|
VSA-Verlag, Stresemannstr. 384a, 2000 Hamburg 50, ISBN
3-87975-576-0
Handelsgeschäfte mit der "Wahrheit"
Kronzeugen als Sonder- Beweismittel der Anklage
"Ich bin ... ein entschiedener Gegner der Kronzeugenlösung,
weil ich sie für eine ganz unnötige Kapitulation des
Rechtsstaates halte." Der das im Jahre 1976 bekannte, war niemand
"Geringerer" als der wenig später von Mitgliedern der RAF
ermordete oberste Ankläger der Republik, Generalbundesanwalt Siegfried
Buback. Dreizehn Jahre nach diesem Bekenntnis, im Jahre 1989, ist die
"Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten" nach
mehrmaligen Anläufen erstmals, wenn auch nur befristet bis 1992, als
Gesetz eingeführt worden. Eine "ganz unnötige Kapitulation
des Rechtsstaates" oder etwa eine mittlerweile "nötig"
gewordene Kapitulation?
Gesetzlose "Kronzeugen"- Produktion in der Praxis
Siegfried Buback hatte seine Bedenken gegen eine solche gesetzliche
Regelung seinerzeit mit rhetorischen Fragen zur Figur des Kronzeugen in
einem Rechtsstaat untermauert: ". was machen wir zum Beispiel
hinterher mit den Leuten? Wir müßten ihnen eine neue
Identität geben und sie schützen. Aber mich stört vor allem
die Durchbrechung des Rechtsstaatsprinzips und des Gleichheitssatzes.
Sollen wir denn von zwei Mördern einen laufen lassen, nur weil er
sagt, der andere war auch dabei?"
Trotz dieser verbalen Abneigung Bubacks gegen eine gesetzliche
Kronzeugenlösung entwickelten er und sein Nachfolger Kurt Rebmann
unter dem Motto "In der Praxis finden wir da immer einen Weg"
(Buback) eben diese Lösung und praktizierten sie ohne jede rechtliche
Grundlage fast zwanzig Jahre lang: Karl-Heinz Ruhland, Dierk Hoff, Gerhard
Müller, Peter K., Volker Speitel, Hans-Joachim Dellwo, Jürgen
Bodeux, Reiner Hochstein, Heinz B. und Hans B. sind die bekanntesten
Resultate dieser gesetzlosen staatlichen Kronzeugenproduktion der letzten
zwei Jahrzehnte.13
Es handelt sich bei diesen gekürten Zeugen der Anklage, oder, wie
sie auch genannt werden, "Kronzeugen ohne Titel"
ausschließlich um Mittäter aus den jeweiligen bewaffneten
Gruppen, denen nach ihrer Festnahme in aller Regel, unter Ausnutzung der
Sonderhaftbedingungen mehr oder weniger offene Versprechungen hinsichtlich
ihres eigenen Strafverfahrens gemacht wurden - sofern sie sich bereit
erklärten, über ihre ehemaligen Mitkämpfer
"auszupacken". So wurde etwa dem "Kronzeugen" Hoff von
der Bundesanwaltschaft bedeutet, er könne "auf die Milde des
Gerichts bauen", obwohl die Staatsanwaltschaft mit einer
"Zusage" massiv in die Unabhängigkeit der Gerichte
eingreift; anderen wurden darüber hinaus finanzielle Leistungen im
Zusammenhang mit einer Existenz- Neugründung versprochen - Methoden,
die nach § 136a StPO - hier: "Versprechen eines gesetzlich nicht
vorgesehen Vorteils" - verboten sind. Aber selbst mit dem bloßen
Versprechen eines "fairen Verfahrens", also einer
rechtsstaatlichen Selbstverständlichkeit, konnten
"Kronzeugen" schon gewonnen werden. Daß ein derartiger
Handel überhaupt möglich ist, erklärt sich aus der bitteren
Erfahrung, daß in "Terrorismus"- Prozessen dieses
strafprozessuale Prinzip des "fair trial" ansonsten längst
suspendiert ist - und das erst recht, wenn ein zum "Kronzeugen"
auserkorener Häftling die Kollaboration mit der Staatsgewalt
verweigert. In diesem Fall wird dem Betroffenen von den Ermittlern meist
recht unverblümt mit einer schwerwiegenden Anklage, häufig mit
einer Mord(versuchs)- Anklage gedroht.
Für die Strafermittlungsbehörden, allen voran die
Bundesanwaltschaft und das Bundeskriminalamt, war und ist die
"Kronzeugen"- Produktion, neben der Strategie per
"Kollektivitätsthese" und "Offenkundigkeit", ein
wesentliches Mittel, um den chronischen Beweisnotstand in bezug auf die
Mitglieder bewaffneter Gruppen zu überwinden. Daher genügt es den
Ermittlungsbehörden bei weitem nicht, wenn ein Delinquent lediglich
dem bewaffneten Kampf entsagt und zum Aussteiger wird wie beispielsweise
das Ex- RAF-Mitglied Peter-Jürgen Boock. Wesentlich ist ihnen vielmehr
der umfassende Verrat, der als Beweis für die Aufrichtigkeit des
Betroffenen gewertet wird.
Diese Einstellung moderner Strafverfolgungsorgane in einem
"freiheitlich- demokratischen Rechtsstaat" muß eigentlich
befremden, zumal die Figur des "Kron" - Zeugen unschwer als
Element eines vordemokratischen, monarchistischen Straf(prozeß)rechts
auszumachen ist. Deshalb möchten ihn manche auch zum
"Staatszeugen" transmutieren. Doch wie auch immer die Titulierung
ausfallen mag, die charakteristischen Wesensmerkmale solcher
"Zeugen" haben eine noch wesentlich ältere undemokratische
und freiheitsfeindliche Tradition, die bis zum lnquisitionsprozeß des
Mittelalters zurückreicht. Der amerikanische Gelehrte Henry Charles
Lea hat dazu in seiner großen Untersuchung zur Geschichte der
Inquisition festgestellt, daß das Geständnis eines Ketzers
"in der Regel von dem Bekenntnisse der Bekehrung und Reue
begleitet" sein mußte. Dies allein genügte jedoch nicht,
"sondern der Neubekehrte war auch verpflichtet, seine Aufrichtigkeit
dadurch zu beweisen, daß er alle, von denen er wußte oder
vermutete, daß sie Ketzer seien, dem Inquisition anzeigte und so der
Verfolgung neue Bahnen eröffnete." Andernfalls "könnte
der Bußfertige keine Vergebung und Gnade erhoffen; denn die
Weigerung, seine Verwandten und Freunde zu verraten, galt als ein Beweis,
daß er im Herzen keine Reue empfinde, und so blieb nichts anderes
übrig, als ihn dem weltlichen Arme auszuliefern, genau dem
römischen Rechte entsprechend, das einen bekehrten Manichäer, der
noch mit ehemaligen Glaubensgenossen verkehrte, ohne sie der Behörde
anzuzeigen, mit dem Tode bestrafte."
Jahrhunderte später erging es im Rechtsstaat Bundesrepublik dem
geständigen RAF-Aussteiger Peter-Jürgen Boock, der sich weigerte,
seine ehemaligen Genossen der Staatsgewalt auszuliefern, nicht viel besser:
Er wurde zunächst zu dreimal lebenslänglicher Freiheitsstrafe
verurteilt, die später reduziert wurde auf einmal Lebenslänglich.
Als "Kronzeuge" wäre er mit einiger Sicherheit des
Denunziantenprivilegs teilhaftig geworden und möglicherweise mit ein
paar Jahren davongekommen, im übrigen, als Schutz vor der Rache seiner
früheren Mitkämpfer, wahrscheinlich mit einer neuen
Identität und obendrein mit staatlichem Salär ausgestattet worden
ganz nach mittelalterlichem Vorbild, demzufolge denjenigen, die freiwillig
vortraten, um ihren Eifer durch Geständnis und Verrat kundzutun,
"nicht nur verziehen, sondern auch ihr Lebensunterhalt von den
Fürsten und Prälaten sichergestellt" wurde: Die
Denunziationen von Ketzern waren für den Inquisitor "so
unerläßlich, daß man sie nicht nur durch Bestrafungen
(etwa Folterungen, Isolation; R.G.), sondern auch durch Belohnungen
herbeizuführen suchte", berichtet Lea.
Gerichtliche Mittäterschaft
Zurück in die Bundesrepublik Deutschland des 20. Jahrhunderts: Die
erfolgreich zu Verrätern gemachten "Kronzeugen" tauchten in
einer Vielzahl jener großen "Terrorismus- Verfahren" ( auf,
in denen es zumeist um Lebenslänglich ging - als Handlungsreisende in
Sachen Verrat, als Ermittlungsgehilfen der Staatsgewalt, zu ihrem eigenen
Schutz mehr oder weniger verfremdet und getarnt. Häufig wurden gar aus
"Sicherheitsgründen" (wegen angeblicher
"Gefährdung" der Zeugen) oder wegen
"Unerreichbarkeit" (Aufenthaltsort angeblich den
Ermittlungsbehörden unbekannt) lediglich die polizeilichen Aussagen
der "Kronzeugen" vor Gericht verlesen bzw. die
Verhörpersonen der Polizei und Staatsanwaltschaft als "Zeugen vom
Hörensagen" vernommen (s. dazu das vorangegangene Kapitel). Trotz
der naheliegenden Überlegung, daß bei solchen Zeugen der Anreiz
besonders hoch sein muß, andere, möglicherweise auch Unschuldige
schwer, ja bewußt falsch zu belasten, um selbst mit heuer Haut
davonzukommen, spielten die Gerichte dieses ungesetzliche Spiel weitgehend
mit, obwohl sich alle "Kronzeugen" im Verlaufe ihrer zahlreichen
Aussagen in erhebliche Widersprüche verwickelten. Und so kam es,
daß diese regelmäßig selbst straffällig gewordenen
"Kronzeugen ohne Titel" für ihre belastenden Aussagen gegen
ehemalige Genossen, trotz schwerer Tatvorwürfe, erheblichen
Strafrabatt erhielten, zudem frühzeitig begnadigt wurden und
anschließend mit neuer Identität (neuer Name, Lebenslauf,
Paß) und einer Menge Geld zur Gründung einer neuer Existenz
ausgestattet wurden. Dem "Kronzeugen" Gerhard Müller wurde
für seinen Verrat sogar ein Polizistenmord "geschenkt". Auf
der anderen Seite wurden jene umso schwerer bestraft, meist mit
lebenslänglicher Freiheitsstrafe, die von den "Kronzeugen"
in fragwürdigen Prozessen entsprechend belastet worden waren.
"Kronzeugen" ohne gesetzliche Grundlage gab es nicht nur in
den Kern- Verfahren gegen Mitglieder der RAF oder der "Bewegung 2.
Juni", sondern auch in kleineren und unbekannteren
"Terrorismus"- Prozessen: in Verfahren gegen Mitglieder der
"Revolutionären Zellen" und anderer Gruppen, die zu
"terroristischen Vereinigungen" deklariert wurden, aber auch
gegen bloße Unterstützer, Werber, "Sympathisanten". So
beklagte sich beispielsweise der "Kronzeuge" Volker Speitel in
einem Interview über die Bundesanwaltschaft: "Einige meiner
Aussagen, speziell in ganz winzigen Verfahren gegen Sympathisanten, sind
dazu benutzt worden, um daraus abenteuerliche Anklagen zu
konstruieren". So wurde etwa der Arzt Karl Heinrich A. aufgrund
verfälscht wiedergegebener Aussagen Speitels und Dellwos angeklagt.
Das Gericht lehnte die Eröffnung des Verfahrens nach einer kritischen
Überprüfung der Anklage ab eine gerichtliche Kontrollpraxis, die
jedoch nicht allen Angeklagten zuteil wird.
Fallbeispiele: Zur Glaubwürdigkeit von "Kronzeugen"
Ungeachtet des Wahrheitsgehalts ihrer Aussagen erfüllen
"Kronzeugen" den Behörden nicht selten den Traum, groß
angelegte Ermittlungen nach § 129a Strafgesetzbuch durchführen zu
können. Oder sie liefern nachträglich die Rechtfertigung für
solches Tun. Dafür einige Beispiele abseits der
"Terrorismus"- Großverfahren, Beispiele, die zeigen, in
welchen Abhängigkeitsverhältnissen sich solche Zeugen der Anklage
befinden, unter welchem Druck sie ihre Aussagen machen, wie es also um ihre
Glaubwürdigkeit bestellt ist und welche Kriminalisierungsfolgen sie
damit heraufbeschwören:
Die Ergebnisse umfangreicher Ermittlungen über ein terroristisches
Phantom namens "Antifa- Gruppe" in Wuppertal füllten nach
über vierjährigen exzessiven Observationen, Telefon-
Abhöraktionen, Postkontrollen, Hausdurchsuchungen,
Beschlagnahmen von Adressenmaterial, Kalendern, Briefen und
Tagebüchern schließlich insgesamt 150.000 Seiten. Dieses
gesammelte Ermittlungsmaterial wurde 1984 zu einer knapp 300 Seiten starken
Anklageschrift gegen neun Personen eingedampft. Ihnen wurde darin
vorgeworfen, Parolen gesprüht ("Feuer + Flamme für diesen
Staat", "Staat verschwinde"), Plakate geklebt,
Fensterscheiben von Banken und Kaufhäusern zertrümmert und
Brandanschläge verübt zu haben, und zwar organisiert in der
"Terroristischen Vereinigung Antifa-Gruppe".
Das Oberlandesgericht Düsseldorf weigerte sich zunächst,
ungeachtet dieser staatsanwaltschaftlichen Fleißarbeit, die 129a-
Anklage zuzulassen - mangels "fester Gruppenbindung" und
"organisierter Willensbildung" in jener "Antifa-Gruppe"
- Voraussetzungen, wie sie für eine § 129a- Anklage eigentlich
gegeben sein müßten. Ein Beschluß des Bundesgerichtshofs
führte aber 1987 schließlich doch noch zur Eröffnung des
Gerichtsverfahrens. In der Zwischenzeit hatte nämlich die
Generalstaatsanwaltschaft einen "Kronzeugen" aus dem Hut
gezaubert, der die Existenz einer "terroristischen Vereinigung",
denen die Angeklagten angeblich angehört haben sollen, behauptet
hatte. "Aus Sicherheitsgründen", so die Anklagebehörde,
körine dieser Zeuge zwar nicht vor Gericht erscheinen, aber seine
Vernehmungsprotokolle könnten ja im Verfahren zum Beweis verlesen
werden.
Dieser "Kronzeuge" war, so stellte sich erst später
aufgrund privater Nachforschungen heraus, einer der Angeklagten:
Günter P. Da ihm bereits eine Haftstrafe wegen Haschisch- Schmuggels
drohte, hatte er - wie er später m einem Widerruf seiner Aussagen
zugab - "aus panischer Angst vor dem Knast" die belastenden
Aussagen gegen die Angeklagten weitgehend frei erfunden. Andere Beweise,
die individuelle Tatbeiträge der als "Terroristen"
angeklagten Personen hätten belegen können, gab es nicht, und so
fiel die Anklagekonstruktion in sich zusammen. Das Verfahren endete am 4.
November 1987 nach fast achtjährigen intensiven
"Terrorismus"- Ermittlungen folgerichtig mit
Freisprüchen.
Zu fragen bleibt, was wohl passiert wäre, wenn der Plan der
Generalstaatsanwaltschaft aufgegangen wäre: Der "Kronzeuge"
wäre unbekannt geblieben, wegen "Unerreichbarkeit" (er hielt
sich zunächst im Ausland auf) nicht vor Gericht erschienen und daher
nicht als Mitangeklagter identifiziert worden; seine Glaubwürdigkeit
und der Wahrheitsgehalt seiner Aussagen hätten folglich nicht
überprüft werden können. Stattdessen wären seine
belastenden Aussagen aus den Vernehmungsprotokollen vor Gericht verlesen
worden, und die Vernehmungsbeamten hätten als "Zeugen vom
Hörensagen" diese Aussagen bestätigt und die
"Glaubwürdigkeit" des "Kronzeugen" attestiert.
Eine Verurteilung aufgrund von Indizien und auf der Basis dieser
"Zeugenaussage" wäre möglich geworden.
Aufgrund der Aussagen des "Kronzeugen" Walter L.
gegenüber der Bundesanwaltschaft wurden 1981 über fünfzig
Personen beschuldigt, die "terroristische Vereinigung 'Schwarzer
Block' ", eine angebliche "autonome Gruppierung mit
anarchistischer Zielsetzung", in und um Frankfurt gebildet zu haben
und für bislang unaufgeklärte Anschläge im Rhein- Main-
Gebiet verantwortlich zu sein. Gegen sechs Personen wurde Haftbefehl
erlassen. Nach diversen Razzien zog der Hauptbelastungszeuge die Aussagen
gegen seine ehemaligen Gesinnungsgenossen jedoch zurück: Sie seien
falsch und "nur unter Druck gemacht" worden; ihm sei für
"gute Aussagen" Straffreiheit zugesichert worden, außerdem
habe er bei den Polizei- Verhören Prügel bezogen. "Da hab
ich nur noch ja, ja gesagt, scheißegal, was protokolliert
wurde."
Noch ein anderer "Kronzeuge" fühlte sich zu "massig
falschen Aussagen" animiert: Karl-Peter Pl., alias Jörg Paulus,
der als "Randfigur der RAF- Szene" galt. Er hatte sich dem
Bundeskriminalamt mit Informationen angedient und Internas aus dem
Untergrund geliefert. Ihm selbst warf die Bundesanwaltschaft
"Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" vor; ein
BAW- Vertreter stellte ihm jedoch als Gegenleistung für seine
Informationen Strafmilderung in Aussicht. Und es kam noch besser: Das BKA
bezahlte für die Dauer der Vernehmungen Kost und Logis in einem Hotel,
dem Zeugen wurde eine neue Identität versprochen, ja sogar von einer
Gesichtsoperation soll die Rede gewesen sein. Plein wurde amtlich für
tot erklärt, und damit stand einer neuen Identität nichts mehr im
Wege. Der amtlich gefälschte Ausweis lautete auf den Namen Jörg
Paulus und auf diesen Namen liefen auch die regelmäßigen
Zahlungen des BKA ein, die sich nach Pl's Angaben auf über 30.000
DM summierten.
Nach drei Monaten Informationsfluß gab Pl. gegenüber dem
Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" zu, daß er bei den
polizeilichen Vernehmungen, da wo er nicht mit Fakten dienen konnte,
"frei erfunden" habe. So habe er etwa zwei Bekannte als
Angehörige der "Revolutionären Zellen" denunziert:
"Alles war bis ins Detail erlogen. Ich weiß heute noch nicht,
warum ich die beiden als angebliche RZ- Mitglieder belastet habe.
Ich war in einem schlimmen Tief." Wie er in dieses Tief gerutscht war,
schilderte P. in knappen Worten so: Obwohl er sich "Tag für Tag
beschissener fühlte in meiner Haut als Verräter" habe er
sich von den Verhörspezialisten "total abhängig"
gefühlt; er hatte "Angst, daß die mich fallenlassen"
und wollte deshalb "immer irgendwie eine Leistung bringen".
Dieser Leistungsdruck aufgrund von existentieller Abhängigkeit,
aufgrund des ureigenen Interesses, möglichst ungeschoren aus dem
eigenen Verfahren herauszukommen und die Vorteile des Verrats zu erlangen,
ist charakteristisch für die "Kronzeugen"- Rolle. Jene, die
sich hierauf einlassen, werden letztlich für Staatsinteressen
instrumentalisiert, sie werden zu Objekten staatlichen Handelns und
Inszenierens degradiert.
Belastende Aussagen des ehemaligen, im Gefängnis
"anpolitisierten" Strafgefangenen Dirk St., der sich zuvor mit
Hilfe dieser "Karriere" als V-Mann in verschiedene politische
Szenen eingeschlichen hatte, lösten Ende 1987 bundesweite Razzien
gegen das angebliche RAF-Umfeld aus. Obwohl dieser zum
"Kronzeugen" aufgebaute Ermittlungsgehilfe selbst nach Auffassung
von Sicherheitsexperten als "Aufschneider" und
"Spinner" anzusehen ist, basierten sogar Haftbefehle
ausschließlich auf seinen Aussagen. So wurde beispielsweise die
Offenbacher Studentin Andrea B. wegen - so der Haftbefehl vom 18.9.1987 -
des Verdachts der Mitgliedschaft in einer "Terroristischen
Vereinigung", die in mehreren Städten der Bundesrepublik
existiere, fast zwei Monate lang in Isolationshaft gehalten. Das
Ermittlungsverfahren mußte allerdings bald wieder eingestellt, der zu
Unrecht Beschuldigten eine Entschädigung für die erlittene
Untersuchungshaft zugesprochen werden.
Aufgrund der umfangreichen Aussagen von Dirk St. durchsuchte die
Bundesanwaltschaft sowohl bundesweit Gefängniszellen von politischen
Gefangenen als auch Wohnungen und Büroräume, u.a. die der
Hamburger Rechtsanwältin Ute Brandt, seiner ehemaligen Verteidigerin,
gegen die ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden war. Mit diesen
Aktionen drangen Polizei und Staatsanwaltschaft in verdächtige
politisch- oppositionelle Kommunikationszusammenhänge ein, mit der
Beschlagnahme von Verteidigerakten und -post durchbrachen sie die
prinzipiell geschützte Vertrauenssphäre zwischen der
Strafverteidigerin und ihren Mandanten. wurde. Wenig später fand noch
eine zweite Durchsuchung von Ute Brands Büro statt, in deren Verlauf
Verteidigerpost und private Korrespondenz zwischen der Anwältin und
einem ihrer Mandanten, dem zu lebenslanger Haft verurteilten RAF-Gefangenen
Rolf Heißler, beschlagnahmt wurden.
Nach Auswertung der zuerst beschlagnahmten Unterlagen wurde das
Ermittlungsverfahren im September 1988 eingestellt, soweit es auf "die
Fantastereien des Herm Dirk St." zurückging. Die Begründung
der Bundesanwaltschaft: "Seine Anschuldigungen sind nicht
haltbar."
Doch St.s' unhaltbare Anschuldigungen hatten gleichwohl eine
wichtige Funktion erfüllt: Sie spielten den Türöffner zu Ute
Brandts "verdächtiger" Anwaltspraxis, die auf diese Weise
unter die Lupe genommen werden konnte. Ute Brandt vertritt nämlich
bereits seit geraumer Zeit politische Gefangene und unterstützt
öffentlich die Forderung ihrer Mandanten nach Zusammenlegung mit
anderen Gefangenen und Aufhebung der Isolationshaftbedingungen, was nicht
zuletzt zu ihren anwaltlichen Pflichten gehört. Ihr wurde deshalb
jedoch "Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" und
"Werbung für die RAF" vorgeworfen. Das diesbezügliche
Belastungsmaterial stammte aus einem sog. Zufallsfund während der
zweiten Bürodurchsuchung und aus einer Zellenrazzia: Es handelt sich
um den Schriftwechsel mit Rolf Heißler, Schriftstücke, die
ordnungsgemäß als Verteidigerpost gekennzeichnet waren und den
zuständigen Post- Überwachungsrichter unbeanstandet passiert
hatten.
Ute Brandt wurde gleichwohl am 2. Oktober 1988 wegen Unterstützung
einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Mit dem Schriftverkehr und der
Übersendung verschiedener Zeitschriften und Materialien habe sie, so
wird ihr vorgeworfen, die RAF und den Hungerstreik der RAF-Gefangenen
unterstützt. Nach neun Monaten lehnte der Staatsschutzsenat des
Hanseatischen Oberlandesgerichts mit Beschluß vom 30. Juni 1989
allerdings die Eröffnung des Hauptverfahrens "mangels
hinreichenden Tatverdachts" ab. Die Begründung der Richter:
"Denn sie wurde als Verteidigerin ihres Mandanten tätig und
konnte grundsätzlich die Verteidigungsstrategie und -maßnahmen
zur Erzielung von Hafterleichterungen bestimmen, wobei ihr stets
bewußt war, daß sämtliche Schriftstücke vom
Überwachungsrichter kontrolliert werden würden."
Gesetzliche Regelung trotz erheblicher Bedenken
Aus den bisherigen Erfahrungen mit den ungesetzlichen "Kronzeugen
ohne Titel" in "Terrorismus"- Verfahren, aber auch mit der
"kleinen" Kronzeugenregelung in § 31 BtMG
(Betäubungsmittelgesetz) zur Bekämpfung der
Drogenkriminalität oder aus den Erfahrungen in anderen Ländern
hätte eigentlich deutlich werden müssen, mit welchen Problemen
dieses Ermittlungsinstrument befrachtet ist. Trotzdem bemühten sich
die staatlichen Organe seit Mitte der siebziger Jahre, parallel zu ihrer
einschlägigen Praxis, permanent um eine gesetzliche Absicherung dieser
Figur zur Terrorismusbekämpfung.
Auch bislang gab es in diesem Kriminalitätsbereich bereits eine
durchaus bedenkliche Möglichkeit, die Strafe zu mildem oder ganz von
Strafe abzusehen:
nach § 129a Abs. 5 in Verbindung mit § 129 Abs. 6 StGB;
Voraussetzung: Der Täter muß sich bemühen, das Fortbestehen
einer "terroristischen Vereinigung" oder die Begehung einer ihrem
Ziel entsprechenden Straftat zu verhindern; oder:
Er muß freiwillig sein Wissen so rechtzeitig einer Dienststelle
offenbaren, daß Straftaten, deren Planung er kennt, noch verhindert
werden können. Straferlaß oder -milderung erhält der
Täter nach dieser Vorschrift sozusagen nur für "tätige
Reue", für ein Handeln, das präventiv auf die Verhinderung
künftiger Straftaten oder auf die Auflösung einer
"terroristischen Vereinigung" gerichtet ist. Die Regelung ist
nicht anwendbar, wenn es um die Aufklärung bereits begangener
Straftaten nach § 129a bzw. um die Ergreifung von Mittätern
geht.
Bei der angestrebten gesetzlichen "Kronzeugen"- Regelung
sollte es also nicht in erster Linie um die Verhinderung von Straftaten
gehen - eine solche Vorschrift existierte ja schon -, sondern um die
Legalisierung eines bereits erprobten Ermittlungsinstruments, das der
Verbesserung der Ermittlung begangener Taten und der Verfolgung von
Tätern dient. "Belohnt wird nicht die >Umkehr< des
Täters und sein Wille zur Wiedergutmachung der Tat, soweit dies
möglich ist, sondern die Menge von verratenen Informationen über
Mitglieder, SympathisantInnen und Strukturen politischer Gruppen."
Nachdem nun mehrere Versuche zu Zeiten der sozialliberalen
Regierungskoalition (nach der Lorenz- Entführung in Berlin und als
Reaktion auf die Beweisschwierigkeiten im Stammheimer Baader- Meinhof-
Prozeß) und letztmalig 1986 (nach dem Mord an dem Diplomaten Gerold
von Braunmühl) gescheitert waren, kam schließlich Ende der
achtziger Jahre (1989) trotz heftiger wissenschaftlicher Bedenken und
politischer Proteste eine erste gesetzliche "Kronzeugenregelung bei
terroristischen Straftaten" zustande, die bis zum 31. Dezember 1992
befristet ist. Diese Befristung offenbart den Charakter der Vorschrift als
Sondergesetz. Schon früher war man, etwa im Rechtsausschuß des
Bundestages, der Auffassung, in einer solchen Befristung "komme nur
das schlechte Gewissen des Gesetzgebers zum Ausdruck"
Nach dieser Kronzeugenregelung kann nun der Generalbundesanwalt mit
Zustimmung eines Strafsenates des Bundesgerichtshofs von der
Strafverfolgung absehen (§1) oder das Gericht kann im Urteil von
Strafe absehen oder die Strafe
nach seinem Ermessen mildern (§ 2):
wenn "der Täter oder Teilnehmer einer Straftat
nach § 129a des Strafgesetzbuches oder einer mit dieser Tat
zusammenhängenden Straftat selbst oder durch Vermittlung eines Dritten
gegenüber einer Strafverfolgungsbehörde sein Wissen über
bestimmte Tatsachen (offenbart) deren Kenntnis geeignet ist,
1. die Begehung einer solchen Straftat zu
verhindern,
2. die Aufklärung einer solchen Straftat, falls er
daran beteiligt war, über seinen eigenen Tatbeitrag hinaus zu
fördern oder
3. zur Ergreifung eines Täters oder Teilnehmers einer
solchen Straftat zu führen",und "wenn die Bedeutung dessen,
was der Täter oder Teilnehmer offenbart hat, insbesondere im Hinblick
auf die Verhinderung künftiger Straftaten, dies im Verhältnis zu
der eigenen Tat rechtfertigt".
Diese Abwägung nach § 1 wird vom Generalbundesanwalt
vorgenommen, womit ihm richterliche Befugnisse und Gewalt übertragen
werden (daran ändert grundsätzlich auch die Pflicht zur
Zustimmung des BGH nichts) - eine Kompetenzverschiebung, die der ehemalige
Präsident des Bundesgerichtshofes, Gerd Pfeiffer, als unzulässige
Anmaßung richterlicher Gewalt durch den Generalbundesanwalt
kritisiert.
Kommt es doch zu einer Anklage gegen den Kronzeugen, so kann das Gericht
von Strafe absehen oder die Strafe mildem (§ 2); dabei kann es
zugunsten des Kronzeugen bis zum gesetzlichen Mindestmaß der
angedrohten Strafe herabgehen oder statt auf Freiheitsstrafe auf Geldstrafe
erkennen. Mit Zustimmung des Generalbundesanwalts kann es das Verfahren
auch einstellen (nach § 153b Abs. 2 StPO).
Werden dem Kronzeugen Tötungsdelikte, also Mord (§ 211 StGB)
oder Totschlag (§ 212) zur Last gelegt, dann ist nach § 3 ein
Absehen von Verfolgung und Strafe nicht und eine Strafmilderung nur bis zu
einer Mindeststrafe von drei Jahren (statt Lebenslänglich bzw. einer
langjährigen Freiheitsstrafe) zulässig - eine Regelung, die im
Vorfeld der Legalisierung besonders umstritten war; ursprünglich
sollte auch Straffreiheit für Mörder möglich gemacht
werden.
Trotz der letztgenannten Einschränkung treffen auf diese zeitlich
befristete Ausnahmeregelung mit Maßnahmecharakter sämtliche
Bedenken zu, die in der Vorphase der Verrechtlichung von wissenschaftlicher
und politischer Seite artikuliert wurden: Achtzig Strafrechtslehrer und die
Strafverteidigervereinigungen protestierten; in einer Experten-
Anhörung des Bundestags- Rechtsausschusses lehnten 1986 18 von 20
Sachverständigen die Kronzeugenregelung ab; selbst die Gewerkschaft
der Polizei (GdP) hält sie für "rechtsstaatlich und
rechtsethisch nicht vertretbar"; der Präsident des
Oberlandesgerichts Braunschweig, Rudolf Wassermann, äußerte die
feste Überzeugung, "daß unser Rechtssystem den Kronzeugen
nicht verträgt",57 andere sprechen von "Komplizenschaft mit
Mördern", von "Strafvereitelung itn Amt" sowie von
einem "Offenbarungseid" des Rechtsstaates. Die Bedenken und
Einwände lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
1. Die Privilegierung des Kronzeugen verstößt gegen eine
Reihe von verfassungsrechtlichen Prinzipien, so gegen das Rechtsstaats-
(Art. 20 1 GG), das Verhältnismäßigkeits- und das
Gleichheitsprinzip (Art. 3 1 GG). Letztgenannter Verfassungsgrundsatz ist
dadurch verletzt, daß der Kronzeuge durch die Gewährung von
Straffreiheit oder Strafmilderung im Vergleich zu seinen Mittätem und
zu anderen Straftätern bevorzugt, also ungleich behandelt wird. Diese
Ungleichbehandlung per Sondergesetz ist willkürlich und kann auch
nicht mit der so beliebten Formel von der "besonderen
Gefährlichkeit des Terrorismus" sachlich begründet
werden.
2. Die gesetzliche Zulassung des Kronzeugen verstößt auch
gegen eine Reihe von strafprozessualen Prinzipien: So wird das sog.
Legalitätsprinzip durchbrochen, wonach die Staatsanwaltschaft zur
Verfolgung jeder Straftat ohne Ansehen der Person verpflichtet ist (§
152 II StPO); zwar gibt es eine ganze Reihe von Einschränkungen dieses
Prinzips (§§ 153 if StPO), doch bedeutet die Nichtverfolgung bzw.
Straffreistellung von Kronzeugen, die meist in schwerwiegende Straftaten
verwickelt sind, praktisch eine Freistellung vom Legalitätsgrundsatz
frei nach ermittlungsstrategischer Opportunität. Nach Auffassung
mancher Kritiker wird dadurch das "Rechtsbewußtsein der
Allgemeinheit empfindlich erschüttert... Aber auch der Kronzeuge wird
mit dem doppelten Makel belastet: Er bleibt ein unbestrafter Verbrecher,
ist aber darüber hinaus auch ein Verräter. Und wer den Verrat
liebt, liebt noch lange nicht den Verräter. Damit können auch bei
der Resozialisierung des Kronzeugen erhebliche Probleme
entstehen".
3. Der Kronzeuge ist das Gegenteil eines klassischen Zeugen: Selbst tief
in Schuld verstrickt, kauft er sich durch den Verrat seiner Mitgenossen vom
Staat frei, der seinerseits bei der Terrorismusbekämpfung unter
besonderem Erfolgszwang steht:
ein Handel, der in der Regel in Untersuchungshaft, zumeist unter
Isolationshaftbedingungen, angebahnt und perfekt gemacht wird, in einer
örtlichen und psychischen Situation also, in der die Grenzen zwischen
Versprechen eines Vorteils,
Täuschung und Unterdrucksetzen äußerst fließend sind
(vgl. § 136a StPO "Verbotene Vernehmungsmethoden") und in
der ausschließlich die eine Seite, die staatliche, die Bedingungen
diktiert;
ein Handel, der den frisch gekürten Kronzeugen vom Mitbeschuldigten
zum Ermittlungsgehilfen der Staatsanwaltschaft und Polizei transformiert,
ihn in den staatlichen Verfolgungsapparat integriert (ebenso wie seine
Verteidiger), dem repressiven und präventiven Staatsschutz nutzbar
macht und so gegen das Verbot des Rollentauschs (vom Beschuldigten zum
Zeugen und Fahndungsinstrument) im Strafprozeß verstößt;
ein Handel, der die ohnehin kaum gewährleistete Waffengleichheit im
Strafprozeß vollends zunichte macht: "Da der Kronzeuge als
reines Ermittlungsinstrument ausschließlich
Überführungszwecken dient, erhöht sich damit das ohnehin im
Ermittlungsverfahren vorhandene Übergewicht der
Strafverfolgungsbehörden deutlich."61 Ein Umstand, der im
Gerichtsverfahren noch dadurch verstärkt wird, daß der Einsatz
von Kronzeugen, ebenso wie der von V-Leuten und Untergrundagenten,
zwangsläufig zur exekutiven Manipulation von Gerichtsverfahren
führt. Insbesondere durch die Vorenthaltung dieser Zeugen aus
"Sicherheitsgründen" oder "Gründen des
Staatswohls" und durch die mittelbare Einführung ihrer Aussagen
per Vemehrnungsprotokoll und "Zeugen vom Hörensagen", wird
das prozessuale Öffentlichkeits- und Unmittelbarkeitsprinzip
ausgehöhlt. Eine Überprüfung der Glaubwürdigkeit des
Zeugen durch die Angeklagten und ihre Verteidigung wird praktisch
verhindert (s. dazu ausführlich im vorigen Kapitel).
4. Die Kronzeugenregelung geht davon aus, der potentielle Kronzeuge habe
seine ethischen Wertvorstellungen gewandelt und sich auf die geltenden
Werte dieser Gesellschaft rückbesonnen, wolle also dem bewaffneten
Kampf entsagen und künftig keine Straftaten mehr begehen; nur der
Verrat seiner bisherigen Genossen und politischen Zusammenhänge
könne diesen Sinneswandel hinreichend deutlich machen; für diese
denunziatorische Fahndungshilfe gebühre ihm eine angemessene
Gegenleistung: Straferlaß oder Strafmilderung, darüber hinaus
Geld und ein neues Leben ("Zeugenschutzprogramm"). Mit der
Rückbesinnung auf die geltenden Werte dieser Gesellschaft wird er
sogleich mit ihnen hautnah konfrontiert: Der Handel, auf den er sich
einläßt, seine Leistung und die Gegenleistung des Staates haben
mit Moral und politischer Ethik sowenig zu tun wie der Durchschnitt der
kapitalistischen Handelsgeschäfte in dieser Gesellschaft. Insofern
scheint in der Tat, so könnte man zynisch schlußfolgern, bereits
mit dem Kronzeugen- Deal ein wesentliches Stück
"Resozialisierung" gelungen.
5. Eines der gewichtigsten Bedenken gegen die Figur des Kronzeugen
resultiert aus den vorgenannten Argumenten: die mangelnde
Glaubwürdigkeit jener bestochenen, gekauften "Zeugen", die
ihre Aussagen, die nicht selten wie Fahndungsexpertisen klingen, in bestem
Polizeijargon verfaßt, eigentlich für ein rechtsstaatliches
Strafverfahren von vornherein wertlos machen müßte. Das alles
dominierende Interesse, die eigene Rolle zu schönen und die der
Tatgenossen zu überhöhen, das verständliche Interesse an
Straffreiheit oder zumindest an milder Beurteilung durch das Gericht, das
existentielle Interesse an dem Schutz und der Unterstützung durch die
Sicherheitsorgane - diese Interessenkonstellation und Abhängigkeit von
staatlichen Instanzen erzeugt einen ungeheuren psychischen Druck und damit
die Gefahr, letztlich mehr zu sagen, als man weiß. Die
Sicherheitsorgane sind unersättlich in ihrem Drang, Verdächtiges
zu erfahren, politische, soziale und organisatorische Zusammenhänge zu
ergründen, kriminogene Zonen auszumachen, Kontaktpersonen zu verdaten.
Ganze Fahndungsbücher, Lichtbildmappen und andere Dokumente werden mit
den Kronzeugen systematisch durchgegangen, immer auf der Lauer nach
interpretierbaren Reaktionen und Informationen, immer darauf aus, Kontakt-
und Phantombilder zu erstellen. Wo der Verrat um des eigenen
persönlichen Vorteils willen gefordert ist, da sind falsche
Bezichtigungen geradezu vorprogrammiert. Der Beweiswert eines
solchermaßen gekauften Zeugen sinkt gen Null - eine gerichtlich nur
selten und unvollkommen gewürdigte Tatsache, die etliche
"Terrorismus"- Verfahren, zusätzlich zu den sonstigen
Gründen, gelinde gesagt erheblich ins Zwielicht brachte.
Nicht verwunderlich also, daß die Strafverteidigervereinigungen
schon im Jahre 1987 alle Verteidigerinnen aufforderten, "ihre
Mandanten eindringlich davor zu warnen, sich als Kronzeugen
mißbrauchen zu lassen".
Der erste Anwendungsfall 1990
Inzwischen ist die umstrittene Kronzeugenregelung erstmals in der
bundesdeutschen Justizgeschichte zur Anwendung gekommen: Der
geständige Angeklagte Ali Cetiner, der den Ermittlungsorganen als
ehemaliger leitender Funktionär der kurdischen Arbeiterpartei PKK
gilt, wurde im März 1990 von einer Schwurgerichtskammer des Berliner
Landgerichts wegen Mordes an einem Parteidissidenten zu fünf Jahren
Freiheitsstrafe verurteilt - statt, wie nach dem Strafgesetzbuch zwingend
vorgeschrieben, zu Lebenslänglich. Die neue Kronzeugenregelung machte
es ganz offiziell möglich: Denn Cetiner hatte zuvor gegenüber der
Bundesanwaltschaft umfassend und in mehreren Versionen über die PKK
"ausgepackt". Er hat damit zu einer ganzen Reihe von Haftbefehlen
beigetragen und darüber hinaus für das bereits mehrfach
beschriebene Großverfahren gegen mutmaßliche PKK- Mitglieder
vor dem OLG Düsseldorf belastende Aussagen beigesteuert.
Cetiner gilt als "wichtigster Zeuge im Düsseldorfer
Prozeß" (so der Chefermittler in Sachen PKK). Einer der BAW-
Ankläger im PKK- Verfahren, Oberstaatsanwalt beim BGH, Lothar Senge,
bekannte während seiner Zeugenaussage in dem Berliner Kronzeugen-
Prozeß: "Ich muß gestehen, daß in einigen
Anklagepunkten sehr hypothetische Indizienketten aufgestellt worden sind.
Cetiner hat uns durch seine Aussagen die Dinge rund gemacht."
Die zunächst "sehr hypothetische", von Senge auch mal
"mutig" genannte "Indizienkette", die offenbar zur
Anklage gegen 18 Kurdlnnen vor dem OLG Düsseldorf ausgereicht hatte,
wurde also im Nachhinein durch einen Mitbeschuldigten weitgehend
bestätigt - einem Mitbeschuldigten, der nach eigenem
Eingeständnis selbst an einem Mord beteiligt war, der sich monatelang
in der Verfügungsgewalt der Ermittlungs- und Anklagebehörden
befunden hatte und der sich als Kronzeuge, um den Preis des Verrats an
seinen früheren Genossen, mit vereinter Hilfe staatlicher Instanzen
aus der Schlinge der lebenslänglichen Verurteilung ziehen konnte.
Nicht verwunderlich, daß manche Kritiker davon sprechen, der Staat
paktiere auf diese Weise mit Mördern, kaufe angesichts der
offenkundigen Interessenlage solcher Kronzeugen notgedrungen
äußerst zwielichtige "Zeugen" cm, schütze sie
anschließend und leiste auch noch großzügige Hilfe bei der
Gründung einer neuen Existenz (Wohnung, Arbeitsplatz usw.), die
Cetiner tatsächlich von der Bundesanwaltschaft versprochen worden
war.
Der Sachverständige Dr. med. Celler schilderte den akuten Zustand
des angeklagten Kronzeugen vor Gericht folgendermaßen:67 Cetiner, 36
Jahre alt, sei um
mindestens zehn Jahre vorgealtert, körperlich schwach, seine Psyche
zusammengebrochen. Er sei schwer depressiv, hoffnungslos, ohne Antrieb.
Seine Haftsituation empfinde er als miserabel und seine besondere Bewachung
nicht als Schutz, sondern als Schikane. Sein Intelligenz- Quotient betrage
nur 76, was erstaunlich niedrig sei. Cetiner, so der Sachverständige
sinngemäß weiter, sei völlig erfolglos, gescheitert sowohl
politisch als auch familiär, eine schwache Persönlichkeit, die
dem Fanatismus und der Indoktrination innerhalb der PKK erlegen sei.
Kann es da nicht möglich sein, daß er auch den
Vernehmungsmethoden der Ermittler erlegen ist, dem Wechselbad von
Zuckerbrot und Peitsche, der staatschützerischen Instrumentalisierung
in einer absoluten Abhängigkeits- und Zwangslage
- und dann letztendlich Aussagen produzierte, die schließlich
wundersamerweise genau die "sehr hypothetische und mutige
Indizienkette" der Ankläger im PKK- Verfahren
bestätigten?
Das BKA betreut solche "gefährdeten Zeugen" der Anklage,
die möglicherweise die Rache ihrer verratenen Genossen fürchten
müssen, sehr intensiv. Dafür gibt es spätestens seit 1987
ein eigenes "Zeugenschutzprogramm", das sowohl auf die in
Freiheit lebenden (Kron-) Zeugen Anwendung findet, als auch auf inhaftierte
Zeugen der Anklage. Die "Koordinationsstelle Zeugenschutz" beim
BKA sorgt für deren Unterkunft, ggfls. für wechselnde Wohnorte,
Verpflegung, Kleidung, Geldzahlungen und sonstige Vergünstigungen
sowie für Bodyguards und kugelsichere Westen bei ihren diversen
Gerichtsauftritten - eine wahrhaft fürsorgliche Belagerung, die zu
einer vollständigen Abschirmung nach außen und zu einer
umfassenden Abhängigkeit von den Ermittlungsbehörden
führt.
Mit dem im März 1990 abgeschlossenen Berliner Kronzeugen- Verfahren
wurden entscheidende Fakten gesetzt, die in das noch laufende
Düsseldorfer "Terrorismus"- Verfähren gegen
zunächst 18 (später 16) mutmaßliche Mitglieder bzw.
Unterstützter der kurdischen PKK unmittelbar hineinwirkten; die
Verteidigung und das Gericht wurden dadurch in ihrem jeweiligen Wirken
drastisch eingeschränkt: Mit dem Berliner Strafmaß- Rabatt-
Urteil wurde Cetiner als Kronzeuge gerichtlich anerkannt, er und seine
teils wirren, oftmals widersprüchlichen Aussagen galten damit als
prinzipiell glaubwürdig. Auf diese Weise wurden ohne Kenntnis der
Düsseldorfer Akten entscheidende Punkte des PKK- Verfahrens bereits
vorweggenommen, die eigentlich dort noch zu beweisen gewesen wären -
etwa Aussagen über Personen und Strukturen der PKK und insbesondere
die Feststellung, daß es sich bei der PKK oder bei Teilen von ihr um
eine "terroristische Vereinigung" handele Gleichwohl mußte
das Düsseldorfer OLG ein Jahr später indirekt eingestehen,
daß der Kronzeuge im PKK- Verfahren doch nicht halten konnte, was die
Anklagebehörde (sich von ihm) versprach: Das Gericht bot nämlich
im März 1991 - nach fast 120 Verhandlungstagen - insgesamt acht
Angeklagten des PKK- Prozesses an, ihr Verfahren gemäß §
153 StPO ("Nichtverfolgung von Bagatellsachen") einzustellen.
Begründung: Der Kronzeuge Cetiner habe "seine früheren
Angaben" zu Binnenstruktur und Bestrafungspraktiken der PKK inzwischen
"erheblich relativiert" und die Aussagen des
"bestgeschützten Zeugen des BKA", Nusret A., zur PKK-
Parteistruktur in Europa beruhten, so das Gericht, "weitgehend auf
Kenntnis vom Hören- Sagen und in vielen Punkten wohl auch eher auf
Vermutungen als auf Wissen". Die betroffenen Angeklagten, die bislang
der Öffentlichkeit als "Top- Terroristen" präsentiert
wurden, lehnten diese gerichtliche Einstellungsanregung allerdings ab - sie
erwarten Freisprüche oder die Einstellung des gesamten Verfahrens.
Zurück zum Berliner Kronzeugen- Verfahren gegen den
Hauptbelastungszeugen Cetiner. Prozeßbeobachter der Berliner
"Roten Hilfe" schildern ihren Eindruck von diesem ersten
offiziellen Kronzeugen- Prozeß: "Erinnerte doch der gesamte
Prozeß eher an ein abgekartetes Spiel, denn an einen
Strafprozeß. In bisher nicht dagewesener Eintracht saßen sich
die Verteidigung Cetiners, Staatsanwaltschaft und das Gericht
gegenüber, warfen sich ab und an freundlich die Bälle zu und
verfolgten unübersehbar dasselbe Ziel, Cetiner als Kronzeugen mit
einer reduzierten Strafe aus dem Gericht zu bekommen." Was denn auch
perfekt gelungen ist. "Der Spiegel" sprach in diesem Zusammenhang
anschaulich von einem Strafprozeß, der "nach den Regeln des
orientalischen Basars" ablaufe. Doch da wird noch mehr um den Preis
gerungen als in jenem Verfahren.
Weitere Kronzeugen- Prozesse
Weitere Kronzeugen- Handelsgeschäft nach der neuen gesetzlichen
Regelung standen 1991 ins mittlerweile gesamtdeutsche Haus: Einige der in
der ehemaligen DDR festgenommenen Ex- RAF- Mitglieder, die dem
"Terrorismus" längst abgeschworen hatten, boten sich der
Bundesanwaltschaft als unerwarteten Kronzeugen- Nachschub an. Und die
Bundesanwaltschaft akzeptierte.
Der zweite Kronzeugenprozeß fand erstmals gegen ein ehemaliges
RAF-Mitglied - vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht statt. Dieser
Prozeß sollte, bezogen auf die RAF, "Pilotfunktion" haben.
Allerdings wurden dabei manche Erwartungen enttäuscht: Werner Lotze,
angeklagt wegen Mordes, Mordversuchs in mehreren Fällen, zweier
Banküberfälle und wegen eines Sprengstoffanschlags, wurde im
Januar 1991 zu zwölf Jahren Haft verurteilt - äußerst wenig
für Mord und Mordversuche (sonst zwingend lebenslänglich), aber
doch ziemlich viel für einen Kronzeugen der Anklage, der sich
geständig zeigte und dabei auch Taten gestand, die ihm bisher gar
nicht zur Last gelegt worden waren.76 Doch das Gericht ging davon aus,
daß es sich bei Lotze nicht um den vom Gesetzgeber angepeilten
"klassischen Kronzeugen" handele, dessen Aussagen zu
unmittelbaren Fahndungserfolgen führen; solche seien bislang
jedenfalls "nicht feststellbar" -nicht verwunderlich, wie das
Gericht befand: schließlich habe Lotze zehn Jahre lang abseits der
RAF in der früheren DDR gelebt: "historisch interessante
Aufklärung früherer Straftaten" falle jedoch nicht unbedingt
unter die Kronzeugenregelung.
Und in der Tat hatte der Gesetzgeber jene Alt- Fälle aus der Ex-
DDR, allesamt frühe Aussteiger, nicht im Blick, sondern die noch
aktiven RAF-Mitglieder und ihre aktuelle Abkehr vom
"Terrorismus". Trotz dieser Tatsache hat der Generalbundesanwalt
gegen das Münchener Urteil - verkehrte Welt in Kronzeugen- Prozessen -
in seltener Einigkeit mit der Verteidigung zugunsten des Verurteilten
Revision eingelegt, um in nächster Instanz (vor dem BGH) vielleicht
doch noch ein "richtiges" Kronzeugen- Urteil mit angemessenem
Rabatt zu erwirken. Schließlich sollen auch diese Urteile als
politisches Signal an die noch aktiven RAF-Kader dienen: als positives
Signal, endlich "reinen Tisch" zu machen und damit von der
zeitlich begrenzten Kronzeugenregelung noch rechtzeitig zu profitieren
(womöglich bleibt dies allerdings eine pure Illusion, angesichts der
unstreitigen Erkenntnis, daß es sich bei den RAF-Kämpfern um
hoch motivierte Täter mit hohem moralischen Anspruch handelt - der
RAF-Aussteiger Baptist Ralf Friedrich spricht von "furchtbaren
Moralisten" die sich auf ein solch verräterisches
Handelsgeschäft ebensowenig einlassen werden, wie auf die mehrfache
Auslobung von mehreren Millionen DM für Aussteiger und
Denunzianten.
Auf ein politisches Signal hoffen indes andere: nämlich einige der
in der DDR bereits "resozialisierten" und geläutertem Ex-
Terroristen. So z.B. Susanne Albrecht, der u.a. die Ermordung des Dresdner-
Bank- Chefs Jürgen Ponto im Jahre 1977 zur Last gelegt wird.79 Doch
auch sie wurde entäuscht: Ihr Ausstieg aus der
"Terrorszene", der sich in ihrem jahrelangen DDR- Asyl
manifestierte, sowie Selbstbezichtigungen und auf über zehn Jahre alte
Taten bezogene Beschuldigungen haben zwar ausreicht, dem
"Lebenslänglich" zu entrinnen, nicht aber um weitergehende
Vergünstigungen zu erzielen: Ihr Verfahren vor dem OLG Stuttgart
endete im Juni 1991 ebenfalls mit zwölf Jahren Freiheitsstrafe -
genauso wie es Werner Lotze erging.
Lotze wollte nicht, so machte er vor seinem Prozeß geltend,
daß seine belastenden Aussagen, sein Wissen über die RAF
"als Ware betrachtet" werde, mit der er um Vergünstigungen
feilschen wolle. "Doch genau so ist es gekommen: Die Ware wurde als
minderwertig eingestuft. Der Warencharakter der Aussagen liegt in der Natur
des Kronzeugengesetzes."
|