Aussageverweigerung wieder als politische Praxis etablieren
Aussageverweigerung stillschweigen?
von: Gemeinsames Antirepressionsbündnis
Wir haben den folgenden Text als Beitrag zu der längst fälligen
Diskussion um Aussageverweigerung verfasst, da auch wir von der
Anzahl der Aussagen/Einlassungen in Göteborg und Genua überrascht
waren.
Der Text befasst sich mit einigen Überlegungen zu den Aussagen
in Göteborg /Genua, und zu Aussageverweigerung im Allgemeinen, einem
Thema, dessen Diskussion wir im Hinblick auf die sogenannten Sicherheitsgesetze
in der BRD und die Gesetzesverschärfungen in der EU für dringlichst
erforderlich halten.
Grundsätzlich vertreten wir das Prinzip "es gibt keine Gründe
für Aussagen", weder die Androhung von langjährigen Haftstrafen,
U-Haft, noch Sprachbarrieren im Ausland. Gerade weil Mensch die
Sprache nicht versteht und er/sie weder die Rechtslage kennt, noch
das Konstrukt der Staatsanwaltschaft, darf es zu keiner Aussage
kommen.
Leider ist es so, das Aussageverweigerung zu einer individualistischen
Entscheidung geworden ist. Der Verlust eines Gefühls kollektiver
Stärke trägt dazu maßgeblich bei. Es ist keine Überlegung mehr,
für ein "Prinzip" in den Knast zu gehen. Dies ist in der
Diskussion schon länger als was "martyrerhaftes" belegt.
Den deutlichen Ausdruck dafür sehen wir in der Argumentation und
Arbeitsweise der Soligruppe, nach dem Motto: Hauptsache die Gefangenen
kommen so schnell wie möglich raus.
Ein weiterer Punkt ist unserer Meinung nach, daß keine/r mehr
damit rechnet längerfristig einzufahren. Dies war vor mehreren Jahren
anders. Durch die enorme Repression in den 70er und 80er Jahren,
war die Beschäftigung mit Knast viel intensiver, was mensch auch
an Büchern wie "Ratgeber für Gefangene" oder an Zeitschriften
wie die leider eingestellte "Durchblick" sehen kann. Es
ist aber immer noch Notwendig die Knastsituation theoretisch durchzuspielen
und Konsequenzen und Verfahrensweisen mit FreundInnen zu besprechen.
Das mindert das lähmende Gefühl von Unsicherheit unter den einschüchternden
Umständen im Knast.
Wir hatten den Eindruck, daß, obwohl die Schüsse in Göteborg ein
Thema waren, die Möglichkeit in Genua einzufahren für viele nicht
real war. Zwar war vielen von uns bewußt, daß es zu schweren Auseinandersetzungen
mit den Bullen kommen wird, trotzdem waren fast alle vom Ausmaß
der Repression und Gewalt überrascht.
Auch wir, als Antirepressionsgruppe, haben es versäumt, im Vorfeld
Veranstaltungen zu Aussageverweigerung und der Rechtslage in Italien
zu machen.
Speziell bei Genua wurde ein weiteres Problem deutlich, über das
selten diskutiert wird: Wie gehen wir in der Situation direkter
oder indirekter persönlicher Betroffenheit mit Aussageverweigerung
um? Oder anders gefragt:
Welchen Unterschied macht es für uns, wenn die Gefangenen enge
FreundInnen sind? Darf dies bei Aussageverweigerung eine Rolle spielen,
wenn mensch bedenkt, dass alle Gefangenen FreundInnen haben? Den
Gefangenen in Genua wurde von verschiedenen Einzelpersonen und Gruppen
zu Einlassungen geraten. Hier ist der erste Fehler im Umgang mit
dem Begriff. Einlassung ist ein juristischer Begriff und verdeckt,
wie viele juristischen Wörter, das eigentliche Geschehen. Einlassungen
sind immer, außer bei einem Prozess, erst mal Antworten auf Fragen.
Meist sind dies "belanglose" Fragen, aber was diese bestätigen
oder nicht, kann mensch nicht wissen. Auch gibt es keine/n die/der
sagen kann daß sie/er die konkrete Verhörsituation überblicken und
deshalb das Verhör rechtzeitig abbrechen kann. In dem Moment, indem
Fragen nicht mehr beantwortet werden, kann dies von den Bullen oder
der Staatsanwaltschaft als "Beweis" angesehen und gegen
eine/n verwendet werden. Was bis zu dem "Abbruch" des
Verhörs bereits bestätigt oder gesagt wurde, weiß ausserdem keine/r.
Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen einem Verhör (Bullen/Staatsanwaltschaft)
und dem eigentlichen Prozess. Bei einem Prozess kann die "Einlassung"
aus einem vorgelesenen Statement (Prozesserklärung) bestehen, das
am Anfang oder Ende vorgetragen wird. Mensch kann, muß aber keine
Fragen beantworten. Der größte Unterschied besteht allerdings darin,
daß mensch bei einem Prozess weiß, welche "Vergehen" sie/er
begangen haben soll und sich konkret dazu äußern kann, während sich
bei einem staatsanwaltschaftlichen Verhör, bei den Bullen oder der/dem
Vernehmungs- / HaftrichterIn die Beschuldigungen "ändern"
können. Mensch weiß nicht, welche Vorwürfe letztendlich zu Anklagen
werden.
Gerade in diesem Punkt ist die Rolle der AnwältInnen in Genua
ist ein großes Problem gewesen. Uns wurde mehrfach gesagt, daß diese
immer wieder auf Aussagen drängten. Dabei wurde auch immer wieder
gesagt das Mensch damit "Kooperationsbereitschaft" zeigt.
Dazu gibt es eigentlich nur zu sagen: Es ist nicht Sache der Linken,
kooperationsbereit einem Staat und seinen Rechtssystem gegenüber
zu sein.
Oft vergessen wird, das AnwältInnen eine bestimmte Funktion innerhalb
des Rechtssystems einnehmen. Es ist durchaus "üblich",
auch hier in Berlin, Menschen zu Aussagen zu raten oder über ZeugInnenaussagen
zu versuchen, die Leute frei zu kriegen. Dies ist ihr Job. Unsere
Sache ist es, den AnwältInnen zu sagen, das wir dies ablehnen und
das sie unsere Strategie unterstützen sollen.
Mit dem was in Göteborg und Genua passiert ist, wird es zur Normalität
Aussagen zu machen. Diese Praxis untergräbt nicht nur ein politisches
Prinzip, sondern schwächt die Position von Leuten, die die Aussage
verweigern und schafft die Stimmung Aussagen seien "normal".
Wenn alle die "unschuldig" sind Aussagen machen, wird
Aussageverweigerung faktisch zu einem "Schuld"-geständnis.
Sicher, Aussageverweigerung ist oft der schwerere Weg, besonders
wenn mensch (teilweise bis zum Prozess) in U-Haft sitzt, und
führt i.A. nicht dazu, daß Mensch schnell entlassen wird, wie die
lange U-Haft der wegen RZ-Verdachts sitzenden GenossInnen zeigt.
Trotzdem, jede Aussage oder Einlassung die eine/r von "uns"
macht, trägt dazu bei das "Recht" auf Aussageverweigerung,
daß juristisch jeder/m zusteht, immer mehr in seiner Funktion zu
untergraben.
Unsere Kritik:
An die Ex-Gefangenen:
Die Informationen über die Haftbedingungen und was so diskutiert
wird, waren meist ungenügend ( wobei uns nicht klar ist, ob dies
an euch oder den Soli-Gruppen lag).
Es gibt anscheinend keine Bereitschaft die Wiedersprüche und Fehler
aufzuarbeiten, die Aussagen sind kein Thema. Uns wird jede Möglichkeit
genommen, mit euch eine öffentliche Auseinandersetzung zu führen.
An das Umfeld/Soligruppen:
Es gab und gibt ein ziemliches Abblocken von Diskussionen. Informationen
wurden als "privat" betrachtet und nicht, oder kaum, weitergegeben.
Solidaritätsarbeit läuft nicht ohne die "Szene", die
aber braucht Infos.
Außerdem wurde von einem Teil des Umfelds/der Solidgruppen zu
Aussagen geraten. Wir wollen hier nicht spekulieren, vermuten aber,
daß die persönliche Nähe zu den Gefangenen, die fehlende Auseinandersetzung
mit Repression und die Tatsache, dass Einlassungen nicht als Aussagen
gewertet werden, maßgeblich waren.
An beide geht die Kritik, daß es bis heute keine Nachbereitung,
Veranstaltung oder Stellungnahme gab.
An "uns alle" geht die Kritik, daß wir es im Vorfeld
von Ereignissen wie Göteburg und Genua versäumt haben, uns mit der
rechtlichen Situation in den Ländern auseinanderzusetzen und das
wir im Vorfeld keine Strukturen dafür aufgebaut haben, Menschen
im Knast schnell zu helfen.
Wie geht Mensch mit der Situation um? Als erstes fänden wir es
unbedingt erforderlich, daß die Aussagen öffentlich gemacht werden
(sei es im Netz, auf Veranstaltungen, in Infoläden etc.). Es ist
an uns, als dem politischen Umfeld, zu entscheiden wie wir die Aussagen
bewerten.
Und dies betrifft nicht nur die sog. 10er Gruppe, sondern alle
die im Zusammenhang mit den Gegengipfelaktionen in Göteborg und
Genua festgenommen wurden. Also auch die "Diaz-Schule"-Leute
oder die Karawane. Aussagen machen ist keine Privatsache sondern
betrifft die ganze "Szene".
Auch das Verhältnis zu den Anwältinnen, sowie deren Funktion,
muss unbedingt diskutiert werden.
Was spaltet ist nicht die Diskussion sondern die Nicht-Diskussion!!!
Wir fordern mehr Öffentlichkeit und jede/r die /der sich nicht auseinandersetzen
will muß auf jeden Fall ausgeschlossen werden. Wir wollen aber nicht,
dass öffentliche Auseinandersetzung als generelle Legitimierung
für Aussagen verstanden wird, denn für uns gilt: "Jede/r der/die
Aussagen macht läuft Gefahr zur/m VerräterIn zu werden". Wie
wir bereits geschrieben haben: Für uns gibt es keine Gründe Aussagen
zu machen.
Unser politisches Ziel ist es, Aussageverweigerung wieder
als politische Praxis zu etablieren.
Gemeinsames Antirepressionsbündnis, c/o BAMM, Görlitzerstraße
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