuchtenden Grundes für die Offenbarung vor dem
Verfassungsschutz schon Anfang 1976 und das undurchsichtige Verhalten beim
teilweisen Verzicht auf die Wahrung der Vertraulichkeit legen letztlich
auch die Annahme nahe, daß dem Zeugen Hochstein irgendwelche Zusagen
gemacht worden sind, um seine Aussagebereitschaft zu wecken. Zwar
liege" keine Anhaltspunkte dafür vor, daß solche Zusagen
gegen §136 a StPO verstoßen haben könnten. Gleichwohl
würde auch dadurch die Glaubwürdigkeit des Zeugen erheblich
beeinträchtigt werden, denn er hat auf ausdrückliches Befragen
mehrfach beteuert, ihm seien gar keine Zusagen gemacht worden.
Weiterer Beweise bedürfe es nicht, denn
aus den oben.. dargelegten Gründen (vermag der Senat)
auf die Bekundung des Zeugen Hochstein eine Verurteilung in keiner Weise zu
stützen.
Diese souveräne Entscheidung, mit der der Senat den
Hauptbelastungszeugen für wertlos erklärte, sucht in
Terroristenprozessen ihresgleichen. Die Bundesanwaltschaft war an einen
Vorsitzenden Richter geraten, dem eine unabhängige Rechtsprechung mehr
galt als die unbedingte Verurteilung. Dem Beschluß folgte ein
kläglicher Einspruch der Bundesanwaltschaft. Die Anklagebehörde
halte "den Zeugen Hochstein mit gewissen Einschränkungen nach wie
vor für glaubwürdig... Auch wenn dieser 'hin und wieder mal
geflunkert' habe, sei dies kein Grund, ihn als Zeugen 'in Bausch
und Bogen abzulehnen'."
Till Meyer:
Gegen Ende der Prozesses, als der Gerichtsbeschluß zu
Hochstein kam, da haben wir gemerkt, daß wir an einen Vorsitzenden
geraten waren, der anders war. Für uns ging es immer darum, das
sogenannte rechtsstaatliche Ritual zu zerstören und zu beweisen,
daß da überhaupt nichts rechtens ist, daß sie nicht einmal
ihrem eigenen Anspruch gerecht werden. Natürlich war da auch ein
Haufen moralisierender- Krempel bei, sag ich im Nachhinein. Aber für
uns war der Gegner diese Justiz, die instrumentalisiert ist,
revolutionäre Kämpfer zu vernichten. Für uns war es wichtig,
sie immer wieder vorzuführen, zu zeigen, die sind so, wie wir es
politisch behaupten. Sie wollen uns um jeden Preis als politische Gegner
fertig machen und verurteilen. Die Frage: schuldig oder unschuldig, stand
für uns nicht im Mittelpunkt. Für uns stand im Mittelpunkt, zu
beweisen, daß Rechtstaatlichkeit gegenüber dem politischen
Gegner überhaupt nicht mehr gefragt ist, gar nicht mehr angewandt
wird. Wir sind vollkommen zusammen gebrochen letztendlich, zu unserem
Glück, und dank Geus. Doch die Differenzierung, die kam erst sehr viel
später, die kam erst während der Hochstein- Vernehmungen. Da
waren wir untereinander aber schon zerstritten und haben nichts mehr
gemeinsam gemacht. Das kam erst wieder im Trakt zustande. Im Trakt haben
wir uns wieder ausgetauscht. Ganz zum Schluß konnte ich auch mit Ralf
und Ronald mal darüber reden, wie es gelaufen ist mit Geus.
Anfang 1981 wird Reiner Hochstein vorzeitig aus der Haft entlassen
werden, vom Berliner Landesamt für Verfassungsschutz mit einem
Startkapitel von DM 6.300,- ausgestattet. Hochstein, dem aufschneidenden
Unglückswurm, ist für seinen Dilettantismus zu danken, der einen
Einblick in die Machtbesessenheit des Geheimdienstes zuließ. Da
wollte man - nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal - ein Gericht am
kurzen Band führen, da sollte Rechtsprechung manipuliert werden, da
hatte ein geheimes Amt schon längst entschieden, wer Täter zu
sein hat - doch alle schönen Techniken führten in diesem Fall
einmal nicht zum Ziel. Das Gericht sprach alle sechs Angeklagten vom
Vorwurf des Drenkmann- Mordes frei.
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