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VSA-Verlag, Stresemannstr. 384a, 2000 Hamburg 50, ISBN
3-87975-575-2
8. Kollaboration mit der Staatsgewalt als Kriterium der Freund- Feind-
Unterscheidung
Ein Beitrag zum Kronzeugen- Syndrom
Pflichterfüllung im Dienste des Staates bietet in Deutschland
systemüberdauernden Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung oder
sichert mindestens wohlwollende und milde Beurteilung strafbaren Tuns. Der
Staat kann ein Verbrecher- Syndikat gewesen sein, ohne daß sich an
dieser Einschätzung etwas ändert eine obrigkeitsfreundliche
Moral, die sich zwanglos mit christlichen Grundsätzen verbinden
läßt (Römer 13.1: "Jedermann sei untertan der
Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne
von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet"). Eine
Erklärung für die Renaissance christlicher Parteien nach
Auschwitz? Wie auch immer, dem Heer der Massenmordgehilfen Hitlers war
diese Moral nützlich, weil sie die Akzeptanz ihrer Freisprüche
und kalten Amnestien sicherte. Keinerlei moralische Bedenken hinderten die
Staatslenker des "freien Westens", Nazi- Verbrecher, die an den
faschistischen Massenmorden aktiv beteiligt waren, als Gehilfen für
den antikommunistischen Kreuzzug zu reaktivieren. Widerspruchslos duldete
die schweigende Mehrheit einer kollektiv- schuldigen Generation, daß
gesellschaftliche Machtpositionen in diesem Land erneut von Leuten besetzt
wurden, die zuvor einem Verbrecher- Staat gedient hatten. Das galt für
die Polizeiführung, für den "Verfassungsschutz",
für Justiz, Verwaltung und Politik. Und noch immer ist Dienstleistung
für den Staat - wohlgemerkt: für jeden, wie auch immer gearteten
kapitalistischen Staat - ein guter Ausweis für Verwendbarkeit auch in
einem nunmehr als "freiheitlich- demokratisch" bezeichneten
Deutschland. Warum übrigens nicht auch Stasi- Experten als neue
Gehilfen im Kampf gegen "Terroristen"? Der Sicherheits- und
Überwachungsstaat ist bei der Wahl seiner Freunde nicht pingelig.
Neben den Staatsfreunden, die schon immer welche waren und sich bei
Gründung der Bundesrepublik Deutschland als neugeborene Demokraten
wiederfanden, gibt es auch solche, die erst durch Zuwahl das Recht erworben
haben, der Justiz als Staatsfreund vorgestellt zu werden. Man könnte
die einen als geborene, die anderen als gekorene Staatsfreunde bezeichnen.
Mit den letzteren sind gewesene Staatsfeinde gemeint, die als
Kollaborateure auserkoren und der Staatsgewalt nützlich geworden
sind.
Für unser Thema interessiert vor allem eine Kategorie gekorener
Staatsfreunde, die unter dem Namen "Kronzeugen" nun auch Eingang
in die Gesetzessprache gefunden hat. Es handelt sich um jene Opfer der
Staatsgewalt, die um den Preis
der Kollaboration von dem Angebot (partiellen) Verzichts auf die
Anwendung des Strafrechts Gebrauch gemacht haben. Ein Angebot, das auf der
doppelten Moral obrigkeitsstaatlichen Denkens fußt und durch die
kalten Amnestien für Nazi- Verbrecher gut eingeführt ist. Man hat
sich in diesem Land daran gewöhnt, daß selbst die Beteiligung an
Morden kein Hinderungsgrund ist, in den Kreis der Staatsfreunde aufgenommen
zu werden. Andererseits steht auf Verweigerung der Zusammenarbeit mit den
Herren der Wahrheitsfindung Lebenslänglich.
Mit der Wahl zwischen Feindprozeß und Freundprozeß steht den
Betreibern Politischer Justiz ein ungeheures Erpressungspotential zur
Verfügung. Zeigte man früher, als die Ketzer- Inquisition ihre
Opfer brauchte, die Folterwerkzeuge vor, um die Macht der Ermittler zu
demonstrieren und der als Hexe beschuldigten Frau die Vorteile eines
"freiwilligen" Geständnisses vor Augen zu führen, so
ist es heute der diskrete Hinweis auf die in der freien richterlichen
Beweiswürdigung verborgenen Möglichkeiten, aus den vorliegenden
Beweismitteln diese oder jene Schlüsse zu ziehen. Die Fingerspur an
einem zur Entführung eines Menschen vorgesehenen Auto kann von einem
Beschuldigten stammen, der dabei war, als die Tat ausgeführt oder
vorbereitet wurde, sie kann auch von einem stammen, der zu anderer Zeit mit
dem Fahrzeug zu tun hatte und nichts von der geplanten Tat wußte.
Noch ein paar flankierende Beweismittel, etwa ein Zeuge, der den
Beschuldigten oft in Begleitung der Bandenchefin gesehen haben will, und
ihm wird nachgesagt, daß er ein "wichtiges Mitglied"
gewesen sei und besonders engagiert die Politik des bewaffneten Kampfes
vertreten habe (Boock- Urteil, 5. 158), und es reicht zu dem Rat des
väterlich- verständnisvollen Vernehmers: "Helfen Sie uns,
die Sache aufzuklären, sonst müssen Sie mit einer Anklage nach
Lage der Akten rechnen." Und der Gefangene, noch unter dem Schock des
Verlustes seiner Freiheit und durch die Zelleneinsamkeit ausgehungert nach
menschlicher Kommunikation, hört das rettende Angebot zur
Kollaboration mit der Staatsgewalt heraus, aber auch die versteckte
Drohung.
Bekanntlich hat jeder, der einer Straftat verdächtigt wird, das
Recht zu schweigen. Nicht erst als Angeklagter, sondern schon zum Zeitpunkt
seiner ersten polizeilichen Vernehmung. Auf dieses Recht ist er
ausdrücklich hinzuweisen (§§ 136, 163a StPO). Aber den
Interessen der ermittelnden und der judizierenden Staatsgewalt ist mit
einem sprechenden Angeklagten mehr gedient. Denn nichts fördert die
Aufklärung des Sachverhalts und die Urteilsfällung schneller und
bequemer als ein umfassendes Geständnis des Beschuldigten, das
womöglich nicht nur den eigenen Tatbeitrag betrifft, sondern
Ansatzpunkte für weitere Ermittlungen gegen andere Personen bietet.
Aus der Sicht von Polizei und Justiz ist der aussagefreudige Beschuldigte
oder Angeklagte also allemal nützlicher und sympathischer als der
schweigende oder leugnende.
Die justizielle Tradition, Beschuldigte zum Sprechen zu bringen, reicht
weit zurück. Aber die schamlose Belohnung des Kollaborateurs,
nämlich die geschwinde Umwidmung von Feinden in Justizfreunde und der
partielle Verzicht auf Strafe, ist eine Errungenschaft neuester Zeit.
Das mittelalterliche Feindprozeßrecht hatte dem zum
Geständnis genötigten Justizopfer nur das Ende der Folter und
manchmal eine mildere Todesart zu bieten.
Bei Geständnissen wurden vielfach die Angeklagten im
Gnadenwege zuerst erdrosselt, sodann wurde ihre Leiche verbrannt. Bei
Leugnen wurde dagegen der oder die Angeklagte lebendig verbrannt.
Immerhin reichte die Angst vor einer Fortsetzung der Folter oder die
Vergünstigung, nicht lebendig verbrannt sondern nur erdrosselt zu
werden, häufig genug aus, die Beschuldigten zu den unsinnigsten
Geständnissen und Anschuldigungen zu veranlassen. Schon damals war die
Herbeiführung der Denunziation weiterer Ketzer das wichtigste Anliegen
der Vernehmer, die sich nicht mit dem Schuldbekenntnis des von ihnen
gequälten Menschen begnügten.
Henry Charles Lea berichtet, daß das Geständnis im
mittelalterlichen Inquisitionsprozeß in der Regel von dem
Bekenntnisse der Bekehrung und Reue begleitet gewesen sei.
Auf diese Weise wurde nicht nur dem Teufel eine Seele
entrissen, sondern der Neubekehrte war auch verpflichtet, seine
Aufrichtigkeit dadurch zu beweisen, daß er alle, von denen er
wußte oder vermutete, daß sie Ketzer seien, dem Inquisitor
anzeigte und so der Verfolgung neue Bahnen eröffnete.
Das Geständnis war nur ausreichend, wenn die Namen der
Mitschuldigen genannt wurden.
Wer in die Fänge der Inquisition geraten war - und dafür
genügte die Verdächtigung durch einen mißgünstigen
Nachbarn - konnte ihr nicht mehr entrinnen. Die Folter brachte die Opfer zu
Phantasiegeständnissen, und wer nach dem Ende der Folter widerrief,
konnte wenigstens wegen falschen Zeugnisses lebenslänglich
eingekerkert werden. Selbst der in seltenen Fällen mögliche
Gegenbeweis konnte die verkehrte Wahrheit der Hexenrichter nicht auf die
Füße stellen. Fritz Bauer schildert folgenden Fall:
Einige Frauen zu Lindheim gestanden, auf dem Friedhof ein
Kind ausgegraben und - wie den "Hexen" häufig unterstellt
wurde - zu einem Hexenbrei verwandelt zu haben. Der Mann einer dieser
Frauen setzte es durch, daß das Grab des Kindes geöffnet wurde.
Der Pfarrer und viele Zeugen waren zugegen. Das Kind lag unversehrt in
seinem Sarg. Der Inquisitionsrichter erklärte das tote Kind in seinem
Sarg far eine Gaukelei des Teufels. Die Frauen wurden, da ihr
Geständnis mehr bedeutete als der Augenschein, als "Hexen"
verbrannt.
Man brauchte "Hexen".
Daß die erfolterten Geständnisse und Beschuldigungen, die
sich meist auf unzüchtigen Umgang mit dem Teufel bezogen, nichts mit
der Wahrheit zu tun hatten, ist uns Heutigen nicht verborgen. Aber damals
erfüllten sie ihren Zweck. Der definierte Feind war gefunden und
überführt, die Unverbrüchlichkeit des Rechts bestätigt,
der Hexenglaube gefestigt und die Angst erneuert. Und die Exekutoren des
Rechts hatten ein um das andere Mal ihre Unentbehrlichkeit gezeigt und
erlebt.
Staatliche Ermittler haben schon immer das Erfolgserlebnis gebraucht,
Menschen zum Sprechen zu bringen und sie damit zu Gehilfen der Staatsgewalt
zu
machen. Ihre größte Niederlage war seit jeher der schweigende
oder hartnäckig leugnende Angeklagte, von welcher Sorte es auch zur
Zeit der Daumenschrauben und spanischen Stiefel einige wenige gegeben hat.
Ihre Unbeugsamkeit aber brachte ihnen in der Regel nur eine
Verstärkung des Verdachts ein, mit dem Teufel im Bunde zu stehen.
Doch lassen wir diese historischen Reminiszenzen. Den heutigen
Wahrheitssuchern stehen humanere Foltermethoden zur Verfügung.
Nicht die barbarische Alternative Verbrennen oder Erdrosseln haben sie
zu bieten, sondern die sehr viel attraktivere Wahl zwischen
Lebenslänglich und einer zeitigen Freiheitsstrafe. Kein nennenswerter
Zivilisationsfortschritt seit den Tagen der Hexenprozesse, da die
Massivität der Nötigung eher zugenommen hat. Daß damit ein
die Ablegung des Hexenglaubens übersteigender Zugewinn an
Wahrheitsfindung verbunden sei, wird man füglich bezweifeln
dürfen. Indessen will ich die Frage des Beweiswertes von
Kronzeugenaussagen an dieser Stelle ausklammern und mich nur der Frage
ihres Zustandekommens widmen.
Die begrenzte Widerstandskraft des Menschen gegen Vernehmungsversuche
ist in neuerer Zeit vielfach untersucht worden. Dabei hat es sich als
Irrtum herausgestellt, daß allein mit
"Charakterstärke" einer als lebensbedrohend empfundenen
Belastung widerstanden werden könne. So ist nach dem Koreakrieg der
"Verhaltenskodex für Mitglieder der US-Streitkräfte"
geändert worden, um der Tatsache Rechnung zu tragen, daß in der
Vergangenheit fast alle Kriegsgefangenen trotz gegenteiliger Befehle ihren
Befragern Informationen preisgegeben batten. Es hatte sich herausgestellt,
daß schon mit der Angabe von Name, Rang und Geburtsdatum die
"erste Widerstandslinie durchbrochen" und der Gefangene folgenden
Verhören nicht mehr gewachsen war.
Es lag in der Konsequenz dieser Erfahrungen, daß Angehörige
der RAF bei ihrer Festnahme auch Angaben zu ihrer Person verweigerten. Mit
welchen Methoden die Staatsgewalt auf diese Verweigerung von Zusammenarbeit
reagierte, möchte ich am Beispiel meiner damaligen Mandantin Ulrike
Meinhof veranschaulichen.
Frau Meinhof wurde am 15. Juni 1972 in Hannover- Langenhagen
festgenommen. Da sie Angaben zu ihrer Person verweigerte, wurde sie unter
dem Vorwand der Identitätsfeststellung folgenden Maßnahmen
unterworfen:
Zunächst versuchte die Polizei, ihr gewaltsam Fingerabdrücke
abzunehmen. Dieser Versuch scheiterte an ihrer heftigen Gegenwehr.
Daraufhin drohten die Polizeibeamten, man werde ihr eine Äthernarkose
geben und sodann die Fingerabdrücke abnehmen. Ulrike Meinhof
protestierte gegen diese Absicht und verwies darauf daß eine solche
Narkose für sie lebensgefährlich sei. Trotzdem wurden ernstliche
Vorbereitungen zur Durchführung einer Äthernarkose getroffen, so
daß sich meine Mandantin schließlich nach mehreren Stunden aus
Angst vor dieser lebensgefährlichen Maßnahme nötigen
ließ, ihre Fingerabdrücke nehmen zu lassen.
Damit nicht genug: Die Beamten hielten zum Zwecke der Identifizierung
auch noch die Besichtigung einer Kaiserschnittnarbe für erforderlich.
Frau Meinhof wurde gegen ihren Willen gewaltsam entkleidet und mit beiden
Händen an einen Bettpfosten gefesselt. Sodann wurde ihre
Kaiserschnittnarbe besichtigt - eine zur Identifizierung sicher nicht nur
unnötige, sondern auch ungeeignete Amtshandlung, die einen
unerhörten. schweren Eingriff in das Persönlichkeitsrecht einer
Frau darstellt und selbst bei Unterstellung einer unsadistischen Motivation
den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erheblich verletzt.
Und immer noch nicht genug der Identifizierungsmaßnahmen: Frau
Meinhof wurde, wiederum gefesselt, dazu gezwungen, eine
Röntgenaufnahme ihres Schädels zu erdulden. Zu
erkennungsdienstlichen Zwecken (§ 81 b StPO) war diese Maßnahme
schon deshalb nicht notwendig, weil zu diesem Zeitpunkt bereits zwei andere
angeblich der Identifizierung dienende Maßnahmen durchgeführt
waren. Außerdem bedeutete die Röntgenaufnahme des Schädels
einen gesundheitsgefährdenden Eingriff der in keinem angemessenen
Verhältnis zu dem behaupteten Zweck stand.
Die mit der Feststellung der Identität begründeten
Quälereien dauerten mehrere Stunden, bis tief in die Nacht, obwohl
Frau Meinhof schon zum Zeitpunkt ihrer Festnahme erschöpft gewirkt
haben soll. Der Wunsch der Festgenommenen, einen Anwalt zu sprechen, wurde
ignoriert, eine Benachrichtigung des Anwalts unterblieb. Sie hätte die
Mißhandlungen entbehrlich gemacht, weil ein Verteidiger zweifellos
geraten hätte, Angaben zur Person zu machen. Es ging aber
offensichtlich weniger darum, Ulrike Meinhof zu identifizieren, als darum,
die Zeit, in der sie den Ausübern der Staatsgewalt ohne anwaltlichen
Beistand ausgeliefert war, so lange wie möglich auszudehnen und sie
durch entwürdigende Behandlung zu zermürben. Noch am Tage der
Festnahme wurde mein Versuch, mich aufgrund einer bereits früher
erteilten Vollmacht um Ulrike Meinhof zu kümmern, von der
Bundesanwaltschaft und der Sicherungsgruppe des Bundeskriminalamtes mit der
Begründung verhindert, die Festgenommene sei noch nicht sicher
identifiziert. In weiteren Telefonaten zweifelte man meine Vollmacht an,
weil diese schon zwei Jahre alt sei und Frau Meinhof nach einem Anwalt am
Ort ihrer Festnahme gefragt habe. Später erfuhr ich, daß auch
dieser Anwalt nicht benachrichtigt worden war.
Erst am Sonntag, den 18. Juni 1972, drei Tage nach der Festnahme,
ließ mich die Bundesanwaltschaft telefonisch wissen, Frau Meinhof
habe auf Befragen erklärt, daß sie weiterhin von mir verteidigt
sein wolle. Gleichzeitig sagte man mir, daß in der Kölner
Haftanstalt, wohin sie inzwischen verbracht worden war, Anwaltsbesuche am
Sonntag nicht möglich seien, so daß Ulrike Meinhof erst am
vierten Tag nach ihrer Festnahme den ersten Verteidigerbesuch hatte. Vier
Tage und vier Nächte war sie dem Festnahmeschock und den brutalen
Akten der Staatsgewalt ausgesetzt, ohne daß ihr gesetzlich und
verfassungsrechtlich verbürgter Anspruch, sich in jeder Lage des
Verfahrens des Beistands eines Verteidigers zu bedienen (*137 StPO),
durchsetzbar war. Feindrecht geht vor Verfassungsrecht. Die
Mißachtung des Rechts auf faires Verfahren, als dessen Bestandteil
der
Anspruch auf jederzeitigen Beistand eines Verteidigers nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gilt, begann bereits am Tage
der Festnahme.
Ein anderer Mandant, der bei seiner Festnahme durch zwei Schüsse
schwerverletzte Arzt Karl Heinz Roth, berichtete über folgende
Erfahrung mit der Staatsgewalt:
Am nachhaltigsten hatte ich mit MEK- Leuten aus Bochum zu
tun. Ich lag nach der Darmoperation vom 6. August 75 acht Tage lang auf der
Intensivabteilung der Bochumer Unfallklinik. Meine Situation war
verzweifelt. Die Uberlebensreserven waren dahin.
Roth schildert die Aufwachphase nach der Narkose und fährt dann
fort:
Die MEK- Beamten, die am Eingang standen, bemerkten mein
Wiedererwachen, der Raum füllte sich mit bewaffneten Zivilen. Einer
beugte sich über mich. Frage: "Warum haben Sie geschossen?"
Ich antwortete, er solle sich woanders erkundigen, Landeskriminalamt oder
sonstwo, ich selber bräuchte Ruhe. Das Aufgebot wurde immer dichter,
bunter. Wechselnde Bilder von MEKs und politischen Polizisten in allen nur
denkbaren Positionen, mit medizinischem Personal durchmischt. Dann kam ein
zweiter Verhörversuch, vorbereitet durch den Abbruch des bisherigen
Stimmengewirrs. "Wissen Sie, wir haben ihre Bewachung verstärken
müssen. Es wurde ein Telefongespräch abgefangen in Flensburg,
eine Untergrundgruppe will Sie liquidieren. Sie wissen zuviel. Warum haben
Sie geschossen?"
Sein politisches Bewußtsein und das Wissen nm die Skrupellosigkeit
der Verüber von Staatsgewalt versetzten Karl Heinz Roth in die Lage,
diesen Angriff auf seine Widerstandskraft auch im Zustand
äußerster Erschöpfung und noch unter Narkosewirkung stehend
abzuwehren. Nachforschungen seines damaligen Anwalts, der erst nach
heftigen Auseinandersetzungen zu ihm durchgelassen wurde, ergaben:
Die Legende vom ab gehörten Gespräch in Flensburg
wurde ihm vom Leiter der politischen
Polizei in Flensburg ausdrücklich bestätigt, während die
Bundesanwaltschaft dementierte.
MEK und politische Polizei Bochum hatten auf eigene Faust auf das
Verhör in derAufwachphase gesetzt. Sie hatten meinen Zusammenbruch
betrieben, um sich mit irgendwelchen
Aussagen zu schmücken.
Die plumpe Brutalität von Staatsgewalt, der Ulrike Meinhof und Karl
Heinz Roth ausgesetzt waren, sagt etwas über die Affekte aus, die
durch Feinderklärungen aufgebaut und bei deren Vollstreckung ausgelebt
werden. Sie kann aber auch Bestandteil einer Strategie sein, die durch ein
Wechselbad von aggressiver und sanfter Gewalt Kollaborationsbereitschaft
herbeizuführen sucht. Indem von amnesty international herausgegebenen
Buch "Die Psychologie der Folter" von Gustav Keller wird diese
Interaktionstechnik so beschrieben:
Die Folterer verhalten sich gegenüber dem Folteropfer
nicht einheitlich. Sie inszenieren ihre Sozialbeziehungen zum Folteropfer
nach einem bestimmten Drehbuch. Ein Teil des Folterteams übernimmt die
Rolle des aggressiven Folterers. Sie verhalten sich ausgesprochen
aggressiv. Sie quälen den Gefangenen physisch oder desorientieren ihn
bewußt. (...)
Hat die von den aggressiven Folterern induzierte Angst den gewünschten
Pegel erreicht, tritt ein anderer Folterer in die Szene ein. Er interagiert
auf die entgegengesetzte Art und Weise. Er spielt die Rolle des
verständnisvollen, väterlichen und freundlichen Befragers. Der
Gefangene erhält seit seiner Verhaftung zum erstenmal wieder
Gelegenheit, eine "menschliche" Sozialbeziehung eingehen zu
können.
Durchschaut der Gefangene dieses szenische Arrangement nicht, gerät er
unweigerlich in die Falle. Der "verständnisvolle" und
vermeintlich friedliche Befrager nutzt diese Sozialbeziehung zugunsten der
Folterinstitutionen aus. Er entlockt dem Gefangenen Informationen, die
dieser bisher trotz physischer Malträtierungen hat zurückhalten
können. Der "verständnisvolle" Befrager signalisiert
dem Gefangenen allerdings auch deutlich, daß er selbst Schuld sei,
wenn im Falle einer Verweigerung der Kooperation das alte, aggressive
Interaktionsklima wiederkehren sollte.
In der Arbeitsteilung des Folterteams drückt sich oft auch die
soziale Teilung des Folterpersonals aus. Den Part des aggressiven Folterers
spielen einfache Vollzugsbeamte und Soldaten. Den Part des
Verständnisvollen übernimmt der white- collar- Folterer. Hierzu
zählen Ärzte und vermutlich auch Psychologen. Da die
Häftlinge eher den gehobenen Sozialschichten entstammen, sollen die
beruflichen und sozialen Merkmale der white- collar -Folterer den Einstieg
in die "verständnisvolle" Interaktion erleichtern helfen. In
einer Situation extremer Angst und Desorientierung ist der Gefangene
geneigt, jede Identifizierungsmöglichkeit zu nutzen. Und zu diesen
zählen schon Anzeichen gemeinsamer Herkunft, Sprache oder Bildung.
Auch wenn manche Gefangene das Drehbuch dieses
lnteraktionsspiels von vornherein enttarnen konnten, gab es doch andere,
die von den Freundlichkeiten und Identfikationsmöglichkeiten des
"verständnisvollen" Befragers Gebrauch machten.
Die Tradition dieser arbeitsteiligen lnteraktionstechnik ist alt. Bei
Soldan-Heppe, "Geschichte der Hexenprozesse", finden wir den
ausführlichen protokollarischen Bericht über die entsetzliche
Folterung der Frau Enneke Fürsteners zu Coesfeld am 31. Oktober 1724
durch den Untersuchungsrichter Dr. Gogravius:
Nachdem die Angeklagte vergebens zum. gütlichen
Bekenntnis aufgefordert war, ließ Dr. Gogravius ihr den Befehl der
Tortur publizieren, und führte ihr demnächst ernstlich zu
Gemüte, daß sie den Umständen nach und nach Lage der Dinge
schuldig sein müsse und sich keineswegs werde reinwaschen können.
Sie möchte darum lieber die Wahrheit gestehen, als daß sie sich
selbst, weil die peinliche Frage sie ja doch zum Bekenntnis bringen werde,
die Strafe verdoppele."
Da die Beschuldigte den ihr vorgeworfenen Teufelspakt leugnete, schritt
man zur Folter. Vom Zeigen der Folterwerkzeuge bis zum fünften Grad
der Tortur wurden über Stunden die abscheulichsten Quälereien an
der unglücklichen Frau verübt, ohne daß diese davon
abgebracht werden konnte, unter Anrufung Gottes immer wieder ihre Unschuld
zu beteuern. Schließlich befahl Dr. Gogravius, da nach Ansicht des
Folterknechts die peinlich Befragte die Folterung nicht länger werde
ausstehen können, ihr die ausgerenkten Glieder wieder einzusetzen und
sie bis zu ihrer völligen Genesung zu verpflegen.
Nach dem Protokoll vom folgenden Tage ging der
Scharfrichter zu der Unglücklichen ins Gefängnis, um sie zu
verbinden und "redete ihr bei dieser Gelegenheit zu und führte
ihr zu Gemüte, daß sie die gestern überstandene Tortur
nicht hätte überstehen können, es wäre denn, daß
sie einen Vertrag mit dem Teufel hätte". Worauf sie geantwortet,
daß sie mit dem Teufel nichts zu schaffen habe, sondern sie habe nur
die heilige Mutter Gottes angerufen, daß diese sie auf der Folter
stärken möge, und mit deren Hilfe hätte sie die Schmerzen
überstanden.
Und dann, wenn der Leser schon hofft, hier einen der ganz seltenen
Fälle dokumentiert zu finden, wo eine als Hexe verdächtigte Frau
die Inquisition überlebt hat, folgt ein ernüchternder
Schlußsatz, der den Sieg des verständnisvollen Folterers
meldet:
Nichtsdestoweniger brachte der Schafrichter das bis dahin
so starke Weib "durch gütiges Zureden" zum
Geständnis.
Die Kombination von aggressiver und sanfter Gewalt gehört zu den
ewigen Krankheiten des Rechts, die sich seit den Tagen der Hexeninquisition
bis in unsere Zeit fortgeerbt haben. Kein Zufall also, daß auch bei
Karl Heinz Roth eines Tages ein Abgesandter der white- collar- Fraktion der
Staatsgewalt erschien und ihm das Angebot unterbreitete, durch
Kollaboration mit der Staatsgewalt einer Mordanklage zu entgehen.
Am 18.September 1975 wurde Roth von Bundesanwalt Wahl zu einem
Vernehmungsversuch in der JVA Köln-Ossendorf aufgesucht. Wie
üblich war eine vorherige Benachrichtigung des Verteidigers entgegen
§§ 163a Abs. 3, 168 c Abs.1 und 5 StPO unterblieben. Wäre
Roth auf das Angebot eingegangen, hätte sich die Umgehung des
Verteidigers, wie dies aus anderen Fällen bekannt ist, mit einem
angeblich von ihm geäußerten Wunsch begründen lassen. Herr
Wahl fragte, ob Roth bereit sei, mit ihm zu sprechen. Später beschrieb
Roth die Situation:
ich überlegte schnell, ob ich darauf eingehen solle.
Auf anwaltlichen Rat und aufgrund der skandalösen Verfälschung
der Ereignisse vom 9. Mai /975 durch Polizei und Presse war ich
entschlossen, bis zum Prozeß zu schweigen. Ich ließ mich
gleichwohl in die Besucherzelle führen, weil ich mir vom Gespräch
eine zumindest zeitweilige Erleichterung der Haftbedingungen und
Informationen über die Prozeßstrategie der Bundesanwaltschaft
erhoffte.
Den Verlauf des Gesprächs schildert Roth so:
Wahl fragte zunächst nach meinem Zustand. Ich
erklärte ihm, daß nach der neuerlichen Darmoperation das in
Ossendorf praktizierte Ausmaß an Isolation und Bewegungsarmut eine
Gesundung ausschließe. Auch sei es unfaßbar, daß meine
Verlobte vier Monate nach meiner Inhaftierung noch immer keine
Besuchserlaubnis bekommen hätte. Ich wies darauf hin, daß mir
noch immer Bücher vorenthalten würden, daß ich mich noch
nicht einmal mit Literatur meines beruflichen Fachgebietes
beschäftigen könne.
Wahl antwortete, daß bei einem gewissen Entgegenkommen von meiner
Seite über alles gesprochen werden könne. Ich solle aussagen. Mit
einer Aussage meinerseits hinge sehr viel mehr zusammen als meine
Hafibedingungen. Ich sei ein engagierter Arzt mit Aussichten auf Karriere.
Wie meine Post gezeigt habe, unterhielte ich zu meiner Verlobten eine
intensive Beziehung. Das alles setzte ich aufs Spiel, wenn ich dabei
bliebe, weiter zu schweigen. Es ginge um meine Existenz.
Der Bundesanwalt fragte, ohne Antwort zu erhalten, nach Roths
Beziehungen zu Otto und Sauber. Er belehrte Roth, daß eine
Mordanklage nicht abhängig von der Frage sei, ob er selbst geschossen
habe. Bei einem Einbruchsdiebstahl werde auch derjenige bestraft, der an
der Ecke Schmiere gestanden habe. Es sei auch von Belang, ob Roth noch zu
schießen versucht habe oder nicht.
Anschließend sagte Wahl noch einmal, daß ich im
Fall der Aussageverweigerung der Bundesanwaltschaft gegenüber mir
extrem schaden und meine Existenz riskieren würde. Ich hätte die
Möglichkeit, die Zielsetzung der Ermittlungen entscheidend zu
beeinflussen. Außerdem könne ich davon ausgehen, daß sich
im Fair meines Schweigens die Ermittlungsdauer erheblich hinziehen werde.
Sobald ich zu einem Ergebnis gekommen sei, könne ich mich über
den Sicherheitsinspektor der JVA Ossendorfo der direkt telefonisch aus
Ossendorf an ihn in Karlsruhe wenden. Er werde mir in der Denkpause
entgegenkommen, meiner Verlobten eine erste Besuchserlaubnis verschaffen
und sich um den Bücherbezug kümmern. Über eine
ärztliche Begutachtung könne später gesprochen werden. Jetzt
liege es aber erst einmal an mir, mich erkennth½h zu zeigen.
Roth war, wie er sagt,
vor die Alternative gestellt, entweder meine moralisch-
politische Identität aufzugeben und mich auf die Seite des
Staatsschutzes zu schlagen, oder aber zugrundezugehen. Isolationshaft,
Verweigerung korrekter medizinischer Behandlung und die Bedrohung mit einer
Mordanklage waren die Waffen bundesanwaltschaftlicher Erpressung.
Roths Bericht über dieses Gespräch ist nicht nur nach seiner
Persönlichkeit glaubwürdig, sondern entspricht dem, was wir von
anderen Beschuldigten, die solchen Vernehmungsversuchen ausgesetzt waren,
wissen. Man kann es daher als Muster eines sogenannten Vorgesprächs
nehmen, das regelmäßig ohne Protokoll erfolgt und dessen
Prozeßordnungswidrigkeit daher später wegen des
Glaubwürdigkeitsvorsprungs des Vernehmungsbeamten nicht
beweiskräftig zu belegen ist. Dem Vernehmer könnte vorgeworfen
werden, daß er den Verteidiger nicht benachrichtigt hat, daß er
den Gefangenen nicht über sein Recht auf Aussageverweigerung belehrt
und seine Haftsituation, seinen Gesundheitszustand, seine Ängste und
Hoffnungen ausgenutzt hat. Doch der Gesprächscharakter sichert ihm bei
Bedarf den Rückzug ins rechtlich Unverbindliche, wenn er es nicht
vorzieht, die Darstellung des Beschuldigten über den
Gesprächsverlauf als Lüge zu bezeichnen. Das Fehlen eines
Protokolls und die Hierarchie der Glaubwürdigkeit machen den Vernehmer
unanfechtbar, wenn er etwa behauptet, er habe den Beschuldigten zu Beginn
des Gesprächs vorschriftsmäßig über seine Rechte
belehrt, dieser habe ausdrücklich gewünscht, seinen Anwalt nicht
zu benachrichtigen, es seien auch weder Versprechungen noch Drohungen
erfolgt. Und selbst wenn er zugeben würde, zu Aussagen geraten und auf
deren Bedeutung für den Inhalt der Anklage für Besuchserlaubnisse
und andere Hafterleichterungen hingewiesen zu haben, müßte er
kaum damit rechnen, daß ein Gericht ihm, dem erfahrenen Beamten im
Range eines Bundesanwalts, die Überschreitung zulässiger
Vernehmungsmethoden zutrauen würde.
Das von Roth authentisch dokumentierte Vorgespräch enthält
einige typische Merkmale staatlicher Überredungstechnik bei dem
Versuch, Kollaborateure zu gewinnen. Es beginnt mit der Auswahl der
Gesprächspartner. Nicht der in der Anklageschrift mit der
Berufsbezeichnung "Beruß'1.oser" vorgestellte Roland
Otto, sondern der Arzt Karl Heinz Roth wird in der Haftanstalt besucht. Und
da kommt nicht irgendeine mindere Charge des Polizeiapparats, um ihn zu
vernehmen, sondern ein Bundesanwalt höchstpersönlich, der die
Gemeinsamkeit akademischer Bildung und einfühlsames Verständnis
für den Mediziner mitbringt. Man hat keine Folterwerkzeuge
vorzuzeigen, deren Einsatz durch Aussagen abzuwenden wäre, sondern
"nur" eine Mordanklage mit der Aussicht auf lebenslange Haft, die
nach Aktenlage erhoben werden müßte, aber natürlich bei
entsprechenden Aussagen in sich zusammenfallen könnte. Was für
Aussagen könnten das sein, die das Ziel der Ermittlungen entscheidend
beeinflussen, die Ermittlungen erheblich abkürzen und dem Arzt Roth
Existenz und Karrierechancen erhalten würden? Worauf zielten
rechtliche Erörterungen zur Figur des Mittäters beim
Einbruchsdiebstahl? Es ging eindeutig darum, Roth als Kronzeugen gegen
Roland Otto (und den getöteten Werner Sauber) zu gewinnen, denen man
auf diese Weise einen gemeinsamen Tatentschluß zur Ermordung von
Polizisten nachweisen zu können glaubte. Man hatte in Karlsruhe
zweifellos erkannt, wie dünn die Beweislage für die
Anklagebehörde war, und hätte sich deshalb mit einem
Lebenslänglich für Roland Otto begnügt, wenn wenigstens dies
durch einen Kronzeugen gesichert werden konnte. Aber als Roth standhaft
blieb und das Risiko eines Terroristenprozesses und eines
Terroristenurteils lieber in Kauf nahm, als sich zum Werkzeug der
Staatsgewalt und Verurteilungsgehilfen gegen Roland Otto erniedrigen zu
lassen, verzichtete man in Karlsruhe auf die potentielle Blamage einer
erfolglosen Terroristenanklage und legte der Staatsanwaltschaft Köln
dieses Kuckucksei ins Nest. Die brütete dann auch eine Anklage aus,
deren Ergebnis ungewiß war, was man in Karlsruhe nicht schätzt.
Rache am Kronzeugnisverweigerer nimmt man nur dann in eigener Regie, wenn
man die Mittel des Feindprozesses sicher beherrscht, wie im Fall Boock.
Karl Heinz Roth aber ist ihnen entgangen.
Während es im Fall Roth gelang, den Freispruch von der Mordanklage
im Wege traditioneller Verteidigung zu erzwingen, und zwar gegen eine
Staatsanwaltschaft, die noch nach dem offensichtlichen Debakel ihrer
Beweisführung gegen Karl Heinz Roth zweimal Lebenslänglich
beantragte, wird die (partielle) Straflosigkeit des Kollaborateurs auf
anderen Wegen herbeigeführt. Wenn es darum geht, den
Überläufer zu belohnen, sind die Staatsgewaltigen reich an
Einfüllen, wie sich die Allgemeinverbindlichkeit des Strafrechts und
der Prozeßregeln umgehen läßt, ohne sie zugleich für
alle aufzuheben. Das moralische Pathos, mit dem der Schutz menschlichen
Lebens und anderer Rechtsgüter als Sinn des Strafrechts
verkündigt wird, erweist sich einmal mehr als verlogen, wenn etwa in
den Fällen Gerhard Müller oder Jürgen Bodeux - von beiden
wird in diesem Kapitel noch die Rede sein Akten zurückgehalten werden,
in denen von Kapitalverbrechen dieser Staatsfreunde die Rede ist. Oder wenn
Amtszeugen, die über Verbrechen von Staatsfreunden Auskunft geben
müßten, unter Berufung auf das Wohl deutscher Staatlichkeit die
Genehmigung zur Aussage verweigert wird. Die Legalisierung des Kronzeugen
ist nur der zynische Schlußpunkt einer Justizpraxis, die auch ohne
gesetzliche Grundlage durchaus zu unterscheiden wußte, welche An von
Verdiensten es rechtfertigt, das Strafrecht partiell zu suspendieren, und
welche nicht. Die Kronzeugenregelung bringt nur den Schritt in die
Öffentlichkeit für ein Verfahren, das bisher gewisser
semantischer Verhüllungen und Aktenmanipulationen bedurfte, da es dem
Gesetz widersprach.
Auch in Zukunft dürfte es freilich dabei bleiben, daß sich
die staatlichen Proselytenmacher nicht in die Karten schauen lassen, mit
welchen Mitteln sie Menschen zum Sprechen bringen - Menschen, für die
im übrigen der Satz des Kriminalisten Hans Groß gelten
dürfte, der vom gerichtlichen Geständnis gesagt hat, er wisse
"eigentlich kein Analogon im psychischen Wesen des Menschen, wo jemand
mit sehenden Augen etwas ausschließlich zu seinem Schaden und ohne
irgendwelchen wahrnehmbaren Nutzen tut".Aus der Logik dieses Satzes
folgt, daß es wohl doch einen wahrnehmbaren Nutzen geben muß,
den sich der geständige Beschuldigte ausrechnet. Und es gibt ihn
allerdings.
Was über den Beginn von Kronzeugenkarrieren in den Akten steht, ist
weniger als die halbe Wahrheit. Eindringlichen Verteidigerbemühungen
ist es immer wieder gelungen, sogenannte Vorgespräche mit mehr oder
weniger hochkarätigen Ermittlern aufzuspüren, über die die
Akten schweigen. So beginnen etwa die Aussagen des Kronzeugen Volker
Speitel aktenmäßig mit einem richterlichen Vernehmungsprotokoll
vom 4. Januar 1978, während wir inzwischen wissen, daß er schon
vorher von Oberstaatsanwalt Lampe ohne Protokoll und ohne Verteidiger
klammheimlich vernommen worden ist. Keine Probleme mit der
Strafprozeßordnung, es waren nur "Gespräche", und
demgemäß gab es darüber auch nur "persönliche
Notizen" des Herrn Lampe. die inzwischen unter dem Namen
"Lampe-Papiere" in die Justizgeschichte eingegangen sind und sich
inhaltlich als höchst unzuverlässig erwiesen haben.'Aber die
Frucht dieser Vorgespräche war durchaus gerichtsverwertbar.
Das richterliche Protokoll vom 4. Januar 1978, das mit der
Erklärung des Beschuldigten Volker Speitel beginnt, er wolle Angaben
zur Sache machen und lege Wert darauf daß sein bisheriger Verteidiger
nicht vom heutigen Termin verständigt werde und auch beim heutigen
Termin nicht anwesend sein solle, legalisierte nachträglich die
prozeßordnungswidrige Umgehung des Verteidigers, die uns bei
Versuchen, Kronzeugenkarrieren anzubahnen, immer wieder begegnet. In der
Akte heißt es weiter, daß Volker Speitel befragt worden sei, ob
er in irgendeiner Weise durch Justizorgane oder durch die Polizei unter
Druck gesetzt worden sei, damit er Angaben mache. Nein, das sei nicht der
Fall, erklärte der Beschuldigte. ihm seien auch keine Versprechungen
gemacht worden. Und dann wörtlich:
Ich habe lediglich die Zusicherung eines fairen Prozesses
und darauf will ich mich berufen.
Also: weder Druck noch Versprechungen, aber die Zusicherung eines fairen
Prozesses. Merkwürdig, diese Zusicherung einer
Selbstverständlichkeit. Jeder Angeklagte hat Anspruch auf ein faires
Verfahren, nicht nur der Kronzeuge. Wenn dem Kronzeugen nicht mehr als
diese prozeßrechtliche Selbstverständlichkeit zugesichert
würde, stünden wir dann nicht in der Tat vor dem psychologischen
Rätsel, daß "jemand mit sehenden Augen etwas
ausschließlich zu seinem Schaden und ohne irgendwelchen wahrnehmbaren
Nutzen tut"? Durchaus nicht, denn genau dies ist die Zauberformel,
hinter der sich des Rätsels Lösung verbirgt: die Zusicherung
eines fairen Prozesses. Sie kehrt in den Protokollen, in denen
Kronzeugenkarrieren aktenmäßig beginnen, zu oft wieder, als
daß man sie übersehen könnte. Diese scheinbare
Selbstverständlichkeit verrät ein Herrschaftswissen, dem die
Unfairneß des gängigen Terroristenprozesses bewußt ist,
und statuiert die Ausnahme für Überläufer, daß
für sie die Strafprozeßordnung gelten, daß ihnen die im
Grundsatz des "fair trial" enthaltenen Mindestanforderungen an
ein rechtsstaatliches Strafverfahren zugutekommen sollen. Aber die
Zusicherung eines fairen Prozesses für Kronzeugen ist darüber
hinaus die Tarnbezeichnung für Freundschaftsdienste, die den
Begünstigten nicht nur von der terroristischen Feinderklärung
ausnehmen, sondern ihn zudem von den Risiken eines im Ergebnis offenen
Strafprozesses dispensieren und ihm eine nachprozessuale Lebenshilfe
garantieren, die den trüben Staatsjob des Kronzeugen
einigermaßen vergoldet.
Der Kronzeuge Karl-Heinz Ruhland
Den berühmtesten oder richtiger ruhmlosesten aller bisherigen
Kronzeugen, Karl-Heinz Ruhland, lernte ich im Proll-Prozeß
persönlich kennen, nachdem mir die Protokolle seiner etwa 90
Vernehmungen schon zuvor immer wieder als Grundstock des Beweismaterials in
Terroristenakten begegnet waren. Die Frankfurter Strafkammer hielt ihn
für glaubwürdig, soweit er Astrid Proll der Teilnahme an
Banküberfällen der RAF in Berlin bezichtigte, was ihr immerhin
eine Freiheitsstrafe von 5 1.12 Jahren einbrachte. Dabei setzte sich das
Gericht über Bedenken hinweg, die angesichts der üblichen
Einleitung seiner Kronzeugenkarriere gegen die Verwertbarkeit seiner
Aussagen bestehen konnten. Daß ihm versprochen worden sei, er
müsse keiner Person, die er einer strafbaren Handlung bezichtigt habe,
gegenübertreten und keine Beschuldigung in Anwesenheit der
beschuldigten Person wiederholen wollte ihm das Gericht nicht glauben. Es
heißt dazu im Proll-Urteil:
Die Vernehmung der Zeugen Ruhland, Zimniak, Wolf, Eimecke
und Buddenberg hat indessen den Nachweis einer bindenden Zusage nicht
erbracht. Einzig der Zeuge Ruhland hat ausgesagt. die beteiligten
Verhörspersonen (nämlich: die anderen vier Zeugen, H.H.)
hätten ihm ein derartiges Vorgehen fest versprochen.
Ich denke, es kommt auf den Empfängerhorizont an. Wenn Ruhland, ein
geistig einfach strukturierter Mensch, es anders verstanden hat, als die
Vernehmungsbeamten es meinten, war der Tatbestand der Täuschung
gegeben. Denn sein Wunsch, nicht gegenübergestellt zu werden und nicht
als Zeuge auftreten zu müssen, war ihm, wie es im Urteil weiter
heißt, "erkennbar von besonderer Wichtigkeit". Vor dem
Vorwurf der Täuschung, der Ruhlands Aussagen unverwertbar gemacht
hätte (§ 136a StPO), suchte das Urteil die Vemehmer durch die
Erwägung zu schützen, es sei "nicht bewiesen", ob das
Verhalten der Beamten, insbesondere ihre Reaktion auf die mehreren
Vernehmungsniederschriften vorangestellten "Bedingungen"
Ruhlands, geeignet war, bei diesem "den Eindruck hervorzurufen, er
habe eine uneingeschränkte Zusage erhalten". Der Beweis des
Verfahrensverstoßes geht also nach dem Grundsatz in dubio contra
reum: im Zweifel gegen die Angeklagte Proll - wobei der Beweis wegen der
Beteiligung beamteter Zeugen praktisch ein Ding der Unmöglichkeit
ist.
So heißt es denn auch, daß gegen die Aussage des
Bundesrichters a.D. Buddenberg, er habe keine Versprechungen gemacht,
"keine Zweifel aufkommen". Das Gegenteil würde an
Majestätsbeleidigung grenzen. Streng nach der Hierarchie der
Glaubwürdigkeit abgestuft heißt es bezüglich des
Kriminalhauptkommissars Zimniak, er sei "ein über seine Rechte
und Pflichten genau unterrichteter Polizeibeamter". Da könnten
also schon Zweifel aufkommen, aber sie kamen nicht auf Er hat vielmehr
"glaubhaft bekundet, die Beamten hätten Ruhland lediglich
erklärt, das Bundeskriminalamt werde sich im Rahmen seiner
Möglichkeiten dafür verwenden, seine Aussagen vor
Bandenmitgliedern soweit wie möglich geheimzuhalten". Zweimal
"wenn möglich"- in einem Satz, da hätte Ruhland doch
merken müssen, wie viele Hintertüren die Beamten sich gelassen
hatten. Und so fahrt die Urteilsbegründung ungeniert fort:
Daraus konnte der Zeuge nicht entnehmen, die Beamten
hätten sich eines bestimmten Einflusses auch auf die Maßnahmen
unabhängiger Gerichte gerühmt.
Ruhland hätte natürlich wissen müssen, daß es
unabhängige Gerichte gibt, zu deren "Maßnahmen" es
gehört, Zusagen der Ermittlungsbehörden zu ignorieren und
unzulässige Vernehmungsmethoden schonungslos aufzudecken. Zum Beispiel
so:
Der Zeuge Zimniak hat anschaulich geschildert, die Beamten
seien gezwungen gewesen, Ruhland entgegenzukommen, um die Preisgabe der
dringend benötigten Informationen zu erreichen und den
informationsfluß in Gang zu halten.
Man hält die Luft an, weil der nächste Satz eigentlich nur
lauten kann, daß damit der Zeuge Zimniak den Rahmen des
Zulässigen objektiv überschritten habe. Mitnichten:
Die Kammer glaubt ihm jedoch, daß er dabei den Rahmen
des Zulässigen ebensowenig überschritt wie die Zeugen Wolf und
Eimecke, die ein derartiges Vorgehen ebenfalls in Abrede gestellt
haben.
Welcher Art dieses dank der Interpretationshilfe beamteter Zeugen vom
Gericht für zulässig gehaltene Entgegenkommen zur Erlangung von
Aussagen war, hat Ruhland 1971 in der Untersuchungshaftanstalt Bonn einigen
Haftgefährten erzählt, die später in mehreren Prozessen als
Zeugen vernommen und für glaubhaft erachtet worden sind. Danach hat
Ruhland ihnen bei unterschiedlichen Anlässen berichtet, gegen ihn sei
anfänglich auch wegen versuchten Mordes ermittelt worden, später
sei dieser Vorwurf aber fallengelassen worden, weil er sich zur
Zusammenarbeit mit der Sicherungsgruppe Bonn und zu Aussagen über die
Baader-Meinhof-Gruppe und deren Aktivitäten bereit erklärt habe.
Der Verdacht, einen Mord versucht zu haben, sei mit den Umständen
seiner Festnahme in Oberhausen begründet worden, bei der er eine
durchgeladene Pistole gezogen haben. Ihm sei bedeutet worden, daß er
deshalb mit einer Freiheitsstrafe zwischen zehn und zwölf Jahren
rechnen müsse. Von Beamten der Sicherungsgruppe oder der
Bundesanwaltschaft sei ihm eine wesentlich geringere, nämlich nur
dreijährige Freiheitsstrafe für alle seine Verfehlungen für
den Fall zugesichert worden, daß er gegen Horst Mahler und andere
Mitglieder der Baader-Meinhof-Gruppe "auspacke"
Diese Darstellung kann einige Plausibilität für sich
beanspruchen. Wer die Anfänge von Kronzeugenkarrieren miteinander
vergleicht, stößt immer wieder auf die gleichen
Vernehmungsmuster. Auch die gegenüber einem Beschuldigten
unzulässige Zusicherung von Vertraulichkeit, die Ruhland in Frankfurt
nicht geglaubt wurde, finden wir in anderer Sache - nämlich bei dem
Kronzeugen Bodeux
- wieder. Und wie anders sollen die Vernehmungsbeamten ihr Opfer, den
potentiellen Informanten, zur Kollaboration motivieren, wenn nicht durch
das Ausspielen von Ängsten und Hoffnungen? An der Einlösung ihrer
Versprechungen dürften Vernehmer, denen die faktische Geltung zweier
unterschiedlicher Prozeßordnungen für Freunde und Feinde des
Staates zur Selbstverständlichkeit geworden ist, kaum zweifeln. Ihr
Einfluß auf die Freund- Feind- Differenzierung wirkt sich entgegen
der naiven Annahme der Frankfurter Schwurgerichtskammer durchaus bestimmend
auf die Prozeßführung unabhängiger Gerichte aus. Das real
existierende doppelte Prozeßrecht der Politischen Justiz macht die
Ermittlungsbehörden zu den wahren Herren des Verfahrens. Und das
pflegen sie auch gegenüber ihrem Opfer, dem potentiellen Kronzeugen,
nicht zu verschweigen.
Ruhland hatte zwar keine Leiche im Keller, aber zur Drohung mit einer
Anklage wegen versuchten Mordes reichte das den Ermittlern zur beliebigen
Verwendung verfügbare Material allemal. Ratten die festnehmenden
Polizeibeamten nicht einen versuchten Griff zur Waffe gesehen?
Der Vernehmungsbeamte Zimniak wurde im Proll-Prozeß als Zeuge
vernommen. Er faßte den Beginn der Ruhland- Vernehmungen so
zusammen:
Herr Ruhland war ein kleiner Fisch. Wir haben deshalb auch
gesagt: "Hören Sie mal zu, sagen Sie aus. Wenn Sie nämlich
nicht aussagen, dann laufen Sie Gefahr, daß Sie ein großer
Fisch werden".
Ulrich Preuß sprach in seinem Plädoyer aus, wie Zirnniak es
gemeint und Ruhland es verstanden haben muß: "Wenn Sie nicht
aussagen, dann machen wir Sie zu einem großen Fisch".
Zimniak hatte mit Ruhland das übliche "Vorgespräch"
geführt, das die Stpo nicht kennt, so daß man sich wohl auch von
ihren Regeln entbunden fühlt. Einige Stunden habe dieses
Vorgespräch gedauert, sagte Zimniak. Es sei ihn gelungen, Ruhland zu
überzeugen, Aussagen zu machen. Ein Protokoll sei erst am folgenden
Tag geführt worden. Ich zitiere wörtlich aus meinen
stenografischen Mitschriften vom 16.11.1979:
Zimniak: Nachdem ich ihn überzeugen konnte, daß
eine Aussage günstig ist für ihn, hat er zunächst einmal zu
einem. Teilkomplex Aussagen gemacht, und damit war der Einstieg
gewonnen.
Vorsitzende: Worin sahen Sie das Günstige? Zimniak:
Nun ja, er war dort in Untersuchungshaft' wegen des Verdaches des
versuchten Mordes, was allerdings später fallengelassen wurde. Dieser
Verdacht bestand auf Grund der Fesinahmesituation. Es war nicht
ausgeschlossen, daß er seine Waffe gebrauchen wollte, um sich der
Festnahme zu entziehen,.. Die Schutzpolizisten hatten behauptet, Ruhland
habe versucht, von der Waffe Gebrauch zu machen, um sich der Festnahme zu
entziehen, Diese Behauptung ist nicht weiter verfolgt worden.
Ein versuchter Mord, der durch Polizistenaussagen bewiesen werden kann,
wird nicht weiter verfolgt. Das ist natürlich günstig. Es kann
nicht allzu schwer gewesen sein, Ruhland davon zu überzeugen. Wie es
ihm ergangen wäre, wenn er es auf einen Feindprozeß hätte
ankommen lassen, wissen wir aus anderen Fällen. Vielleicht hätte
auch er sich einem Zeugen gegenübergesehen, der aus seinem Mund
gehört hatte: "Schade, daß ich von euch Schweinen nicht ein
paar umgelegt habe" oder "Komm doch her, du Scheißbulle,
damit ich dich umlegen kann!" Aber nein, die Gefahr war gebannt. als
Ruhland nach dem außerhalb des Protokolls und der StPO geführten
Vorgespräch überzeugt war, daß es für ihn
günstiger sei, auszusagen. Der von Polizisten, ebenfalls
außerhalb des Protokolls, erhobene Vorwurf des versuchten Mordes fiel
unter den Tisch, ohne daß es überhaupt zur Einleitung eines
formellen Ermittlungsverfahrens kam. Der aussagewillige Ruhland hatte sich
im Handumdrehen vom Staatsfeind in einen Staatsfreund verwandelt, für
den StpO und Strafrecht mal eben suspendiert werden.
Seine Partizipation an den Privilegien eines Staatsfreundes ging so
weit, daß ihm über längere Zeit monatliche Zahlungen in
Höhe von jeweils 1000 DM zuflossen, die von einem anonymen Gönner
mit dem Decknamen "Freund" stammten. Pech für Heim Ruhland,
daß die Proll- Verteidiger die Überweisungsbelege in Händen
hatten, als sie ihn danach befragten und in neue Lügen verstrickten.
Aber Lügen aus dem Munde eines Staatsfreundes lassen sich
ausbügeln, selbst wenn sie die Form gerichtlicher Zeugenaussagen
haben. Die Freunderklärung zugunsten des Kronzeugen Ruhland reichte
auch in das Frankfurter Proll- Verfahren hinein und führte zu
folgender Würdigung dieses Beweismittels:
Die Kammer trägt auch nicht deswegen Bedenken, dem
Zeugen Ruhland zu folgen, weil er zweimal auch in einer Hauptverhandlung
bewußt die Unwahrheit gesagt hat, Der Beweggrund für die
Falschaussagen ist eingrenzbar und läßt insbesondere
Auswirkungen auf die Schilderung seiner Erlebnisse als Mitglied der Gruppe
nicht besorgen. Der Zeuge hat in der Hauptverhandlung bekundet, er habe
nicht gewußt, daß Überweisungen von monatlich 1.00(3 DM in
dem Zeitraum von April 1976 bis August 1978, die ihn unter dem Absender
"W. Freund, Bad Godesberg" erreichten, in Wirklichkeit vom
Bundeskriminalamt herrührten. Demgegenüber ist aufgrund der
Aussagen der Polizeibeamten Bellach und Liepe über die
Begleitumstände der Zahlungen kein Zweifel daran zurückgeblieben,
daß Ruhland die Quelle des Geldes kannte.<...) Aus dem Inhalt der
Falschaussage ergibt sich jedoch lediglich, daß der Zeuge den
Eindruck vermeiden wollte, er habe finanzieller Vergünstigungen wegen
ausgesagt, und daß er einen derartigen Anschein mehr fürchtete
als eine Bestrafung wegen falscher Aussage. Es ist allgemein bekannt,
daß der Zeuge Ruhland von teilen der Öffentlichkeit und der
Presse als Werkzeug der Ermittlungsbehörden dargestellt wurde und
wird. Dem Zeugen Ruhland war es klar, daß die Entgegennahme von
Zahlungen des Bundeskriminalamtes derartigen Verdächtigungen Nahrung
geben werde, worin ihm das Verhalten der Behörde, die Deckanschriften
benutzte, noch bestärken mußte. Es erschüttert die
Glaubwürdigkeit des Zeugen nicht, daß er massiven
öffentlichen Angriffen gegen den Kern seines Selbstwertgefühls
dadurch zu entgehen hoffte, daß er in einem eher nebensächlichen
Punkt, der für die Taten der Gruppe selbst ohne Belang ist, zu einer
Unwahrheit Zuflucht suchte.
Eine einfühlsame Beweiswürdigung zur Motivation und zur
Funktion von Lügen. Auch in der Zeugenrolle ist die Lüge des
Staatsfreundes verzeihlich.
Der Kronzeuge Ruhland bot das Bild eines zerstörten Menschen. Er
hatte für seine Kollaboration mit der Staatsgewalt zwar den Verzicht
auf einen Feindprozeß, damit aber zugleich ein Leben in Angst, den
Streß des reisenden Kronzeugen und ein gebrochenes
Selbstwertgefühl eingehandelt. Ruhland hielt dies für einen
schlechten Tausch. Er sagte auf entsprechende Fragen, daß er keine
Aussagen gemacht hätte, wenn er dies alles vorausgesehen hätte.
Auch diese Erfahrung eines in 90 polizeilichen und gerichtlichen
Vernehmungen ausgepreßten und verschlissenen Kronzeugen ist zu
bedenken, wenn um Kollaboration mit der Staatsgewalt geworben wird.
Der Kronzeuge Gerhard Müller
Vielleicht wäre die Frankfurter Strafkammer, die den Vernehmern des
Herrn Ruhland glaubte, sie hätten bei Anbahnung von dessen
Kronzeugenkarriere den Rahmen des Zulässigen nicht überschritten,
kritischer gewesen, wenn sie bedacht hätte, welches Ausmaß an
Skrupellosigkeit höchster Amtsträger bei der Gewinnung anderer
Kronzeugen zutagegetreten ist.
Inder Nacht vom 21. zum 22Oktober 1971 wurde in Hamburg der
Polizeibeamte Norbert Schmid erschossen und an seinem Kollegen Heinz Lemke
ein Mordversuch begangen. Diese Taten sind bis heute unbestraft, obwohl der
Täter bekannt ist. Er heißt Gerhard Müller und wurde
zusammen mit Ulrike Meinhof im Juni 1972 verhaftet. Es gibt eine Zeugin der
Mordtat, Margit Schiller, die damals ebenso wie Gerhard Müller
Mitglied der RAF war und mit ihm und einer dritten Person zusammen
unterwegs war, um Kraftfahrzeuge aufzubrechen und Wagenpapiere zu
beschaffen. Sie hat als Zeugin im Stammheimer Baader- Meinhof- Prozeß
ausgesagt, sie habe gesehen, wie Müller in jener Nacht den
Polizeibeamten Schmid erschossen habe. Sie habe beobachtet, wie Schmid das
aus Müller und der dritten Person bestehende Paar verfolgte, es
schließlich erreichte und der Frau die Handtasche entriß.
Müller war neben ihr, hielt seine Pistole in der Hand
und schoß auf Schmid. Schmid ließ die Handtasche los und fiel
zu Boden. Müller und die Person liefen weiter, und dabei hörte
ich weitere Schüsse.
Schmid war von vier Kugeln getroffen zusammengebrochen, sein Kollege
Lemke warf sich zu Boden und feuerte aus seiner Dienstpistole. Drei
Personen entkamen jedoch in der Dunkelheit. Lemke, selber am Fuß
verwundet, hörte seinen in einer Blutlache liegenden Kollegen noch
"Hilfe, Hilfe" flüstern, bekam auf eine Frage aber schon
keine Antwort mehr.
Unmittelbar nach der Schießerei stürmte Müller in die
konspirative Wohnung, von der die Aktion ausging, und brüstete sich,
einen Polizisten getötet zu haben:
"Ich habe einen Bullen umgelegt."
Gerhard Müller erhielt wegen anderer Delikte 10 Jahre
Freiheitsstrafe - es ging auch dort um die Beteiligung an Mordtaten, die
jedoch, anders als üblich, nur als Beihilfe eingestuft wurden -, wegen
des Mordes an dem Polizeibeamten Norbert Schmid wurde Müller
freigesprochen. Der Zeuge Lemke konnte den Angeklagten nicht mehr mit
letzter Sicherheit identifizieren. Dieser hatte allerdings inzwischen seine
Haarfarbe gewechselt und in der Haft rund 30 Pfund zugenommen. Sein
Erscheinungsbild halle sich also - ganz zufällig - stark
verändert. Aber vielleicht hatte auch den Zeugen Lemke schon die
Botschaft erreicht, daß sich der Mörder Müller inzwischen
hinter den Kulissen in einen Staatsfreund verwandelt hatte und ein
Wiedererkennen unerwünscht sei.
Und so reichten auch die Fingerabdrücke, die Müller in der
konspirativen Wohnung hinterlassen hatte, und die Aussagen seiner einstigen
Genossen, die in jener Nacht mit ihm zusammen waren, nicht aus, ihn
lebenslänglich hinter Gitter zubringen. Schon nach 6 1/2 Jahren war er
wieder frei und ist jetzt "unbekannten Aufenthalts". Ich habe
einen seiner letzten Kronzeugenauftritte erlebt, in einem Lüneburger
Unterstützerprozeß, wo er in einem schußsicheren
Glaskasten in den Saal gefahren wurde und keine sehr gute Figur machte. Mit
Genehmigung des Gerichts hatte ich meinen Mandanten seinen Platz mit einer
anderen Person tauschen lassen, was prompt zu einer Verwechslung und
infolgedessen zum Freispruch führte. Vielleicht gab dieser Fall den
Anstoß, den Kronzeugen Müller aus dem Verkehr zu ziehen und nur
noch seine nicht so leicht zu irritierenden Vernehmungsprotokolle für
ihn sprechen zu lassen.
Wie aus dem Mörder Müller ein Staatsfreund gemacht wurde, hat
die an paradoxe Justizpraktiken gewöhnte deutsche Öffentlichkeit
mit dumpfer Gleichgültigkeit hingenommen, obwohl einige rechtlich
gesinnte Journalisten Anstoß nahmen. So war im "Spiegel"
vom 14.5.1979 zu lesen:
Daß er nun nicht mehr in seiner Zelle sitzt, ist das
Resultat einer beispiellosen Manipulation des Rechts. Wohl vor jedem
deutschen Schwurgericht wäre Gerhard Müller unter normalen
Umständen die lebenslange Freiheitsstrafe wegen mehrfachen Mordes
sicher gewesen - aufgrund seiner eigenen Aussagen. Doch es ging nicht mit
rechten Dingen zu- Das Lebenslang wurde ihm geschenkt: Es war der
Kaufpreis, um seine Zunge zu lösen...
Das Geschäft mit Gerhard Müller war ein planmäßig
vollzogener Rechtsbruch. In die Affäre verstrickt sind
Justizangehörige und Politiker von hohem Rang. Gesetzliche
Bestimmungen wurden verletzt, rechtsstaatliche Prinzipien unterlaufen, und
der Verdacht auf Begünstigung im Amt reicht bis in Bonner und
Karlsruher Chcfetagen.
Auch Gerhard Müllers Kronzeugenauftritte wurden von
hochkarätigen Komparsen sekundiert. Generalbundesanwalt Buback
verneinte, als Zeuge in Stammheim vernommen, daß Müller für
seine Zeugenrolle gegen Baader und Genossen
in irgendeiner Form Vorteile versprochen oder Nachteile
angedroht worden sind oder in anderer Weise Einfluß auf den Inhalt
seiner Aussage genommen worden ist.
Der "Spiegel" kommentierte:
Einfluß auf den Inhalt sicher nicht. Einfluß
darauf daß sich den Anklägern diese Quelle überhaupt
erschloß - das blieb bei Bubacks Wortlaut offen. Vorteile
versprochen? Die waren bereits gewährt.
Müllers Freundprozeß wurde nämlich durch eine
Aktenmanipulation programmiert, die, wenn alles mit rechten Dingen zuginge,
alle Zeugenaussagen dieses Staatsfreundes unverwendbar machen
müßten. Der "Spiegel":
Beweismaterial, das zum Komplex der Hamburger Anklage
(gegen Müller) gehörte, den Geschehensablauf schwerster
Verbrechen betraf und das Urteil hätte beeinflussen müssen, wurde
den Richtern vorenthalten. Schon im Frühjahr 1975 mehrere Wochen bevor
sein Prozeß in Hamburg überhaupt begann - hatte Müller sein
Wissen ausgeplaudert und sich dabei auch selber schwer belastet.
Ermittlungsbeamte der Abteilung K 421 vom Hamburger Landeskriminalamt und
deren Kollegen vom BKA brachten die Müller- Memoiren als
Gesprächsnotizen, Vermerke, Gedächtnisprotokolle und
Vernehmungsniederschrift'en auf mehr als 200 Blatt zu Papier. Obwohl es
zum erheblichen Teil zur Sache gehörte, wurde das brisante
Beweismaterial niemals in den Müller- Prozeß eingeführt,
sondern von den Karlsruher Bundesanwälten unter Verschluß
genommen.
Als dem Vorsitzenden des Hamburger Schwurgerichts, das über Gerhard
Müller und dessen Mitangeklagte Irmgard Möller zu urteilen hatte,
die Existenz jener zurückgehaltenen Akte bekannt wurde, forderte er
diese telefonisch beim Generalbundesanwalt an. Mit dem Erfolg, daß
dieser eine Erklärung des damaligen Bundesjustizministers Vogel
(SPD> herbeiführte, wonach das Bekanntwerden des Inhalts dieser
Akten dem Wohle des Bundes Nachteile bereiten würde, was ihn nach
§ 96 StPO von der Verpflichtung entband, die Akten vorzulegen. Das
Hamburger Schwurgericht war gehindert, seiner gesetzlichen Pflicht zur
Wahrheitsfindung nachzukommen.
So erfuhr das Gericht auch nicht, daß Müller mit einem
"Harry" identisch war, der zusammen mit einem anderen Kronzeugen,
Dierk Hoft Bomben gebastelt und transportiert hatte, bei deren Explosion
vier Menschen getötet und 20 verletzt worden sind. Dazu der
"Spiegel":
Daß Müller sich selber schon neun Monate vorher
als jener im BM-Geschehen recht aktive "Harry" bekannt hatte,
konnten die Hamburger Richter dank der Prozeßstrategie der
Bundesanwälte nicht wissen.
Das Lebenslang jedenfalls blieb ihm erspart, und wenn die
Bundesanwaltschaft, gedeckt vom Bundesjustizminister, auf diesen
Prozeßausgang abgezielt hat, um Müllers späteren
Redefluß zu fördern, so träfe die Behördenspitzen in
Karlsruhe und in Bonn der Verdacht der Strafvereitelung im Amt. Denn ob
jener StPO-Paragraph 96, der die Geheimhaltung bestimmter Aktenstücke
regelt, auch dafür herhalten daß schwerste Verbrechen
bewußt von der Strafverfolgung auszuklammern, ist juristisch
zumindest umstritten.
Wie es weiterging, zitiere ich sicherheitshalber ebenfalls nach dem
"Spiegel", der das Risiko von Gegendarstellungen,
Beleidigungsanzeigen und dergleichen Schwierigkeiten, in diesem Lande die
Wahrheit zu sagen, schon hinter sich hat:
Der glimpfliche Richterspruch motivierte Müller
offenkundig dazu> der so kulanten ,Justiz nun an anderer Steile aus
der Verlegenheit zu helfen. Kaum war die gesetzliche
Rechtsmittelfrist verstrichen und die Gefahr für ihn vorüber, da
gab er Zeichen, er sei nun bereit, sein Wissen nicht nur
"gesprächsweise" preiszugeben, sondern sich auch
förmlich vernehmen zu lassen (-.-) Nachdem IIoff seinen Sprengstoff- Lieferanten und Bastel
-Bruder vor dem Hamburger Schwurgericht nicht wiedererkennen wollte oder
konnte, lag es auch für Müller nahe> den Frankfurter
Bombenbauer nun seinerseits wieder aus seinem Bekanntenkreis zu streichen.
Das juristische Theater am Rande der Legalität war nicht schlecht
inszeniert: Was Müller vom 31. März 1976 an - vierzehn Tage nach
seiner Verurteilung - den Vernehmern zu Protokoll gab, ließ die
Bundesanwaltschaft unter neuem Aktenzeichen abheften...
Ein neuer Aktentrick, der dazu führte, daß die
ursprüngliche Geheimakte nicht nur Gerichten und Verteidigern, sondern
sogar dem Anklagevertreter des Generalbundesanwalt im Baader- Meinhof-
Verfahren, Bundesanwalt Wunder, vorenthalten wurde, so daß dieser
eklatante Widersprüche zwischen Müller- Aussagen vor und nach
seinem Freundprozeß nicht kannte. Kommentar des
"Spiegel":
Wunders Irrtum war offenkundig vorprogrammiert, die
Glaubwürdigkeit des "Kronzeugen" durfte nicht noch mehr
ausgehöhlt, der erwünschte Prozeßausgang nicht
gefährdet werden.
Es ging auch alles nach Wunsch, wie man weiß. In Stammheim kam es
auf einen Rechtsbruch mehr oder weniger nicht an.
In weniger gewichtigen Verfahren ist es seitdem zu Freisprüchen
gekommen, weil der Kronzeuge Müller fehlte und das BKA stereotyp und
mit der ihm eigenen Glaubwürdigkeit behauptete, über seinen
Verbleib nichts zu wissen. Der gründlich recherchierte
"Spiegel"- Artikel aus dem Jahr 1979 endet:
Stuttgarter Justizinsider wollen wetten, der plötzlich
verschollene Müller werde ebenso plötzlich auch wieder
hergezaubert, wenn mal wieder Hochkarätiges ansteht. Bis dahin
bestimmt die Polizei, welches Gericht in weichem Prozeß die Wahrheit
ermitteln darf oder auch nicht.
Ein Teujener Geheimakten 3 ARP 74/751 ist noch heute unter strengstem
Amtsverschluß - etwa 15 Blatt. Prozeßbeteiligte aus
l>erroristenvetfahren vermuten in den Papieren noch weitere Details
über den Handel von Sicherheitsbehörden mit Verbrechern.
Womöglich auch Vorgänge, die, würden sie ruchbar, den Zeugen
Müller noch einmal auf die Anklagebank brächten - zum Beispiel
ein Geständnis über den Hamburger Polizistenmord.
Der Kronzeuge Jürgen Bodeux
Bei dem Kronzeugen Jürgen Bodeux, der die skandalöse
Geschichte des Berliner Schmücker- Mordprozesses 15 Jahre lang
begleitete, finden wir alle schon fast zum Gewohnheitsrecht erstarkten
Rechtsbrüche des Ermittlungsverfahrens wieder, mit denen man den
Verteidiger umgeht, um mit Kronzeugenkandidaten ins Gespräch zu
kommen. Aber weil der Verteidiger, der Hamburger Rechtsanwalt Wolf Dieter
Reinhard, auch die Mandate weiterer Tatverdächtiger im Schmücker-
Mordfall übernommen hatte - was damals noch zulässig war -,
mußte man sich etwas einfallen lassen, um ihn insgesamt loszuwerden.
Und mit Bodeux, einem nicht gerade durch Charakterstärke
ausgezeichneten jungen Mann, ließ sich eine Intrige spinnen, die
nicht nur das regelwidrige Vorgehen der Vernehmer nachträglich
glänzend zu rechtfertigen schien, sondern Reinhard fast seinen Beruf
gekostet hätte.
Bodeux wurde als Mittäter des Mordes an Ulrich Schmücker,
einem vom "Verfassungsschutz" als V-Mann angeworbenen ehemaligen
Mitglied der "Bewegung 2. Juni", verdächtigt. 1976 wurde er
wegen dieses Mordes auch verurteilt
- zu lediglich 5 Jahren Jugendstrafe, wovon ihm später die
Hälfte erlassen wurde. Als Hauptbelastungszeuge der Staatsanwaltschaft
gegen die anderen Angeklagten hatte er sich dieses freundliche Urteil
"redlich" verdient.
Bodeuxs Kronzeugenkarriere begann, als ihn zu Beginn des
Ermittlungsverfahrens zwei Kriminalbeamte und ein Staatsanwalt in der
Haftanstalt aufsuchten, um mit ihm nach bewährtem Muster seine
Aussagebereitschaft zu erörtern - selbstverständlich ohne
Benachrichtigung des Verteidigers, der seinem Mandanten den nicht nur in
Terroristen- Sachen üblichen Rat gegeben halle, keine Aussagen zu
machen, bevor ihm nicht Akteneinsicht gewahrt und damit die
Möglichkeit zu sachgemäßer Beratung eröffnet war. Als
sich Erfolge einstellten, reisten noch weitere Beamte aus Berlin an,
Staatsanwalt Przytarski und zwei Kriminalbeamte der zur Aufklärung des
Schmücker- Mordes eingesetzten Sonderkommission.
Der Verteidiger, Wolf Dieter Reinhard, erfuhr nichts von diesem Reigen
unseliger Geister, der sich da in der Zelle seines Mandanten ein
Stelldichein gab. Er erfuhr auch nichts davon, daß ein anderer
Anwalt, den die Ermittler empfohlen und mit ungewöhnlicher
Fürsorglichkeit empfangen hatten - er war von den Herren sogar am
Flugplatz abgeholt worden, was sonst noch keinem Terroristenanwalt
widerfahren ist -, die Verteidigung übernommen hatte, ohne den
mindesten standesrechtlichen Benachrichtigungspflichten nachgekommen zu
sein. Dieser hatte, wie man das von ihm erwartete, ohne Aktenkenntnis
grünes Licht für Aussagen gegeben und seinen neuen Mandanten der
intensiven Obhut der Vernehmungsbeamten überlassen. Reinhard, der noch
an ein Fortbestehen des anwaltlichen Vertrauensverhältnisses glaubte,
erfuhr von dem Entzug des Mandats erst, als er Bodeux eines Tages in der
Haftanstalt besuchen wollte. Das alles war, wie erst nachträglich klar
wurde, darauf angelegt, Reinhard in offene Messer laufen zu lassen.
Der Kollege Reinhard wurde eines Tages zu früher Morgenstunde durch
einen lauten Knall geweckt; Polizisten hatten die Tür seiner Wohnung
aufgesprengt. Man hatte auf Aussagen seines treulosen Mandanten Bodeux
einen Haftbefehl gestützt, der ihm Unterstützung einer
kriminellen Vereinigung anlastete. Die Medien meldeten in riesigen
Schlagzeilen "Rechtsanwalt verhaftet", "Er forderte einen
Anteil an der Beute", "Er billigte den Fememord in Berlin",
"Er stiftete zu falschen Aussagen an" (BZ vom 27.11.1974) und
prangerten den Kollegen Reinhard durch große Portraitfotos mit
Namensnennung an. Im Text hieß es:
Bei der "Aktion Winterreise", einem bundesweiten
Anschlag gegen die Anarchisten, ging der Polizei ein "dicker
Fisch" ins Netz...
Auch Springers "Welt" sparte nicht an Platz, um ihren Lesern
anschaulich zu machen, wie dieser "Anwalt der Baader- Meinhof-
Bande", ein "Anwalt, der Beute forderte", aussieht. Eine
Durchsicht der damaligen Pressemeldungen bietet das Bild einer
Diffamierungskampagne, die in der Person des Hamburger Kollegen die gesamte
Gruppe der sogenannten Terroristenverteidiger treffen und in den Verdacht
der Komplizenschaft mit der "Baader- Meinhof- Bande" bringen
sollte.
Heute weiß man, daß sich alle Vorwürfe gegen Reinhard
einzig und allein auf Aussagen des Herrn Bodeux stützten, während
sie dem unwissenden Publikum mit der damals noch in breiten Kreisen als
seriös geltenden Herkunftsangabe "Bundesanwaltschaft"
verkauft wurden. Sie erwiesen sich vor Gericht als unhaltbar. Aber sie
reichten zur öffentlichen Diffamierung, zur Inhaftierung und
staatsanwaltschaftlichen Beschuldigung eines bis dahin unbescholtenen
Rechtsanwalts. Und zur Fortsetzung einer Verleumdungskampagne gegen
Rechtsanwälte, die im Rahmen ihres Berufes den rechtlichen Schutz von
sogenannten Terroristen übernommen hatten.
Zu den Beamten, die Bodeux hinter dem Rücken seines Verteidigers
vernahmen, gehörte, wie gesagt, der Berliner Staatsanwalt Przytarskl.
Über die von ihm unter Assistenz dreier Kriminalbeamter am 23. und 24.
September 1974 geführten mehrstündigen Vernehmungen gelangten
weder Protokolle noch Vermerke zu den Akten, so daß der
gutgläubige Leser den Akten entnehmen mußte, die erste
Vernehmung des Jürgen Bodeux habe erst am 9. Oktober 1974
stattgefunden, zu einem Zeitpunkt, als Rechtsanwalt Reinhard das Mandat
bereits gekündigt worden war. Noch das erste in der Schmücker-
Mordsache ergangene Urteil des LG Berlin vom 22.6.1976, das nur
hinsichtlich Bodeux rechtskräftig geworden ist, ging davon aus,
daß Bodeux erstmals am 9. Oktober 1974 als Beschuldigter vor dem
Amtsrichter Eimer in Gießen die Tat in großen Zügen
geschildert habe. Als Anklagevertreter amtierte in der Berliner
Hauptverhandlung Herr Staatsanwalt Przytarskl, der es besser wußte,
aber schwieg. Er hatte auch dafür gesorgt. daß in dem
Gießener Vernehmungsprotokoll seine Anwesenheit nicht erwähnt
wurde. Die Wahrheit über den Beginn dieser Kronzeugenkarriere stand
nicht in den Akten. Sie kam erst im Verlaufe der Hauptverhandlung gegen
Rechtsanwalt Reinhard heraus, die mit Freispruch endete.
Reinhards Verteidigung, an der ich zusammen mit der Kollegin Leonore
Gottsehalk-Solger und den Kollegen Bernt Niese und Wolf Römmig
beteiligt war, konnte nicht nur Herrn Staatsanwalt Przytarskl, als Zeuge
vernommen, zu dem Eingeständnis der nichtprotokollierten Vernehmungen
und zur Vorlage der von ihm hierüber angefertigten Vermerke
veranlassen; sondern förderte zudem Tonbänder zutage, auf denen
die bisher geheimgehaltenen frühen Bodeux- Vernehmungen festgehalten
waren. Aus diesen Beweismitteln ließ sich der Beginn der
Kronzeugenkarriere des Jürgen Bodeux minutiös rekonstruieren. Es
ergab sich, daß Bodeux von mehreren Vernehmungsbeamten, auch von
Przytarski, Vertraulichkeit zugesichert worden war - ein gegenüber
einem Beschuldigten unzulässiges Versprechen im Sinne des § 136a
StPO. Die 13. Strafkammer des LG Berlin zog im den Substituten, der von
mehr als 50 Schrotkugeln in Kopf und Oberkörper getroffen wird und
zwei Tage später stirbt. Seine Begleiterin kommt mit einem Schock
davon. Einer der Insassen des roten VW schlägt die Fensterscheibe der
Fahrertür des BMW ein und greift sich den Geldkoffer. Die Täter
entkommen mit einem Opel Rekord, dessen Fahrer, einen Unfall vermutend,
gehalten hatte und zum Aussteigen gezwungen worden war. Das Fluchtfahrzeug
wird noch innerhalb des Fahndungsrings verlassen aufgefunden. Wie die
Täter ihre Flucht fortgesetzt haben, bleibt ungeklärt.
Die Spurensicherung ist unergiebig, aber den Kriminalbeamten fallen
Parallelen zu einem früheren Raub auf, der elf Monate
zurückliegt: In beiden Fällen ist die gleiche Firma beraubt
worden. Beide Taten wurden um dieselbe Tageszeit - etwa 19 Uhr - vor
derselben Bank verübt. Beide Tatfahrzeuge wurden in der gleichen,
unüblichen Arbeitsweise und im selben Gebiet gestohlen. In beiden
Fällen machten die Täter ohne zwingende Gründe und ohne
Vorwarnung von der Schußwaffe Gebrauch. Undsoweiter. So befaßt
man sich noch einmal mit dem früheren Raub und stellt fest, daß
es da eine brauchbare Fingerspur gibt.
Von zehn Tatverdächtigen, die sich bei weiteren Ermittlungen
herausschälen, können acht ausgeschieden werden. Es verbleiben
zwei: Jürgen Bodeux und seine damalige Freundin. Von diesen beiden
Personen fehlen jedoch Vergleichsspuren. Sonderbarerweise unterbleibt trotz
des Verdachts deren Anfertigung.
Als am 5. Juli 1984 die Verteidigung im Berliner Schmücker-
Mordprozeß beantragt, die in der Porzer Raubmordsache gesicherte
Tatortfingerspur beizuziehen, stellt sich heraus, daß die den ersten
Porzer Raub betreffende Akte einschließlich der Tatortfingerspur
zwischenzeitlich vernichtet worden ist. Die Verteidigung gebt den
Umständen dieser Vernichtung nach und erfährt, daß die Akte
bis zum Jahre 1994 hätte aufbewahrt werden müssen, jedoch bereits
1981 aufgrund eines "bedauerlichen Versehens" vernichtet worden
sei.
Auch Doubletten der Fingerspuren, die bei schweren Straftaten
regelmäßig angefertigt und bei den Landeskriminalämtern und
beim Bundeskriminalamt gespeichert werden, gibt es in diesem Fall
nicht.
Einer der Verteidiger im Schmücker- Mordprozeß, Bernd
Häusler, hat in seinem Buch "Der unendliche Kronzeuge" den
sonderbaren Umgang mit den Beweismitte In, die Jürgen Bodeux und die
Porzer Raub morde betreffen, detailliert dargestellt. Durch ein
Telefongespräch mit einem nach Neuseeland ausgewanderten
Kriminalbeamten kommen die Verteidiger auf die Spur von gesperrten Akten,
deren Existenz mehrere beamtete Zeugen unter Eid bestritten hatten. Aber
auch diese Spur endet in der Herausgabe von belanglosen Papierschnitzeln
Was ein an Wahrheitsfindung interessiertes Gericht wirklich über
Jürgen Bodeux wissen müßte, blieb zu seinem und zum Wohle
des Staates geheim.
Sein Deal mit der Staatsgewalt hat ihm ein mildes Urteil und vorzeitige
Haftentlassung, den anderen Tatverdächtigen aber den bisher
längsten Prozeß der deutschen Justizgeschichte eingebracht. Denn
der Versuch, den Kronzeugen und seine staatlichen Hintermänner zu
schützen, war mit Aktenmanipulationen,
Beweismittelunterdrückungen und sonstigen Rechtsverletzungen
verbunden, die selbst für Terroristenprozesse zuviel waren und
genügend öffentliches Aufsehen erregten, so daß der BGH
sich dreimal hintereinander zur Aufhebung der gegen die angeklagten
Tatgenossen des Jürgen Bodeaux ergangenen Urteile genötigt
sah.
Am 28. Januar 1991 wurde der Schmücker- Prozeß nach insgesamt
l5jähriger Verfahrensdauer eingestellt. Die Vorsitzende Richterin der
18. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin, Ingeborg Tepperwien,
begründete diese Entscheidung, wie die "taz" am 29.1.1991
berichtete, damit, daß die fünf Angeklagten in ihrem Recht auf
ein faires Verfahren massiv beeinträchtigt worden seien. Durch die
überlange Prozeßdauer und die zahllosen, dem Gericht und der
Verteidigung vorenthaltenen Akten und Beweismittel seien "fundamentale
Grundsätze des Rechtsstaates verletzt worden". Es habe ein die
Grenzen der Rechtsstaatlichkeit überschreitendes "geheimes
Zusammenspiel vom Berliner Landesamt für Verfassungsschutz und
Staatsanwaltschaft" gegeben. Auch unzulässige Versprechungen von
Strafmilderung gegenüber dem Kronzeugen Bodeaux wurden in diesem
Zusammenhang erwähnt. Das Fazit des Gerichts lautete nach dem Bericht
der "taz":
Über Jahre hinweg haben zwei Verfahren stattgefunden..
eines im Gerichtssaal und eines hinter den Kulissen, gegen das sich die
Angeklagten gar nicht wehren konnten, weil sie davon keine Kenntnis
hatten.
Bei Peter-Jürgen Boock hätte es keiner Vergewaltigung des
Rechts bedurft, um ihn mit einer zeitigen Freiheitsstrafe davonkommen zu
lassen. Um Boock einen fairen Prozeß zu machen, bedurfte es nicht der
Verheimlichung von Akten oder sonstiger Manipulationen des Rechts. Man
brauchte nur zu glauben, was nicht zu widerlegen war und letztlich durch
die Konsequenz seines Verhaltens bestätigt wurde. Hier hatte man, wenn
man wollte, den geradezu idealtypischen Aussteiger aus der RAF, an dem sich
Glaubwürdigkeit des Staates demonstrieren ließ. Aber in
Karlsruhe wollte man etwas anderes: Rache für die Weigerung, mit der
Staatsgewalt zu kollaborieren.
Wie angenehm der Umgang mit der Staatsgewalt sich hätte entwickeln
können, wenn Boock auf die Wünsche der Bundesanwaltschaft
eingegangen wäre, ließ unsere erste Begegnung im Hamburger
Polizeipräsidium im Januar 1981, einen Tag nach Boocks Festnahme,
ahnen. Da war noch alles offen, Boock noch ein potentieller Kollaborateur,
sein Anwalt vielleicht ein Kollaborationsgehilfe. So kamen wir beiden
Hoffnungsträger der Staatsgewalt unter Bedingungen zusammen, denen wir
uns später nur mit amüsierter Bitterkeit erinnern mochten.
Undurchsucht gelangte der Terroristenanwalt zu seinem Mandanten, den er
unüberwacht und ohne Trennscheibe stundenlang sprechen durfte.
Terrorist und Anwalt lernten die freundwillige Sonnenseite der Ermittler
kennen und durften in dieser Stunde Null eines mit Lebenslänglich und
Proklamation von Gnadenunwürdigkeit endenden Verfahrens einen Hauch
jenes lauen Windes verspüren, der Verrätern in ihr Fähnchen
zu wehen pflegt. Aber dieses staatliche Wohlwollen wahrte nur so lange, bis
der vom Beschuldigten und seinem Verteidiger gemeinsam getragene
Entschluß bekanntgegeben worden war, die Kollaboration mit den
Ermittlungsbehörden zu verweigern.
Dreimal wurde Boock von hochkarätigen Ermitteln aufgesucht, am 6.
Februar, am 6. März und am 6. April 1981, und zu Aussagen
gedrängt. Zweimal erschien der Oberstaatsanwalt Dörfler, und
einmal gab ihm sogar der Bundesanwalt Zeis die Ehre. Wie von anderen
Kronzeugenanbahnungen hinreichend bekannt, fanden alle diese
Vernehmungsversuche unter dem Namen "Gespräche" und ohne die
gesetzlich vorgeschriebene Benachrichtigung des Verteidigers statt.
Später behauptete man, Boock habe ausdrücklich verlangt,
daß sein Anwalt nicht benachrichtigt würde, auch habe das erste
Gespräch. an dem Zeis und Dörfler teilnahmen, auf Boocks Wunsch
stattgefunden.
Daß auch das zweite und dritte Gespräch von Boock
gewünscht worden sei, und daß auch hierbei die versäumte
Benachrichtigung seines Verteidigers auf seinen Wunsch zurückgehe,
konnte schlechterdings nicht behauptet werden. Nach dem zweiten Versuch
hatte ich Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Oberstaatsanwalt Dörfler
erhoben. Ich zitiere mich selbst:
Herr Oberstaatsanwalt Dörfler hat am Freitag
"ergangener Woche an einem erneuten Vernehmungsversuch meines Mandanten
Peter-Jürgen Boock teilgenommen. ihm ist bekannt, daß ich
mündlich und schriftlich wiederholt nachdrücklich erklärt
habe, daß mein Mandant zur Zeit nicht bereit ist, irgendwelche
Aussagen zur Person oder zur Sache zu machen, ich habe bereits zu dem
ersten Versuch, meinen Mandanten unter Umgehung seines Anwalts zum Zwecke
der Vernehmung nach Karlsruhe zu verlegen, Herrn Dörfler
gegenüber telefonisch das Nötige gesagt. Gleichwohl ist jetzt der
zweite gleichartige Versuch hinter meinem Rücken unternommen worden.
Es ist ganz offensichtlich, daß hier der erklärte Wille meines
Mandanten, von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch zu machen,
mißachtet wird, und zwar unter Ausnutzung der psychischen Situation
meines Mandanten.
Boock befand sich damals in einem äußerst labilen
Gemütszustand. Nachwirkungen des Drogenkonsums führten zu
angstbesetzten Halluzinationen und depressiven Verstimmungen, in denen er
mehr als einmal selbstmordgefährdet war. Mehr als einmal sandte Boock
Hilferufe an mich aus, auch an jenem 6. Februar, an dem er angeblich eine
Vernehmung in Abwesenheit seines Verteidigers gewünscht haben soll. Es
ist fast ein Wunder, daß es den Ermittlern trotz der
erbärmlichen Konstitution ihres Opfers nicht gelungen ist, aus Boock
einen Kollaborateur zu machen. Ihr begreiflicher Zorn richtete sich
zunächst gegen den Verteidiger, der, wie sie richtig vermuteten, den
Widerstand seines Mandanten gestärkt hatte. Am liebsten hätten
sie sicher meine Ausbootung nach dem Muster Bodeux/Reinhard betrieben. Ich
war jedenfalls auf alles gefaßt. Doch es blieb bei erfolglosen
Anträgen, mich als Pflichtverteidiger zu entschlagen und gegen mich
Ehrengerichtsverfahren einzuleiten.
Dem Mandanten aber setzte man unbeeindruckt von Protesten und
Beschwerden unter Umgehung seines Verteidigers zu, sich für eine
Kollaboration mit der Staatsgewalt zu entscheiden. Man deutete in
versteckten Drohungen an, daß der Besuch seiner Lebensgefährtin
unterbunden werden könne, lockte und drohte mit der Alternative, in
Hamburg oder in Stammheim anzuklagen. Man setzte eine letzte Bedenkzeit von
14 Tagen, nach deren Ablauf "der Zug abgefahren" sei, und man
setzte dem erklärten Vertrauen des Beschuldigten zu seinem Anwalt die
brutale Prognose entgegen: "Mit uns haben Sie es länger zu tun
als mit irgend jemand sonst." Und man unternahm ungeachtet der
Dienstaufsichtsbeschwerde und wiederholter Proteste des Beschuldigten und
seines Rechtsanwalts noch eine dritten Versuch, Boock hinter dem
Rücken seines Verteidigers zu vernehmen. Als Boock auch da standhaft
blieb, war der Zug abgefahren. Eine seltsame Metapher, die wohl nur von
jemandem gebraucht werden kann, der sich mit den unterschiedlichen
Fahrtzielen für Staatsfeinde und Staatsfreunde gut auskennt.
Jahrelang hat Kurt Rebmann als Generalbundesanwalt um die Legalisierung
des Kronzeugendeals gekämpft, den er und sein Amt auch ohne
gesetzliche Grundlage seit langem betrieben haben. Sein Geschäft,
legal oder illegal, hat bisher nichts weiter erbracht, als daß ein
paar Morde ungesühnt geblieben und ein paar Gefangene, die den
Verlockungen der Kollaboration widerstanden haben, aufgrund windiger
Beweise für Morde bestraft worden sind, die sie nicht begangen haben.
Dieser Mann in Karlsruhe personifizierte eine Form staatlichen Terrors, die
das terroristische Syndrom immer wieder neu infiziert, statt zu heilen.
Daß staatliche Rückkehrangebote an sogenannte Terroristen,
selbst wenn sie ehrlich gemeint sein sollten, am Kronzeugeninteresse dieses
Generalbundesanwaltes scheitern müßten, ist bei den Bonner
Gesetzesmachern offenbar nicht begriffen worden. Daß seit
Peter-Jürgen Boocks Niedermachung in einem spektakulären
Feindprozeß kein RAF-Aussteiger von nennenswerter Bedeutung in
Empfang genommen werden konnte, hätte sie eigentlich stutzig machen
müssen. Aber sie scheinen nie die Überlegung angestellt zu haben,
wie denn Ausstieg aus der RAF praktisch vor sich gehen soll, wenn die
Genossen des potentiellen Aussteigers mit dessen Verrat rechnen
müssen. Die Zeiten, da man die RAF verlassen konnte, sind vorbei, seit
Rebmanns Strategie dem Aussteiger nur die Alternative Verrat oder
Lebenslänglich läßt. Für Lebenslänglich kommt
keiner, und den potentiellen Verräter läßt die Gruppe nicht
laufen.
Die Kronzeugenregelung zielt denn auch weniger auf den Rückkehrer
als auf Gefangene ab, die den Erpressungsversuchen der Staatsgewalt
schutzlos ausgeliefert sind. Der Terror gegen Gefangene, die man hat, kann
denen, die man noch nicht hat, nur als unüberhörbares Warnsignal
dienen, sich auf keinen Fall in die Hände dieser Kronzeugenfänger
zu begeben, mögen sie auch noch so süß flöten.
Ihr Konzept hat sich von der propagierten Zielsetzung, den Terrorismus
klandestiner Gruppen zu bekämpfen, weit entfernt und als legaler
Staatsterror verselbständigt. Ihre Vollmacht, Kollaboration mit der
Staatsgewalt zum Kriterium der Unterscheidung von Freund und Feind zu
machen und eine Selektion vorzunehmen, die zwei höchst
unterschiedliche Justizschicksale bereithält, ist ein Stück
finsteres Mittelalter in einer Zeit, in der rationale Lösungen
für gesellschaftliche Probleme auf der geschichtlichen Tagesordnung
stehen. Mit der Legalisierung des Kronzeugenrabatts ist ein Dunkelfeld
partiellen Verzichts auf Strafe für Staatsfreunde erhellt worden, auf
dem die institutionelle Parteilichkeit des Strafrechts schon bisher zur
Unterscheidung von Freund und Feind benutzt worden ist. Was bisher nur den
ohnmächtigen Zorn einiger kritischer Beobachter der Politischen Justiz
erregt hat, liegt nunmehr für jedermann offen zutage, ohne daß
freilich ohne weiteres zu erwarten ist, daß der Bruch mit vorgeblich
unantastbaren Rechtsprinzipien in einer breiteren Öffentlichkeit
Unruhe auslösen wird. Zu lange hat man sich bereits daran
gewöhnt, daß Strafrecht unter Verletzung des Gleichheitssatzes
praktiziert wird, als das man sich über die Vorzugsbehandlung des
Kronzeugen aufregen könnte, wenn dabei nur ein schärferes
Zupacken gegen die verratenen Tatgenossen herausspringt. Daß für
Angeklagte, denen die Bezeichnung Terroristen beigelegt worden ist,
überhaupt Rechtsprinzipien gelten sollen, die anderen,
"normalen" Angeklagten mehr oder weniger zähneknirschend
zugestanden werden, ist nichts weniger als populär. Da fällt die
freundschaftliche Ermäßigung strafrechtlicher Sanktionen
für kollaborationswillige Mörder und Exterroristen nicht weiter
ins Gewicht. Eine Justiz, die ungezählte Mittäter der
faschistischen Massenverbrechen, wenn sie überhaupt angeklagt wurden,
mit Kameradenurteilen bediente, die Straflosigkeit zur Regel machten, wird
doch ein paar Mini- Kriminelle laufen lassen können, wenn sie dadurch
für die Zwecke der Freund- Feind- Differenzierung brauchbar werden.
Und eine Bevölkerung, die in ihrer Mehrheit zu den Freisprüchen
oder Kameradenurteilen für NS- Massenmörder geschwiegen hat, wird
wohl auch nichts dagegen haben, wenn ein paar kleine Mörder, die sich
als Terroristenverräter nützlich machen, in den Kreis der
Staatsfreunde aufgenommen werden. Staatsfreunde aber, das weiß man,
partizipieren am Gewaltmonopol des Staates. Und das heißt Teilhabe an
allerlei Rechtsfiguren und Praktiken, die das sonst für alle geltende
Recht abschwächen, suspendieren oder in sein Gegenteil verkehren.
Diese Gesellschaft ist dadurch charakterisiert, daß sie den, der
mit den Mächtigen kollaboriert, als Freund behandelt und an den
Privilegien der Herrschaft partizipieren läßt, während sie
den, der sich gegen die Herrschenden stellt und ihnen die Zusammenarbeit
verweigert, als Feind ausgrenzt, unschädlich macht und im Extremfall
physisch vernichtet. Wer aus dem Lager der Feinde überläuft zu
den Mächtigen, hat die reale Chance, der Gnade der späten
Freundschaft teilhaftig zu werden, wenn er sich als Kollaborateur verdient
macht. Ausgestiegene Terroristen sind als Gehilfen strafender Staatsgewalt
willkommen, sie können mit Kronzeugenrabatt wenn nicht Straflosigkeit
rechnen, für sie wird die angeblich unverzichtbare Institution
Strafrecht partiell suspendiert, ohne daß das System als solches in
Frage gestellt wird. Verweigern sie jedoch die Zusammenarbeit mit den
staatlichen Behörden, so bleiben sie Feinde. Denn das Kriterium der
Freund- Feind- Differenzierung ist nicht die propagierte
Gefährlichkeit des Feindes, sondern seine Eignung, als Schreckgestalt
zur Formierung der Gesellschaft beizutragen. Einer, der nichts weiter zu
bieten hat als die Verminderung der terroristischen Gefahr um seine
aktivistische Potenz, ist für eine Staatsgewalt, die gerade aus der
angeblichen Gefahr für alle den allgemeinen Konsens für ihre
Strategie der präventiven Konterrevolution (Peter Brückner)
bezieht, uninteressant. Der Kollaborateur hingegen kann ein
Massenmörder sein, ohne daß dies seine Brauchbarkeit für
die Betreiber Politischer Justiz beeinträchtigt.
Solange in diesem Land der Geist herrscht, in dem Feindprozesse gegen
Kommunisten und "Terroristen" des linken Spektrums betrieben
worden sind, während sich makrokriminelle Staatsfreunde und
Kollaborateure, soweit sie überhaupt verfolgt werden, ihre
Freisprüche und Pro-forma- Urteile abholen können, wird die
politische Strafjustiz keinen ernstzunehmenden Beitrag zur Lösung
gesellschaftlicher Probleme leisten, aus denen Kriminalität entsteht,
sondern wird selbst ein kriminogener Faktor erster Ordnung bleiben. Die
einzige Rationalität politischer Strafjustiz ist ihre
Nützlichkeit für die Durchsetzung innerstaatlicher
Feinderklärungen.
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