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VSA-Verlag, Stresemannstr. 384a, 2000 Hamburg 50, ISBN
3-87975-576-0
Die Offenkundigkeit von Vor-Urteilen
Gerichtliche Beweiskonstruktionen
Wir kommen noch einmal zurück auf den
"Terrorismus"-Prozeß gegen die Journalistin Dr. Ingrid
Strobl (1989): Ihr war von der Anklagebehörde Mitgliedschaft in einer
"terroristischen Vereinigung" nach §129a Strafgesetzbuch und
Beteiligung an einem Sprengstoff- Anschlag vorgeworfen worden. Die
Anklagekonstruktion der Bundesanwaltschaft (BAW) ging damals, wie bereits
im Eingangskapitel dargestellt, etwa folgendermaßen: Sie machte aus
einem Weckerkauf eine Tatmittel- Beschaffung für besagten Anschlag und
leitete dann aus der angeblichen Struktur und Arbeitsweise der
"Revolutionären Zellen" (RZ), die sich zu dem Anschlag
bekannt hatten, eine Mitgliedschaft in einer "terroristischen
Vereinigung" ab - mit der Behauptung, die RZ seien eine solche
"terroristische Vereinigung" gemäß §129a StGB und
Tatmittel würden ausschließlich von RZ- Mitgliedern, nicht von
Außenstehenden besorgt. 0-Ton Anklageschrift des Generalbundesanwalts
vom 26. Mai 1988:
"Es ist mit den in vielen authentischen Schriften der
'Revolutionären Zellen' immer wieder betonten und meist auch
erfolgreich praktizierten Arbeitsprinzipien der Abschottung und
Klandestinität nicht vereinbar, Tatmittel für Anschläge
dieser Vereinigung durch Außenstehende beschaffen zu lassen. Die
Angeschuldigte muß daher Mitglied dieser Organisation sein"
(S.55). Und daraus messerscharf geschlossen: "Muß aus der
Tatsache, daß die Angeschuldigte ein wichtiges Tatmittel für
einen Anschlag der 'Revolutionären Zellen' besorgt hat,
gefolgert werden, daß sie selbst Mitglied dieser Vereinigung ist,
muß sie auch gewußt haben, welche Ziele und Strategien diese
Organisation verfolgt und welche Taten zu deren Durchsetzung von ihr
verübt werden" (S.88). Das Prinzip dieser anklagenden Art von
"Beweisführung": gewagte Schlußfolgerungen aus
schlichten Vermutungen, Hypothesen und unbewiesenen Indizien. Beweise
für die Mitgliedschaft Strobls lagen jedenfalls zu keinem Zeitpunkt
vor, ebensowenig wie Beweise dafür, daß sie um die spätere
Verwendung des von ihr gekauften Weckers überhaupt gewußt
hat.
Beweisvereinfachung per Offenkundigkeitserklärung
Eine solche Situation bringt Anklagebehörden und Gerichte
normalerweise in große (Beweis-) Schwierigkeiten. Nicht allerdings,
oder doch in wesentlich geringerem Maße in politischen
Strafverfahren, insbesondere in sog. Terrorismus- Prozessen: Im Rahmen des
§129a kann einerseits, entgegen sonst geltender strafrechtlicher
Prinzipien, der Nachweis einer konkreten Tatbeteiligung schon mal
entbehrlich sein (über die sog. Kollektivitätsthese) - und zwar
dann, wenn die "Mitgliedschaft" in einer "terroristischen
Vereinigung" konstruierbar ist, die etwa die Verantwortung für
eine inkriminierte Tat übernommen hat. Am "Nachweis" einer
solchen Mitgliedschaft wurde im Strobl- Verfahren, wenn auch letztlich ohne
Erfolg, von Anfang an fleißig gebastelt. Darüber hinaus wird in
derartigen Verfahren schon längst gewohnheitsmäßig zu einer
weiteren Strategie der Beweisvereinfachung gegriffen - nämlich zur
sog. Offenkundigkeit. Auch hierfür ist der Strobl- Prozeß ein
instruktives Beispiel.
Die Strafprozeßordnung verpflichtet das Gericht generell zur
"Erforschung der Wahrheit" (sog. Inquisitionsmaxime). Hierzu ist
die "Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel
zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind"
(§244 Abs.2 StPO). So lautet der Grundsatz der Beweisregelung, von dem
es allerdings etliche Ausnahmen gibt. So darf ein Beweisantrag der
Verteidigung u.a. dann vom Gericht abgelehnt werden, "wenn eine
Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist"
(§244 Abs. 3 StPO). Tatsachen, die vom Gericht als offenkundig
deklariert werden, bedürfen also keines Beweises mehr, auch keines
entlastenden, es sei denn, sie betreffen unmittelbar die
Tatbestandsmerkmale der aufzuklärenden Straftat selbst.
Wann können die Gerichte nun mit der "Offenkundigkeit von
Tatsachen" argumentieren und jene Tatsachen auf diese Weise der
Beweiserhebung im öffentlichen Verfahren entziehen?
"Offenkundigkeit" gilt in der juristischen Terminologie
als Oberbegriff, der die Unterbegriffe "Allgemeinkundigkeit" und
"Gerichtskundigkeit" umfaßt. Als allgemeinkundig
gelten Tatsachen und Erfahrungssätze, so der Bundesgerichtshof,
"von denen verständige Menschen regelmäßig Kenntnis
haben, oder über die sie sich aus zuverlässigen Quellen ohne
besondere Fachkunde sicher unterrichten können, wozu auch allgemeine
wissenschaftlich gesicherte Erfahrungssätze gehören" - also
etwa gesicherte historische und kalendarische Daten, einfachere
physikalische Gesetze und Naturvorgänge sowie Tatsachen und Daten, die
aus Lexika, Geschichtsbüchern, Landkarten, Stadtplänen,
Kalendern, Fahrplänen, Kurszetteln, teilweise aus Funk, Fernsehen,
Zeitungen etc., entnommen werden können. Noch nicht abgeschlossene
zeitgeschichtliche bzw. politische Vorgänge fallen jedoch in aller
Regel nicht unter diese Kategorie der Allgemeinkundigkeit, weil sie sich
noch im Fluß befinden und je nach politischem Standpunkt
unterschiedlich eingeschätzt werden. Insoweit ist also eine
Beweisaufnahme im Verfahren erforderlich.
Als gerichtskundig gelten Tatsachen und Erfahrungssätze, so
die allgemeine Definition, die "der Richter im Zusammenhang mit seiner
amtlichen Funktion und Tätigkeit zuverlässig in Erfahrung
gebracht hat"; dieses Wissen muß in die Verhandlung mitgebracht
werden, darf also nicht erst im laufenden Verfahren erworben sein (sonst
muß Beweis erhoben werden). Dabei können auch die Feststellungen
anderer Richter, von denen das Gericht amtlich erfahren hat, gerichtskundig
sein. Nach herrschender Auffassung erfordert die Gerichtskundigkeit bei
Kollegialgerichten, also den Senaten bei den Oberlandesgerichten, durchaus
nicht die Kenntnis aller Richter; es soll bereits die Kenntnis eines
einzigen Gerichtsmitglieds oder aber der Mehrheit des Gremiums
genügen.
Ausgerechnet im "Karlsruher Kommentar zur
Strafprozeßordnung", herausgegeben vom Präsidenten des
Bundesgerichtshofs Gerd Pfeiffer, ist die Erkenntnis nachzulesen, daß
"in der Praxis der Strafgerichte ... die Gerichtskundigkeit keine
große Rolle" spielt. Das ist durchaus richtig, doch bleibt dabei
schamhaft verschwiegen, daß sie in der vom Karlsruher
Generalbundesanwalt und den Oberlandesgerichten ausgehenden Praxis der
politischen Strafjustiz eine umso größere Rolle spielt - was
wiederum auf deren sonderjustitiellen Charakter verweist.
So verlasen etwa im Strobl- Verfahren des Jahres 1989, zum großen
Erstaunen des Prozeß- Publikums, zwei Richter bereits in den ersten
Verhandlungstagen immer wieder stundenlang Urteile sowie andere Dokumente
aus grauer Vorzeit - was die ZuhörerInnen massenweise zum Gähnen
und schließlich aus dem Saale drängte. Denn der Sinn dieser
Vorlese- Prozedur blieb den meisten anfänglich verschlossen.
Vier Urteile aus den Jahren 1979, 1980 und 1982 sowie diverse RZ-
Schriften (insbesondere der "Revolutionäre Zorn") aus den
siebziger Jahren spielten dabei eine zentrale Rolle. Sie wurden auf
Anordnung des Vorsitzenden Richters auszugsweise verlesen, wie es
hieß "zur Verdeutlichung und Konkretisierung der vom Senat als
allgemeinkundig und gerichtskundig bezeichneten Tatsachen ... hinsichtlich
der Existenz der terroristischen Vereinigung 'Revolutionäre
Zellen' und der von ihr begangenen Straftaten". Mit der Verlesung
galten diese Dokumente als ins Verfahren gegen Ingrid Strobl
eingeführt - obwohl die den Uralt- Urteilen zugrundeliegenden
Sachverhalte offenkundig nichts mit dem aktuell zu verhandelnden Fall zu
tun hatten; obwohl die seinerzeit getroffenen Feststellungen eigentlich
längst überholt sein müßten und obwohl die
Organisationsstruktur und Arbeitsweise der RZ zur Tatsachengrundlage des
Schuldvorwurfs gehörten, über die grundsätzlich Beweis
erhoben werden muß.
Das Gericht hatte gleich zu Beginn des Verfahrens am 21. Februar 1989
eine sog. Offenkundigkeitserklärung verfaßt. In ihr bezeichnete
es bestimmte "Tatsachen" über Existenz, Organisation,
Arbeitsweise und Zielsetzung der "Revolutionären Zellen"
(RZ) als "allgemeinkundig", andere als
"gerichtskundig". Im Wortlaut:
"Aus den ... allgemein zugänglichen
zuverlässigen Informationsquellen wie Presse, Rundfunk und Fernsehen
sind folgende Tatsachen allgemeinkundig und deshalb offenkundig:
Seit 1973 operiert in der Bundesrepublik Deutschland und in
West-Berlin eine auf Dauer angelegte Organisation, die sich ...
'Revolutionäre Zellen' nennt. Zweck dieser Vereinigung ist,
die bestehenden Herrschaftsverhältnisse mit dem Ziel des gewaltsamen
Umsturzes der vorhandenen Gesellschaftsordnung zu bekämpfen. In
Verfolgung dieses Ziels hat die Vereinigung zahlreiche schwere Straftaten
wie Sprengstoff- und Brandanschläge insbesondere gegen
Militäreinrichtungen und Wirtschaftsunternehmen begangen...
Durch die Bearbeitung anderer Strafsachen und durch das Studium der
dem Senat dienstlich mitgeteilten rechtskräftigen Erkenntnisse anderer
Strafgerichte sind dem Senat folgende Tatsachen gerichtskundig und deshalb
offenkundig: Die Mitglieder der Organisation 'Revolutionäre
Zellen' operieren in Gruppen, die nach außen streng abgeschlossen
sind, jedoch untereinander in engem Kontakt stehen und die Zielrichtung
ihrer Anschläge gemeinsam festlegen. Mitglieder der Vereinigung sind
unter anderem folgende Personen gewesen: Gerhard Heinrich A., Enno S.,
Hermann F. ...
Über die vorstehend genannten offenkundigen Tatsachen wird der
Senat keinen Beweis erheben (§ 244 Absatz 3 Satz 2
StPO)."
Solche gerichtlichen "Offenkundigkeitserklärungen" ziehen
sich seit Jahren durch sämtliche sog. Terrorismus- Verfahren - ob es
sich nun um RZ- oder RAF-Prozesse handelt. Sie bergen politisch,
strafprozessual und verfassungsrechtlich brisanten Zündstoff in sich:
Staatsanwaltschaft und Gerichte können nämlich mit der
"Offenkundigkeit" von Tatsachen, die sie angeblich oder
tatsächlich aus früheren Dokumenten bzw. Urteilen beziehen, das
laufende Verfahren nachhaltig beeinflussen und manipulieren, da die derart
deklarierten "Tatsachen", wie bereits erwähnt, prinzipiell
nicht mehr beweisbedürftig sind. Entsprechende entlastende
Beweisanträge der Verteidigung können nach § 244 Abs. 3 StPO
ohne weiteres abgelehnt und damit der öffentlichen streitigen
Verhandlung entzogen werden. Oder aber die Verteidigung wird darauf
verwiesen, den Beweis des Gegenteils anzutreten. Dies bedeutet letztlich,
daß nicht mehr das Gericht Tathandlung und Verstrickung der
Angeklagten nachweisen muß, sondern diese ihre Unschuld - eine glatte
Verkehrung rechtsstaatlichen Prinzipien. Der verfassungsgemäße
Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz) und auf
ein faires Verfahren (Art. 20 GG) wird drastisch beschnitten.
Zur dunklen Geschichte der "Notorietät"
Die sog. Notorietät, also die Gerichtskundigkeit, bildete bereits
im späten Mittelalter ein wesentliches Fundament des
Inquisitionsprozesses gegen "Ketzer" und "Hexen",
"des schlimmsten von Menschen erfundenen Gerichtsverfahrens"
(Lea) in der Geschichte der "Gerichtsbarkeit". So war es nur
folgerichtig, daß das Bürgertum bei seiner Befreiung von den
geistigen und materiellen Fesseln des Feudalismus und seinem Aufstieg zur
Macht bemüht war, sich von dieser und anderen Prozeßmaximen der
Inquisition scharf abzugrenzen; dem bürgerlichen
Strafprozeßrecht galt der Inquisitionsprozeß stets als reine
Barbarei. Als Wesenskern des modernen Strafprozesses wird denn auch die
Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im öffentlichen Verfahren
angesehen. Erst diese eröffnet die Möglichkeit der
Überprüfbarkeit, des Einflusses und Widerspruchs durch die
Angeklagten und ihre Verteidigung.
Dementsprechend zögerte bereits das Reichsgericht in einer seiner
ersten Entscheidungen zur Frage der Notorietät aus dem Jahre 1887, das
Institut der Gerichtskundigkeit in vollem Umfang anzuerkennen, weil es
jenen Grundsätzen der Unmittelbarkeit und des rechtlichen Gehörs
weitgehend widerspreche: "Die sämtlichen Vorschriften der
Strafprozeßordnung über die Beweiserhebung in der
Hauptverhandlung beruhen darauf, daß alles, was auf der Wahrnehmung
beruht, durch die Vernehmung des Wahrnehmenden, alles was beurkundet, durch
Verlesung der Urkunde, alles was der Richter selbst gesehen hat, durch die
richterliche Augenscheinseinnahme in der gesetzlich vorgeschriebenen Form
festzustellen ist."
Mit dieser Begründung hob das Reichsgericht am 15. November 1887
ein Urteil des Landgerichts Potsdam aus dem selben Jahr auf: Dann war als
"gerichtskundig" angesehen worden, daß innerhalb der
sozialdemokratischen Partei eine Verbindung bestehe, die darauf hinarbeite,
die Vollziehung des Sozialistengesetzes ("Gesetz gegen die
gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" vom 21.
Oktober 1978) "durch Verbreitung verbotener Schriften zu verhindern
oder zu entkräften"; dies sei "auch aus den bisher
geführten Sozialistenprozessen ... zu entnehmen", hatte es in
jenem Urteil geheißen, mit dem der Angeklagte in erster Instanz
allein deswegen verurteilt worden war, weil er zu besagter
"Verbindung" gehört habe.
Das Reichsgericht warnte demgegenüber in seiner Revisions-
Entscheidung ausdrücklich vor einer Ausdehnung des Anwendungsbereiches
von Gerichtskundigkeitserklärungen: So sollte nur Gerichtskundiges,
das "auch zur allgemeinen Kenntnis gelangt" ist, den Beweis
überflüssig machen. Insbesondere wies das Reichsgericht
daraufhin, daß es dem bürgerlichen Strafverfahrensrecht
widerspreche, das "angebliche Verbrechen selbst oder einzelne
Tatsachen"‚ die zu den notwendigen "objektiven oder
subjektiven Voraussetzungen" eines Verbrechens gehören, als
offenkundig zu bezeichnen. Weiter wird in der Entscheidung
ausgeführt:
"Daneben kennt das Gesetz keine Gerichtskundigkeit in bezug auf
Thatsachen, welche die Existenz des Verbrechens in objektiver oder
subjektiver Hinsicht bedingen. In bezug auf alle diese Thatsachen ist der
Beweis in der gesetzlichen Form durch die Hauptverhandlung zu
erbringen."
Daß dies insbesondere für die "strafrechtliche"
(De-) Qualifizierung von Vereinigungen als gemeingefährlich,
sozialdemokratisch, kommunistisch, kriminell, terroristisch,
hochverrräterisch, verfassungswidrig etc. gelten muß,
dürfte einsichtig sein, zumal dann, wenn den jeweils Angeklagten eine
strafbare Zugehörigkeit oder Unterstützungshandlung in bezug auf
eine jener Vereinigungen vorgeworfen wird. Zur Begründung des
zitierten Grundsatzes formulierte das Reichsgericht in aller Deutlichkeit:
"Die gegenteilige Annahme würde dahin führen, den
Augeschuldigtenbeweis durch die Notorietät ersetzen zu lassen und der
subjektiven Willkür Thür und Thor zu öffnen."
Das Reichsgericht blieb in der Folgezeit diesen hehren Grundsätzen
jedoch nicht treu und öffnete der Willkür eigenhändig
Thür und Thor. Insbesondere in der Weimarer Republik bediente es sich
des ungeschriebenen Instituts der "Gerichtskundigkeit", und zwar
vornehmlich bei seinem Kampf gegen Kommunisten und all jene, die dafür
gehalten wurden. Es entwickelte im Laufe der Zeit insgesamt acht
Gründe zur gerichtlichen Ablehnung von Beweisanträgen, die dann
schließlich in der NS- Zeit mit der "Großen
Strafprozeßreform" erstmals zum Gesetz erhoben wurden. Darunter
findet sich auch die "Offenkundigkeit" - eine gesetzliche Nazi-
"Errungenschaft" des Jahres 1935, die später unbesehen und
kritiklos ins bundesdeutsche Strafprozeßrecht übernommen
wurde.
Die Problematik der "Offenkundigkeit", mit deren Hilfe nach
Belieben Beweisverhinderung betrieben werden kann, zeigte sich besonders
deutlich in der Anwendungspraxis während der NS- Herrschaft. Die NS-
Gerichte erklärten die faschistische Propaganda und die Lügen der
Goebbels- Presse zu "offenkundigen Tatsachen", womit sie sich den
Beweis insbesondere in Hoch- und Landesverrats Verfahren ersparten. Auf
diese prozeßvereinfachende Weise konnten sie Oppositionelle und
Regime- Gegner als Verbrecher verfolgen, ohne ihnen konkrete Straftaten
nachweisen zu müssen.
Das Reichsgericht bezeichnete es bereits als
"gerichtsnotorisch" und damit als ohne weiteres
"bewiesen", daß "die Kommunistische Partei
Deutschlands ... mit allen Mitteln bestrebt (ist), die bestehende
Verfassung des Reichs und der Länder zu beseitigen und an ihrer Stelle
auf dem Wege über die Diktatur des Proletariats eine
Räteregierung nach russischem Muster zu errichten". Diese Floskel
zieht sich später auch durch eine lange Reihe von NS-
Gerichtsentscheidungen gegen angebliche oder tatsächliche Kommunisten.
In der Diktion des Volksgerichtshofs lautet die entsprechende
Offenkundigkeitserklärung folgendermaßen:
Alle von den Kommunisten in Deutschland verfolgten Ziele und
Bestrebungen sind hochverräterischer Art, da die KPD von jeher darauf
ausgegangen ist, einen Umsturz der in Deutschland herrschenden politischen
Zustände, jetzt insbesondere den gewaltsamen Sturz der
nationalsozialistischen Staatsform und die Errichtung einer Arbeiter- und
Bauerndiktatur nach sowjetrussischem Muster herbeizuführen.
Auf dieser "offenkundigen" Grundlage wurden dann Menschen u.a.
wegen "Beihilfe zur Vorbereitung zum Hochverrat" zu
Gefängnis- und Zuchthausstrafen verurteilt, weil sie etwa eine der KPD
gehörende Schreibmaschine besessen, für die "Rote
Hilfe" bzw. für politische Gefangene Geld gesammelt oder illegale
kommunistische Zeitungen gekauft oder weitergegeben haben sollen oder weil
sie der "Niederlegung eines schlichten Kranzes" am Grabe von
gefallenen Revolutionären überführt worden waren.
Schon bald wurde die gerichtsnotorische Behauptung vom
"hochverräterischen Charakter" auf die SPD, die
Gewerkschaften und alle anderen antifaschistischen oder links-
demokratischen Vereinigungen ausgedehnt: Seit dem Verbot der SPD am 22.
Juni 1933 hielt es das Reichsgericht für "offenkundig",
daß die SPD "hochverräterische Ziele" verfolge -
Beweis wurde darüber nie erhoben. Nach gleichem Muster wurden
sämtliche Aktivitäten der "Sozialistischen
Arbeiterpartei" (SAP) vom Reichsgericht für "offenkundig
hochverrräterisch" erklärt: Hinsichtlich der Ziele dieser
Partei, so Ingo Müller ("Furchtbare Juristen"),
übernahm das Gericht einfach seine ursprünglich für die KPD
entwickelte Routineformel. Insgesamt bezeichnet Müller diese
gesetzliche und gerichtspraktische Entwicklung, mit der die Ablehnung eines
Beweisantrages über das Institut der "Offenkundigkeit" und
weitere Ablehnungsgründe ins freie Ermessen des Gerichts gestellt
wurde, als einen neuen "Schritt zum 'modernen'
Inquisitionsprozeß".
Fortsetzung folgt: in der Bundesrepublik Deutschland
Nach der legendenumwobenen "Stunde Null", dem sogenannten
Neubeginn nach der Befreiung vom Hitler- Faschismus, schickte man sich
alsbald an, wieder auf "Altbewährtes" zurückzugreifen.
Schon mit dem Vereinheitlichungsgesetz von 1950 wurde in § 244
Strafprozeßordnung im wesentlichen die nationalsozialistische
Beweisregelung aus dem Jahre 1935 übernommen - inclusive aller acht
Ablehnungsgründe, also auch der Offenkundigkeitsregelung.
Auch in der Praxis übte sich die Politische Justiz auf der
Grundlage eines restaurierten, weitgefaßten politischen Staatsschutz-
Rechts in verhängnisvoller Kontinuität, und das hieß:
exzessive Kommunistenverfolgung. Abermals bediente sich diese Justiz, die
wiederum in politischen Sonder- Strafkammern und -Senaten organisiert war,
hemmungslos der Offenkundigkeit, um sich der Beweiserhebung in
öffentlichen Verfahren zu entledigen und einmal getroffene
Feststellungen von Verfahren zu Verfahren weiterverwenden zu können -
frei nach der Erkenntnis des Mephisto in Goethes Faust:
"Es erben sich Gesetz' und Recht
wie eine ew'ge Krankheit fort!"
Ausgangspunkt dieser Justiz- Ära der fünfziger und sechziger
Jahre bildete das sog. Fünf- Broschüren- Urteil (StE 3/52) des
Bundesgerichtshofs (BGH) vom 8. April 1952, das in einer Art Gespenster-
Verfahren ohne Angeklagte erging. Auf der Anklagebank
"saßen" derweil 5 Broschüren, die mutmaßlich von
der KPD bzw. SED (DDR) stammten und in denen insbesondere die
revolutionären Verhältnisse in der UdSSR beschrieben wurden.
Diese Schriften, die zuvor beschlagnahmt worden waren, zielten auf eine
Beseitigung der freiheitlich- demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes
- so die Begründung für dieses sog. objektive Verfahren.In den
Gründen des abschließenden BGH- Beschlagnahme- Urteils wird
ausgeführt, daß die SED und jede/r, die oder der mit ihr
zusammenarbeitet oder in irgendeiner Abhängigkeit von ihr steht,
"ein bestimmtes hochverräterisches Unternehmen vorbereitet".
Als Nahziel jenes nicht näher definierten "Unternehmens"
wird die "Errichtung der Diktatur des Proletariats in der
Bundesrepublik", als Fernziel die "Herbeiführung der
klassenlosen Gesellschaft" genannt.
Dieses Urteil, das entgegen der Vorschriften der
Strafprozeßordnung ohne Gewährung rechtlichen Gehörs
erging, ohne Hinzuziehung von Beschuldigten oder Zeugen, dieses Retorten-
Urteil entpuppte sich rasch als richtungsweisend und machte beispiellose
Justiz- Karriere: "Auf diese Weise haben ... Bundesanwaltschaft und
Bundesgerichtshof bewirkt, daß praktisch die (west-) deutschen
Gerichte sich an die Feststellung gebunden fühlen, daß jeder,
der mit SED und KPD in irgendeinem politischen, persönlichen oder
finanziellen Zusammenhang steht, als Hochverräter gilt",
resümierte der liberale Publizist Müller- Meiningen in der
"Süddeutschen Zeitung" vom 21./22. November 1953. Und er
sprach in diesem Zusammenhang vom "Hexeneinmaleins der kollektiven
Schuldvermutung", wonach jeder Kommunist in dieser seiner Eigenschaft
automatisch Hochverräter sei; ein solches Verfahren - so der Publizist
- sei nicht einmal in der NS-Zeit erfunden und angewandt worden.
Normalerweise werden grundsätzliche BGH-Entscheidungen schnellstens
in juristischen Fachschriften oder Entscheidungssammlungen
veröffentlicht. Doch mit dem
"Fünf-Broschüren-Urteil" verfuhr man anders: Es wurde
auf dem Dienstwege an alle Gerichte und Staatsanwaltschaften der
Politischen Justiz versandt und gelangte auf diese Weise zwar nicht in den
Rang der Allgemeinkundigkeit, aber doch in den der Gerichtskundigkeit -
unter weitgehendem Ausschluß der Offentlichkeit. Es diente nunmehr,
landauf, landab, von Flensburg bis München, als Grundlage für
eine Vielzahl von Verfahren gegen Tausende mutmaßlicher Kommunisten,
ihre Helfer und Helfershelfer. Zunächst hieß es in jeder
einschlägigen Anklageschrift meist wortgleich:
"Nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 8. April 1952
beabsichtigt die KPD die Vorbereitung eines gewaltsamen Umsturzes der
Verfassung. Der Angeklagte ist Kommunist bzw. gehört einer
kommunistischen Tarnorganisation an. Er ist daher schuldig der Vorbereitung
zum Hochverrat."
In den verfahrensabschließenden Urteilen wurden die Formulierungen
des "Fünf- Broschüren- Urteils" sowie anderer Vor-
Urteile meist wortgleich übernommen und lediglich um das Prädikat
"zutreffend" oder "überzeugend" bereichert. In all
diesen Urteilen wurde letztlich auf einen Schuldbeweis verzichtet; an die
Stelle des Beweises trat die Berufung auf das "Fünf-
Broschüren- Urteil" des BGH.
Nach mehrfachen Rügen durch die Verteidiger der Angeklagten in
diversen Kommunisten-Verfahren ließ man, etwa ab 1954/55, den
direkten Hinweis auf dieses "höchst fragwürdige Urteil"
(Müller- Meiningen) fallen und erklärte mit Blick auf die
bisherige Rechtsprechung, es sei "offenkundig" bzw.
"gerichtsbekannt", daß die KPD einen gewaltsamen Umsturz in
Westdeutschland vorbereite; daher seien die Angeklagten der Vorbereitung
zum Hochverrat schuldig. Die Listen der gerichtlichen
Offenkundigkeitserklärungen, die hinter verschlossenen Türen
zusammengestellt worden waren, wurden von Verfahren zu Verfahren
länger; in den Urteilsbegründungen der Gerichte nahmen sie
zuweilen wesentlich mehr Raum ein als die Feststellungen über die
Angeklagten selbst und ihre "Taten" sowie die Ausführungen
über Beweise, rechtliche Würdigung und Strafzumessung.
Den textbausteinartig montierten Verurteilungen lagen in den
fünfziger und sechziger Jahren hauptsächlich zwei
Strafbestimmungen zugrunde:
- der § 90a StGB, der die
"Rädelsführerschaft" in einer
"verfassungsfeindlichefl Vereinigung" unter Strafe stellt
und
- der § 129 StGB, der die Gründung, Mitgliedschaft,
Unterstützung, Werbung bezüglich einer "kriminellen
Vereinigung" unter Strafe stellt.
Im letzteren Fall war also die Existenz einer Vereinigung Voraussetzung,
die zum Zweck oder Tätigkeitsziel die Begehung strafbarer Handlungen
hatte. War in einem der früheren Musterurteile eine bestimmte
Vereinigung zur verfassungsfeindlichen gemäß dem damaligen
§90a StGB erklärt worden, dann galt es ohne weitere Untersuchung
und Beweisführung als "offenkundig", daß diese
Vereinigung auch kriminell gemäß §129 ist.
Die Beweisumgehung durch Offenkundigkeitserklärungen nahm in jenen
Jahren gewaltige Ausmaße an. In nahezu allen Entscheidungen der
Politischen Justiz in Sachen Kommunistenverfolgung wurde der Beweis
für die behauptete Verfassungsfeindlichkeit einer nicht verbotenen
Partei oder Organisation durch die behauptete Offenkundigkeit ersetzt und
zur Grundlage der Verurteilung gemacht.
Mit dieser Prozedur konnten die herrschende antikommunistische Doktrin
und die Propagandathesen des Kalten Krieges in der Politischen Justiz der
Bundesrepublik etabliert und für unbestimmte Zeit festgeschrieben
werden - ohne daß über diesen wesentlichen Verfahrenskomplex
noch Beweis erhoben werden mußte, ohne daß die
zwangsläufig immer älter werdenden Feststellungen einer
Aktualisierung unterzogen worden wären. "Die Offenkundigkeit des
Antikommunismus hat den Prozeß der Wahrheitsfmdung der Beweislast
enthoben und auf die Frage reduziert, ob der Täter dem politischen
Vorurteil subsumierbar ist oder nicht." Das politische
Selbstverständnis der angeklagten Kommunisten und jener, die eine
partielle Zusammenarbeit mit ihnen befürworteten, spielte jedenfalls
keinerlei Rolle. Das grundgesetzlich garantierte rechtliche Gehör
schrumpfte insoweit gegen Null.
Gleichwohl erwiesen sich die meisten der auf solchen
Offenkundigkeitserklärungen beruhenden Urteile als revisionsfest:
"Das ist für den Senat gerichtsbekannt", meinte lapidar etwa
der 2. Strafsenat des BGH bei der Uberprüfung eines Urteils unterer
Instanz: "Deshalb genügen die etwas knappen Ausführungen,
mit denen die Strafkammer die Volksbefragung (zur bzw. gegen die
Remilitarisierung der BRD; R.G.) als einen Angriff auf die
verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik
kennzeichnet."
Gleichzeitig konnte mit der Verbannung der Beweiserhebung aus der
öffentlichen Verhandlung die politische Auseinandersetzung im
Gerichtssaal weitgehend unterbunden werden. Dieser Entpolitisierungseffekt
wird schlaglichtartig ersichtlich aus der gerichtlichen Ablehnung von
Beweisanträgen der Verteidigung. Der in Kommunistenprozessen erfahrene
Heidelberger Strafverteidiger Walter Ammann faßte die entsprechende
Ablehnungsbegründung einer Strafkammer so zusammen: "...es
würde sich dabei nur um politische Thesen ... oder um Werturteile
handeln; sie verfolgten darüber hinaus lediglich den Zweck, den
politischen Kampf in den Gerichtssaal zu tragen, und würden die
Verhältnisse der Bundesrepublik unter Anklage stellen. Sie dienten
somit nicht der Verteidigung und seien damit verfahrensfremd."
"Aus einer derart exzessiven Verwendung des strafprozessualen
Instituts der Offenkundigkeit folgte, daß über die zentrale
Frage der Politischen Justiz, nämlich ob die Politik der Kommunisten
tatsächlich verfassungswidrig sei, im Prozeß nicht mehr
gestritten werden konnte... Für den Angeklagten bedeutete die
Zugehörigkeit zu einer offenkundig verfassungswidrigen Vereinigung
meist schon die Verurteilung." Denn was offenkundig ist, was sozusagen
alle wissen, ja das muß doch auch oder erst recht dem Täter,
insbesondere einem (getarnten) Kommunisten bekannt gewesen sein: "Dem
Angeklagten kann dies (die "verfassungwidrige" Tätigkeit der
"Freien Deutschen Jugend" FDJ; R.G.) als Funktionär der FDJ
nicht verborgen geblieben sein", urteilte etwa der 2. Senat des
Bundesgerichtshofs am 30. Januar 1953. Da hilft ihm auch kein Leugnen und
kein "Gegenbeweis": "Die Einlassung eines Angeklagten, weder
er noch die Organisation, in der er tätig war, habe z.B. die
Übertragung der DDR- Verhältnisse auf die Bundesrepublik gewollt,
weil dies wegen der sehr unterschiedlichen Entwicklung der beiden Teile
Deutschlands gar nicht möglich sei, wird als bloße
Schutzbehauptung abgetan" - so die Erfahrung des früheren
Strafverteidigers in Kommunisten-Prozessen, Diether Posser.
Diese Methode der Beweisvereinfachung und willkürgleichen
Schuldkonstruktion nahm teilweise geradezu groteske Formen an. Nur ein
kleines Beispiel zur allgemeinkundigen Kontaktschuld aus dem musikalischen
Bereich sei zitiert: "Es ist allgemein bekannt, daß die
Schalmeienmusik nicht schlechthin die Arbeitermusik repräsentiert,
sondern ausschließlich der KPD zugeordnet ist", so das
Amtsgericht Kiel in seinem Beschluß vom 31. März 1957 -
ungeachtet der biblischen Überlieferung von den schalmeienspielenden
Hirten und Engeln.
Offenkundigkeit in RZ-Verfahren: Resultate finsterster
Verhörmethoden
Die unrühmliche Tradition der Offenkundigkeit fand nach der
bundesdeutschen Kommunistenverfolgung der fünziger und sechziger Jahre
ihre Fortsetzung in den "Terrorismus"- Verfahren. Auf die
beschriebene beweis- und prozeßvereinfachende Weise ziehen sich auch
hier bestimmte einmal entwickelte Grundbehauptungen mehr oder weniger
ungeprüft durch sämtliche einschlägigen Verfahren. Zumeist
handelt es sich dabei um die herrschende Staatsschutz- Version über
Existenz, Ziele, Strukturen und Arbeitsweisen sog. terroristischer
Vereinigungen. Dadurch konnte im staatlichen "Anti- Terror-
Kampf" eine in wesentlichen Punkten vereinheitlichte Linie der BKA-
Ermittlungs-, BAW- Anklage- und OLG- Rechtsprechungspraxis durchgesetzt und
immer wieder fortgepflanzt werden - voll zu Lasten der betroffenen
Angeklagten.
Wie solche Staatsschutz-Behauptungen in ein Verfahren eingeführt
werden, haben wir am Beispiel des Strobl-Prozesses gesehen. Mit der
aufwendigen Vorleseprozedur sollten - so die Strafverteidigerin Edith
Lunnebach (Köln) und der Verteidiger Hartmut Wächtler
(München) - "bestehende unübersehbare Beweislücken
durch Hypothesen über die angebliche Struktur der RZ geschlossen
werden", aus der heraus die Anklage dann die Mitgliedschaft von Ingrid
Strobl ableitete. Es gab wie gesagt keinerlei stichhaltigen Beweise
für eine solche Mitgliedschaft, nur interessegeleitete
Schlußfolgerungen, deren behauptete Prämissen apodiktisch in den
Raum gestellt worden waren. Durch die Verlesung angeschimmelter Urteile der
Jahre 1979 bis 1982 sowie sämtlicher Sprengstoffanschläge der RZ
aus 15 Jahren wurden Fakten eingeführt, die nicht mehr hinterfragt
werden sollten. Es wurde damit aber auch spürbar ein bestimmtes
Prozeß- Klima geschaffen, ein Klima, dem sich die Beteiligten und die
Offentlichkeit nicht sollten entziehen können: "Terrorismus"
pur.
Um welche "Erkenntnisse" aus zweiter, dritter, vierter Hand,
die da als "gerichtskundig" deklariert wurden, geht es nun bei
den RZ-Verfahren?
Zunächst und in allererster Linie stützen sich die Gerichte
regelmäßig auf das erste RZ-Urteil des Oberlandesgerichts
Düsseldorf gegen den Lehramtsanwärter Gerd A. und den
Diplom-Soziologen Enno Sch. aus dem Jahre 1979. Diese Oldtimer-
Entscheidung bildet die nicht versiegende Urquelle, aus der die Tatsachen-
Erkenntnisse in Sachen "Revolutionäre Zellen" nach wie vor
sprudeln - im wahrsten Sinne des Wortes: ein Ur-Teil, das Vorurteil des
jeweils jüngsten Gerichts. Und dieses Urteil schöpft seinerseits
insbesondere aus zwei Quellen: nämlich aus dem
"Revolutionären Zorn", der "Verbandszeitschrift der
Revolutionären Zellen" (so die Sprachregelung der befaßten
Oberlandesgerichte) und den Aussagen von Hermann F..
Der ehemalige Heidelberger Student Hermann F. ist jedoch noch nicht mal
ein klassischer Zeuge, denn in keinem der einschlägigen Verfahren ist
er je persönlich vor Gericht vernommen worden. Der angebliche Inhalt
seiner Aussagen ist vielmehr über bis heute unüberprüfte
"sinngemäß zusammengefaßte" handschriftliche
Protokolle und Tonband- Abschriften sowie über sog. "Zeugen vom
Hörensagen", also Zeugenschaft aus zweiter Hand, in das
Ausgangsverfahren sowie in die Folgeprozesse eingebracht worden.
F. wurde in der Zeit zwischen Juni und November 1978, also über
fünf Monate lang, von Polizeibeamten, Staatsanwälten und einem
Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof vernommen. Zunächst in der
Universitätsklinik Heidelberg: Dorthin war er eingeliefert worden,
nachdem er durch die Explosion eines selbstgebastelten Sprengsatzes am 23.
Juni 1978 schwerste Verletzungen erlitten hatte: F. mußten beide
Beine knapp unterhalb des Beckens amputiert und beide Augen entfernt
werden; er erlitt außerdem schwere Verbrennungen zweiten Grades im
Gesicht, eine Kieferhöhlen- und eine Hirnverletzung.
Der Sprengsatz war ursprünglich für das argentinische Konsulat
in München bestimmt gewesen - als Protest gegen die politischen
Zustände in Argentinien, wo eine Militärdiktatur das Volk
unterdrückte. Im Sommer 1978 wurde in Argentinien die
Fußball-Weltmeisterschaft ausgetragen; die bundesdeutsche Mannschaft
kickte mit - ungeachtet der bekanntgewordenen Fälle von systematischer
Folter. Zu seiner politischen Motivation schrieb Hermann F. in einer
späteren Erklärung: "Argentinien ist EIN Beispiel für
imperialistische Barbarei betrieben durch die reichen Länder des
Westens. Die Bundesrepublik ist in diesem System eine Metropole und hier zu
leben heißt für jeden, sowohl Opfer als auch Mitschuldiger zu
sein in einem System, das jährlich Millionen Hungertote fordert. Denn
wir leben auch von ihnen. Antiimperialistische Politik heißt
ausbrechen aus diesem Status von halb Opfer, halb Mitschuldiger..."
(September 1980)
Nach seinem schweren Unfall, so F. weiter, sei er "beim Widerstand
gegen die Verhältnisse in Argentinien selbst quasi in argentinische
Zustände geraten". Was er damit meinte, ist aus der weiteren
Geschichte seiner Behandlung in der Heidelberger Klinik abzulesen.
F.'s akute Situation in der Klinik war gekennzeichnet durch die
plötzliche Erblindung, den damit verbundenen, existentiellen Schock,
durch Orientierungslosigkeit und einen tiefgreifenden Wandel des
Umwelterlebens, des Kommunikationsverhaltens, verschärft durch den
plötzlichen Wegfall der selbständigen Fortbewegungsfähigkeit
und die Wirkungen der mehrfach verabreichten starken Schmerzmittel
(morphinhaltiges Dipidolor und Valium). Und in dieser katastrophalen Lage
eines Hilflosen, Orientierungslosen und Abhängigen, in der F.
zunächst vollkommen auf andere angewiesen war, in dieser Lage wurde er
von Ermittlungsbeamten systematisch ausgeforscht
("angehört", wie diese Form der Vernehmung eines
lebensgefährlich Verletzten damals genannt wurde).
Schon unmittelbar nach Beendigung der künstlichen Beatmung,
nämlich am ersten Tag nach dem Unfall, beginnen auf der
Intensivstation der Chirurgischen Klinik F.'s Vernehmungen durch einen
Staatsanwalt, der ihn - so ein Aktenvermerk - nicht über seine Rechte
belehrt und den F., wie er später berichtet, für einen
Rechtsanwalt hält. Die Verhöre werden an den folgenden Tagen
durch bis zu vier Polizeibeamte des Landeskriminalamts Baden-
Württemberg und des Bundeskriminalamtes fortgesetzt. Im Zustand akuter
Lebensgefahr also wird Feiling in vier Tagen zusammen fast zehn Stunden
lang verhört (Vermerk im Protokoll über die Vernehmung vom 28.
Juni 1978 auf der Intensivstation: "Herr F. macht eine längere
Pause und atmet sehr stark"; S.50). Der Inhalt der Verhöre
kreiste um die Planung von Anschlägen, um personelle Beteiligung, um
Gruppenstrukturen und Arbeitsweisen der "Revolutionären
Zellen".
F. hatte unsägliche Angst davor, verlassen zu werden. Für ihn,
den nunmehr Blinden und von epilleptischen Anfällen Geplagten, waren
damals medizinisches Pflegepersonal und Polizeibeamte nicht unterscheidbar,
zumal letztere ihn auch tatsächlich versorgten. Er befand sich zu den
ihn umgebenden Personen in einem totalen, unentrinnbaren
Abhängigkeitsverhältnis, abgeschirmt von sämtlichen
Bekannten und Freunden. Nach F.'s Aussagen sei er zusätzlich in
Angst und Schrecken versetzt worden, als man ihm bedeutet habe, sein Leben
sei durch Dritte bedroht: Es gebe hier einige, so die Vernehmer, "die
ihm gerne eine Spritze verpassen würden" (übrigens
ähnlich, wie es dem schwerverletzten Karl-Heinz Roth 1975 im
Krankenhaus widerfuhr).
Später wurden die Vernehmungen in verschiedenen Kliniken
(Münster, Papenburg) sowie in der Höheren Landespolizeischule zu
Münster fortgeführt, wo F. zwischen seinen Klinikaufenthalten,
vollkommen abgeschottet von der Außenwelt, unter Polizeiaufsicht
wohnte -' ohne einen Haftbefehl (weil offensichtlich haftunfähig),
also in einer Art "Schutzhaft" ohne jegliche Rechtsgrundlage.
Erst allmählich, so F.'s verspätet beauftragter und mit
erheblicher Verzögerung vorgelassener Anwalt Stephan Baier (Mannheim),
als F. langsam wieder zu sich selbst fand, bemerkte er, daß seine
vermeintlichen Beschützer und Pfleger in Wirklichkeit Bewacher waren,
er sich quasi unter Kontaktsperre in unzulässiger polizeilicher
Schutzhaft befand und daß seine Gesprächspartner zu
Anklägern geworden waren. Rechtsanwalt Baier wörtlich:
"Es gibt keine andere Begründung dafür, warum F., der
in diesen Tagen mit dem Tode noch um das Überleben kämpfte,
verhört werden mußte, als die, daß es den
Ermittlungsbehörden darauf ankam, für den Fall, daß F.
nicht überleben würde, ihm wenigstens so viel wie möglich
von seinem Wissen entreißen zu können. Es ging eben darum, wie
es der Generalbundesanwalt Rebmann formulierte, 'seitens der
Strafverfolgung in die Revolutionären Zellen einzudringen', auch
wenn das Mittel zu diesem Zweck im Bewußtsein seiner
Verstümmelung und unter den Operationsschmerzen leidend, im Sterben
lag... Diese Situation der Hilflosigkeit, der Orientierungslosigkeit und
der totalen Abhängigkeit haben die Ermittlungsbehörden in
skrupelloser und barbarischer Weise genutzt. Von allen Freunden
abgeschirmt, haben sie sich seiner wie eines Leibeigenen bedient. Sie haben
sich, als er in seinem Wahrnehmungsapparat völlig zerstört und
durcheinander geworfen und in seinem Persönlichkeitserlebnis
völlig zerschmettert war, von ihm selbst und von seinem Wissen Besitz
ergriffen, ihn wie ein Asservat behandelt und untersucht, ohne
Rücksicht auf seine seelische Not in seinem Gehirn geblättert und
sich daraus bedient wie in einem Selbstbedienungsladen. Das ist kein
Rückfall in finsterste Inquisitionsmethoden des Mittelalters, das ist
die Fortentwicklung modernster Verhörtaktik in finsterster
Gegenwart."
Diese Vernehmungen sind, nimmt man Verfassung und
Strafprozeßordnung als Maßstab noch ernst, unter grober
Mißachtung der Menschenwürde (Art. 1 und 2 Grundgesetz)
durchgeführt worden. Denn, so das Bundesverfassungsgericht in mehreren
Urteilen: "Es widerspricht der menschlichen Würde, den Menschen
zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu machen" und einer
Behandlung auszusetzen, "die seine Subjektqualität prinzipiell in
Frage stellt" oder die "eine willkürliche Mißachtung
der Würde des Menschen" darstellt. Es handelt sich darüber
hinaus um verbotene Methoden der Vernehmung gemäß §136a
Strafprozeßordnung, eine Norm, die "die Freiheit der
Willensentschließung und der Willensbetätigung des
Beschuldigten" unter Schutz stellt. Deshalb unterliegen die auf solche
Weise erlangten Aussagen von Gesetzes wegen einem absoluten
Verwertungsverbot. Für F. selbst sind die "angeblichen
Vernehmungsprotokolle... das Ergebnis einer Behandlung, die den Namen
Folter verdient": "Ich halte es für aberwitzig, Angaben
daraus zu verwenden."
Ein Teufelskreis von Vor-Urteilen: Das Zitierkartell in RZ-
Verfahren
Doch dessen ungeachtet beruhen die Feststellungen des Ausgangsurteils in
Sachen RZ gegen A./Sch. im wesentlichen auf diesen widerrechtlich erlangten
Aussagen des "Kronzeugen" wider Willen, die F. indes längst
widerrufen hat. Die fast 1300 Protokoll- Seiten der "Soko"
(Sonderkommission) des Landeskriininalamtes Baden- Württemberg sind
nämlich bis heute die einzige, wenn auch verständlicherweise
reichlich verworrene und widersprüchliche Quelle zur Struktur und
Arbeitsweise der RZ geblieben - streckenweise in bester Polizeidiktion
verfaßt. Und gerade dieser Umstand macht sie für die
Ermittlungsbehörden noch heute so überaus wertvoll. Aus diesen
Protokollen haben sie, allen voran die Bundesanwaltschaft, versucht, etwas
für sie ganz wesentliches herauszufiltern: daß es sich
nämlich bei den so schlecht greifbaren, im Gegensatz zur
militärisch straff gegliederten RAF nicht hierarchischen, nur lose
organisierten "Feierabend-Terroristen" der verschiedenen
autonomen "Revolutionären Zellen" gleichwohl um
festgefügte, zentral organisierte und gesteuerte Gruppen handele.
Diese Behauptung hat gleich mehrere ermittlungsstrategische, beweis- und
prozeßvereinfachende Vorteile:
- Die eigentlich "diffusen", schwer greifbaren RZ
können damit ohne weiteres als "terroristische
Vereinigungen" nach §129a Strafgesetzbuch verfolgt werden, der
ja ein gewisses Maß der Organisiertheit voraussetzt;
- ihre Struktur, Arbeitsweise und Ziele gelten ein für allemal
als festgestellt;
- über diese einmal (gerichtlich) festgestellten
"Tatsachen" muß kein Beweis im Einzelfall mehr erhoben
werden, sie werden stattdessen per Offenkundigkeit tradiert und dienen
so als Grundlage für sämtliche Folgeprozesse;
- damit können, mangels weiterer streitiger Erörterung in
der Hauptverhandlung, die politischen RZ-Verfahren praktisch
entpolitisiert werden;
- das Unterstützer- und Sympathisanten-Umfeld kann auf die
solchermaßen als "terroristisch" eingestuften
Vereinigungen als Kristallisationspunkte bezogen und entsprechend
problemlos verfolgt werden;
- nicht zuletzt können die Ermittlungs-, Anklage- und
Gerichtsbehörden im Falle von RZ-Verdacht aufgrund des
Prädikats "terroristische Vereinigung" jene
Sonderbefügnisse aktivieren, die ihnen die sog.
"Anti-Terror-Gesetze" einräumen, um damit ihrerseits nun
wirklich zentralistisch gesteuert verfahren und z.B. alle
RZ-Verdächtigen auch ohne Haftgrund einsperren zu können.
Aus diesen Gründen war und ist es den Anklagebehörden und
Gerichten auch so wichtig, ausgerechnet die dubiosen, nunmehr über
zehn Jahre alten Feststellungen aus den erwähnten früheren
Urteilen, die sich auf die F.- Protokolle stützten, in den
nachfolgenden RZ-Anklagen und -Urteilen nach dem "Prinzip eines
Zitierkartells" (Cobler) gebetsmühlenartig
"wiederzukäuen" - möglichst ohne weitere
Beweisaufnahme. Die zentral handelnde Bundesanwaltschaft liefert in ihren
Anklagen jeweils die Vorlage, die von den Oberlandesgerichten in der Regel
nur noch nachvollzogen wird: Ein Gericht schreibt dabei vom anderen ab,
Zitate von Zitaten von Zitaten...
Dabei werden jene seltenen Urteile, die zu anderen, eher
unerwünschten Ergebnissen gelangten, geflissentlich
unberücksichtigt gelassen: etwa die Festellungen des Kammergerichts
Berlin im seinem Urteil vom 12. Februar 1979 gegen Mitglieder des
"Agit- Druckkollektivs", die immerhin in Kenntnis der F.-
Protokolle und des Sch./A.- Urteils vom Januar 1979 getroffen wurden -
allerdings ohne diese im Wege der Gerichtskundigkeit unbesehen zu
übernehmen. Aufgrund einer tatsächlich durchgeführten
Beweisaufnahme (u.a. Zeugenvernehmungen) zu der Frage, ob es sich bei den
RZ um eine "terroristische Vereinigung" handele, kam dieses
Gericht zu folgendem "ketzerischen", aber eigenständigen
Urteil: "Die Organisationsstruktur dieser Gruppen ist bisher nicht
bekannt. Es läßt sich deshalb nicht ausschließen,
daß es sich bei ihnen um Gruppen handelt, die sich jeweils immer nur
zu einer Tat zusammenschließen." Allein aus der Art der Delikte
könne "nicht mit ausreichender Sicherheit auf eine auf die Dauer
angelegte Personenvereinigung geschlossen werden". "Ein
Organisationssystem, das mehreren solcher Gruppen übergeordnet ist und
sie damit alle zu einer terroristischen Vereinigung zusammenschließen
könnte, konnte nicht festgestellt werden."
Dieses Urteil blieb ein Einzelfall, denn es ist der Gnade der
"Gerichtskundigkeit" nicht teilhaftig geworden.
Um ihre einmal gerichtsnotorisch herausdestillierte Staatsschutz-
Version zur weiteren Verwendung aufrecht erhalten zu können, setzen
sich Bundesanwaltschaft und die Mehrzahl der Oberlandesgerichte nicht nur
über einzelne querliegende Urteile hinweg, sondern sie negierten auch
entgegenstehende Erkenntnisse des Bundeskriminalarntes (BKA), das seit dem
14. März 1979 vom Generalbundesanwalt mit den zentralen Ermittlungen
in Sachen RZ und mit der Auswertung aller RZ-Verfahren beauftragt ist. In
einem 27-seitigen Bericht, Stand: 14. Dezember 1982, stellt das BKA zum
damals bekannten Wissensstand - unter Berücksichtigung der
"Aussagen" von F. und sämtlicher einschlägigen
Gerichtsurteile - unmißverständlich fest: "Die genaue
Struktur der RZ und die Anzahl ihrer Gruppen und Mitglieder haben sich
bisher nicht ermitteln lassen" (S.11).
In gewissem Widerspruch zu dieser Erkenntnis wird enttäuscht
hinzugefügt: "Dank ihrer Struktur, die nach dem Prinzip
weitgehend unabhängig voneinander operierender und gegeneinander
abgeschotteter Kleingruppen aufgebaut ist, konnte es ihnen bisher gelingen,
sich, bis auf geringe Ausnahmen, dem polizeilichen Zugriff zu
entziehen." (S.14).
Im wesentlichen ist dies bis Ende der achtziger Jahre so geblieben. Die
Ermittlungsorgane fahnden nach wie vor nach einer verfestigten Organisation
namens RZ, haben mittlerweile zwar eine Menge von Taten und Anschlägen
aufgelistet, aber es mangelt ihnen an Tätern und Täterinnen.
Insofern hat sich offenbar "bewährt", was in der im Juli
1981 erschienenen Untergrundzeitung "Guerilla Diffusa" gepriesen
wurde und in dem erwähnten BKA-Bericht (S. 12) so zitiert steht:
"Uberall sind spontane 'Revolutionäre Zellen'
entstanden, die es nicht mehr nötig hatten, sich so zu nennen... Jede
Gruppe handelt selbstbestimmt, hat keinen Namen und tauscht in losem
Kontakt zu anderen Erfahrungen aus.... Wenn wir es schaffen, unlogisch und
unberechenbar zu bleiben, wird der perfektionistische BKA-Apparat weiterhin
vor einem Berg von unaufgeklärten Kommandoerklärungen
stehen."
Angesichts dieser Belegstellen, die eher gegen eine festgefügte
Vereinigung im Sinne von §129a StGB sprechen (und hierfür gibt es
noch wesentlich mehr Belege), ist es äußerst
aufschlußreich, was die Ermittlungsbehörden und Gerichte aus
dieser mißlichen Lage der offenkundigen Unkenntnis und
Erfolglosigkeit -mithilfe von Offenkundigkeit und §129a StGB - zu
entwickeln verstanden. Als Urquelle ihrer Sonder- Erkenntnisse dient den
Gerichten in Sachen RZ, wie bereits erwähnt, das Urteil A des
OLG Düsseldorf vom 19. Januar 1979: Verurteilt wurden damals zu
mehrjährigen Freiheitsstrafen die Angeklagten A. und Sch. u.a.
"wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen
Vereinigung" und versuchtem Brandanschlag auf ein Kino, das den
umstrittenen Film "Unternehmen Entebbe" zeigte. Die
(vorbereitende) Tathandlung, die von beiden "Filmkritikern"
bestritten worden sein soll, konnte ihnen indes nicht nachgewiesen werden.
Eine "Revolutionäre Zelle" hatte die Verantwortung für
den mißglückten Anschlag übernommen.
Es war das erste Verfahren nach dem neuen §129a, der 1976 ins
Strafgesetzbuch eingeführt worden war - eine recht zweifelhafte
Premiere, die den Charakter dieser Vorschrift sogleich offenbarte. Das
Gericht ordnete die Angeklagten aufgrund diverser Indizien den
"Revolutionären Zellen" zu. Es konnte damit aus dem ihnen
zur Last gelegten Versuch einer Straftat ein Organisationsdelikt kreieren,
obwohl doch nur zwei angebliche Mitglieder namhaft gemacht werden konnten,
eine Vereinigung allerdings aus mindestens dreien bestehen muß. Im
abschließenden Urteil gegen A./Sch. heißt es zu dieser
ominösen "Vereinigung" lapidar:
"Die Revolutionäre Zelle/ Revolutionären Zellen ... sind
eine auf längere Dauer angelegte terroristische Vereinigung mit
organisierter Willensbildung, deren Mitglieder sich als einheitlicher
Verband fühlen" (S.22).
Diese apodiktische, von keinem Nachweis getrübte Feststellung, die
uns noch des öfteren begegnen wird, wurde getroffen, obwohl das
Gericht schließlich auch eingestehen mußte, daß "die
genaue Struktur" der RZ, "die Anzahl der Gruppen und
Mitglieder" sich habe "nicht ermitteln lassen".
Insbesondere, so heißt es weiter, "konnte nicht festgestellt
werden, daß jeder einzelne Anschlag auf einer zentralen Planung und
Steuerung beruht" (S.23) - was für eine Verurteilung nach
§129a StGB allerdings Voraussetzung wäre. Doch dieses glaubhafte
Eingeständnis zeitigte wenig Wirkung. Gleich im darauffolgenden Satz
kriegte das Gericht wieder die Kurve in Richtung einheitliche Organisation,
womit sich die Verurteilung nach §129a StGB dann doch begründen
ließ: "Gleichwohl zielt die Organisationsform der RZ darauf ab,
den gemeinsamen Zweck mit bewußt und absichtlich vereinten
Kräften zu erreichen. Die verschiedenen Gruppen der Vereinigung
existieren und operieren nach dem Prinzip strenger Abschottung. Nur so
vermögen sie sich als illegale Vereinigung zu behaupten."
Diese rechtskräftig gewordenen Feststellungen habe das Gericht, so
ist es im Urteil niedergelegt, u.a. aus der RZ-Zeitschrift
"Revolutionärer Zorn" bezogen, die neben den Protokollen
über die Aussagen von F. zu den wichtigsten Erkenntnisquellen des
Gerichts gehört. Nicht in dieses erkenntnisleitende Muster passende
Textpassagen wurden dabei allerdings kurzerhand umgedeutet:
"Trotz des erklärten Zieles, Gegenmacht in vielen kleinen, in
den verschiedenen Bereichen 'autonom' arbeitenden 'Kernen'
zu organisieren, und obwohl sie sich dabei als 'Teil einer
Bewegung' sahen (Zorn 75, S.8)", haben sich die RZ
"als eigenständiger und einheitlicher Verband" verstanden.
Dem widerspreche auch nicht, daß die RZ "hierarchische
Strukturen" und "autoritäre Fixierungen" stets
abgelehnt und "aus diesem Grunde einen Vereinscharakter von sich
gewiesen habe (Zorn April 78, S.3)", und daß alle
Angehörigen eines autonomen Kerns dazu angehalten wurden, "bei
der Vorbereitung und Durchführung jeder einzelnen Aktion
'gleichberechtigt, selbstbestimmt, absolut vertrauensvoll
zusammenzuarbeiten und miteinander umzugehen' (Zorn 75,
S.8)".
Auf dieses Urteil A und seine als "Feststellungen"
ausgegebenen vagen Vermutungen stützt sich schon drei Monate
später das Urteil B des OLG Düsseldorf vom 16. März
1981 gegen den Einzelhandelshandelskaufmann Burkhard M., die erwerbslosen
Jürgen K. und Harald N. sowie den Schüler Vincenzo B. Sie wurden
u.a. wegen "Werbung für eine terroristische Vereinigung" und
Sachbeschädigung zu mehrmonatigen Freiheitsstrafen bzw. Jugendstrafen
mit Bewährung verurteilt. Im Urteil scheuten sich die Richter nicht,
wortwörtlich von Urteil A abzuschreiben: "Die Revolutionären
Zellen sind eine auf längere Dauer angelegte terroristische
Vereinigung mit organisierter Willensbildung, deren Mitglieder sich als
einheitlicher Verband fühlen" (S.24). Und weiter: "Die
Feststellungen zur terroristischen Vereinigung 'Revolutionäre
Zellen' ('RZ'), ihrer Organisation und ihren Zielen, der von
ihr herausgegebenen Zeitschrift 'Revolutionärer Zorn' sowie zu
den von ihr in Verfolgung ihrer Ziele verübten
Sprengstoffanschlägen beruhen auf der auszugsweisen Verlesung einer
Ausfertigung des rechtskräftigen Urteils des 4. Strafsenats des
Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 19. Januar 1979 in der Strafsache
gegen A. und Sch.... Es bestehen keine Anhaltspunkte, die dem erkennenden
Senat Anlaß geben könnten, an der Richtigkeit dieser
Feststellungen zu zweifeln" (S.62). Ohne Zweifel also keine korrekte
Beweisaufnahme über die beweiserhebliche, beweisbedürftige und
beweisfähige Frage der Organisationsstruktur der RZ.
Urteil C des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 2. Juli 1981
gegen den erwerbslosen Joachim Sch., der wegen "Werbung für
terroristische Vereinigungen" und Sachbeschädigung zu einer
zehnmonatigen Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt wurde, setzte
vier Monate später den Reigen fort. Seitenlange, textlich mit den
Vor-Urteilen vollkommen identische Passagen finden sich auch in diesem
Urteil (S.11ff.). Diese, so heißt es dort in schlichter Klarheit,
seien "dienstlich den Mitgliedern des Senats bekannt geworden, somit
gerichtsbekannt und damit offenkundig" (S.43). Wiederum wurde im
Verfahren das Urteil A auszugsweise verlesen. Bestanden im Urteil B
lediglich "keine Anhaltspunkte" zum Zweifel, so bestehen im
Urteil C nunmehr "nicht die geringsten Anhaltspunkte, die dem
erkennenden Senat Anlaß geben könnten, an der Richtigkeit dieser
Feststellungen zu zweifeln." Mit zunehmendem zeitlichen Abstand
verringern sich offenbar auch die Zweifel.
Das Urteil D des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 15. Februar
198262 erging gegen zwei Angeklagte, die aufgrund der zweifelhaft
zustandegekommenen "Aussagen" Hermann F.'s in Verdacht
geraten waren. Die Sekretärin Sylvia H. und die Verlobte F.'s, die
Pädagogin Sibylle St., waren angeklagt wegen "Mitgliedschaft in
einer terroristischen Vereinigung" und wegen diverser Anschläge.
Ursprünglich war auch Hermann F. in diesem Verfahren angeklagt; ihm
wurde jedoch aufgrund seiner körperlichen und psychischen Verfassung
Verhandlungsunfähigkeit bescheinigt, so daß das Verfahren gegen
ihn vorläufig eingestellt wurde. Er blieb gleichwohl
Mitbeschuldigter.
Der Prozeß verlief also ohne F.'s Anwesenheit, allerdings
unter Verwendung der 1300 Protokollseiten, die seine skandalöse
Vernehmung erbracht hatte. Er konnte, ja durfte zu seinen folgenschweren
"Aussagen" aus jener Zeit keine Stellung nehmen, obwohl er sie
längst widerrufen hatte. Es half nichts.
F. konnte noch nicht einmal von seinem zeugenschaftlichen
Aussageverweigerungsrecht als Verlobter von Sibylle St. Gebrauch machen,
weil er Mitbeschuldigter blieb und nicht als Zeuge geladen wurde. Wäre
er Zeuge gewesen, so hätte dies nach der Strafprozeßordnung dazu
führen müssen, daß das gesamte Aussagenmaterial der
Ankläger auch aus diesem Grunde gesperrt worden wäre und seine
früheren Vernehmungen nicht hätten verwertet werden dürfen.
Das eben wußten Anklage und Gericht trickreich zu verhindern, indem
sie ihn per Senatsbeschluß als Mitbeschuldigten weiterführten,
statt ihn zum Zeugen zu machen. F.'s "Aussagen" wurden ihm
auf diese Weise förmlich enteignet; sie wurden offiziell ins Verfahren
eingeführt und führen seitdem ein justitiell konserviertes
Eigenleben, auf das er keinerlei Einfluß mehr hat, das aber noch 1989
ff. unmittelbar mit seinem Namen verknüpft ist. Gerichtsnotorisch,
unerschütterlich, (Gegen-) Beweisen weitgehend entzogen.
Gegen die beiden anderen Angeklagten wurde weiter verhandelt. Nach fast
anderhalb Jahren Verhandlungsdauer und Untersuchungshaft unter
Isolationshaft- Bedingungen mußte Sylvia H. allerdings freigesprochen
werden. Die von der Anklage aus den F.chen Vernehmungsprotokollen
herausgezogenen Beschuldigungen ließen sich nicht aufrechterhalten.
Auch Sibylle St. wurde vom Vorwurf der Mitgliedschaft in einer
"terroristischen Vereinigung", den RZ, freigesprochen, gleichwohl
wegen "versuchter schwerer Brandstiftung" und
"gemeinschädlicher Sachbeschädigung" zu einer
Freiheitsstrafe von 15 Monaten mit Bewährung verurteilt.
Urteil E: Ein weiteres "Blaupausen-Verfahren" stellt
der Prozeß gegen Rudolf R. vor dem Oberlandesgericht Koblenz dar.
Auch er wurde angeklagt wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen
Vereinigung". Der Verdacht war auf ihn gefallen, weil die
Ermittlungsbehörden aus den F.- Protokollen herausfiltern konnten,
daß im Mai 1978 ein namentlich unbekannter Mann von Frankfurt nach
Mainz gezogen sei, um dort eine neue RZ aufzubauen.
Dieser Rasterpunkt, so später die Anklage, habe auf R. zugetroffen.
Der wird daraufhin pausenlos observiert, drei Monate lang, Tag und Nacht.
Und tatsächlich hatte er doch früher Kontakt zu Personen, die
später als angebliche Mitglieder der RZ polizeilich gesucht wurden.
Dem schwer nierenkranken R. bleiben die systematischen, mitunter dreisten
Observationen nicht verborgen. Er fühlt sich in Gefahr, verliert die
Nerven und fährt, um der seelischen Belastung zu entgehen, Ende 1978
zu Freunden nach Irland, bei denen er vorübergehend lebt.
Dort wird er einige Monate später verhaftet, da jedoch kein
Haftbefehl vorliegt, umgehend wieder freigelassen. Der Haftbefehl wird
später vom Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof nachgereicht,
nachdem R. zwischenzeitlich in einer öffentlichen Kampagne zum
hochkarätigen internationalen Top-Terroristen, zu einem Carlos II,
aufgebläht worden ist. Angeblich soll er mit der "Irisch
Republikanischen Armee" (IRA) zusammengearbeitet und Mord-
Anschläge vorbereitet haben: so etwa das IRA- Attentat auf Lord
Mountbatten und eine geplante Entführung des Papstes.
Nach diesen schweren Vorwürfen meldet sich R. umgehend mit einer
öffentlichen Erklärung, in der er die Anschuldigungen dementiert
und seine freiwillige Rückkehr in die Bundesrepublik ankündigt,
obwohl er wegen seiner Nierenkrankheit ans Bett gefesselt ist: In seinen
Beinen haben sich bereits Wasserödeme gebildet, seine Füße
sind stark angeschwollen, so daß er fast unfähig ist, sich
fortzubewegen. Er schwebt seit jener Zeit in akuter Lebensgefahr. Die
Antwort des BKA auf seine Rückkehr- Erklärung: erhöhter
Fahndungsdruck.
Dennoch kehrt Rudolf R., ermutigt durch eine starke
Solidaritätskampagne (u.a. für Haftverschonung), im Juni 1980 in
die Bundesrepublik zurück, wo er sich in einem Karlsruher Krankenhaus
in medizinische Behandlung begibt. Bis zum Urteil muß er fast
unerträgliche Wechselbäder aus Haftbefehlen, Haftverschonung,
Festnahmen und Entlassungen erleben.
Im September 1980 wird R. u.a. wegen Mitgliedschaft in einer
"terroristischen Vereinigung" (der RZ),
Rädelsführerschaft und Beteiligung an einem Sprengstoffanschlag
angeklagt. Wider alle Erwartungen lehnt der Staatsschutzsenat des OLG
Koblenz die Eröffnung des Hauptverfahrens jedoch mit der
Begründung ab, der dazu erforderliche hinreichende Tatverdacht liege
nicht vor. Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof
muß das Hauptverfahren dann dennoch eröffnet werden, allerdings
auf Grundlage einer reduzierten Anklage - im wesentlichen wegen
Mitgliedschaft in einer "terroristischen Vereinigung", obwohl
für diesen Vorwurf keine Beweise vorliegen.
Doch worauf es den Verfolgungsinstanzen in diesem Verfahren entscheidend
ankommt, das ist offenbar die neuerliche Festschreibung der RZ als
"terroristische Vereinigung" - nach Düsseldorf und Frankfurt
nun durch ein drittes Oberlandesgericht. Deshalb die entsprechende Anklage.
Parallel dazu fordert Generalbundesanwalt (GBA) Rebmann energisch mehr
Kompetenzen für seine Behörde bei der Bekämpfung der RZ: Die
Bundesanwaltschaft soll künftig auch dann die Ermittlungen zentral an
sich ziehen können, wenn "terroristische" Straftaten
begangen werden, ohne daß die Merkmale einer "terroristischen
Vereinigung" vorliegen (1987 wurde sein Wunsch erfüllt).
Im Lauf des Verfahrens gegen Rudolf R. vor dem OLG Koblenz werden die
vagen Indizien für seine angebliche Mitgliedschaft verhandelt:
darunter Aschereste verbrannten Papiers, möglicherweise der RZ-Schrift
"Revolutionärer Zorn". Im wesentlichen geht es dann aber um
seine politische Gesinnung und Kontaktschuld: R. hat schließlich
Personen gekannt, die als Mitglieder der RZ gesucht wurden
("Dunstkreis"). Auch die vagen "Aussagen" Hermann
F.'s, die den Fall erst auslösten, spielen eine wesentliche Rolle.
Eine konkrete "terroristische" Straftat wird dem Angeklagten aber
nicht mehr vorgeworfen.
Ursprünglich sollte der groß geplante und angelegte,
mittlerweile aber arg geschrumpfte Prozeß dazu dienen, die RZ-
typischen Strukturen und die symptomatischen Lebens- und Verhaltensweisen
von RZ- Mitgliedern, die sich bislang nie als solche zu erkennen gaben,
genauer als bisher möglich zu erfassen. Damit hätten sie dann
detaillierter per Offenkundigkeit fortgeschrieben und so eine
einigermaßen reibungslose gerichtliche Bewältigung des Problems
für die Zukunft sichern können (FR:
"Musterprozeß"; taz: "Pilotverfahren gegen
'Revolutionäre Zellen'"). Die Staatsanwaltschaft
forderte, trotz der mageren Verfahrensergebnisse, zwei Jahre und sechs
Monate Freiheitsstrafe, anschließende Führungsaufsicht und
Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf drei Jahre. R.'s
Verteidiger Hans- Joachim Weider fordert schlicht und einfach:
Freispruch.
Die Rechnung der Staatsschützer von der ermittelnden und
anklagenden Fraktion ging diesmal (wieder) nicht auf: Die Anklage brach
jäh in sich zusammen, das Gericht weigerte sich, eine Verurteilung auf
bloße Indizien zu gründen. Der Angeklagte mußte am 19.
November 1982 vom Vorwurf der RZ- Mitgliedschaft freigesprochen werden.
Sechseinhalb Jahre später ist Rudolf R. gestorben (am 11. Juli
1989).
Auch in diesem Urteil versäumten es die Oberrichter nicht,
Feststellungen über die RZ festzuschreiben und sie der Nachwelt
zitierfähig zu hinterlassen. Allerdings in erheblich vereinfachter
Form: Die Feststellungen zum Fortbestand der RZ als Vereinigung im Sinne
des §129a StGB beruhen, so das Gericht (S.5), auf
"Tatsachen", die "zuletzt zusammengestellt" worden
seien im Urteil des OLG Frankfurt vom Februar 1982 (Urteil D). Über
vierzehn Seiten seines Urteils werden der Einfachheit halber
wortwörtlich aus Urteil D zitiert, das seinerseits ja die
Feststellungen des OLG Düsseldorf vom Januar 1979 (Urteil A)
"zusammengestellt" hatte: ein wahrer Prozeß von
"Erforschung der Wahrheit" - statt Beweiserhebung und
-würdigung die Zusammenstellung von gerichtskundigen Tatsachen.
Die Macht des zum Urteil erhobenen Vorurteils
Zur vollen Anwendung des Zitierkartells, bestehend aus den Urteilen A
bis E, kam es dann in den Jahren 1983/84 in der "Pressesache"
gegen den Journalisten Benedikt Härlin und gegen den Studenten Michael
Klöckner vor dem 3. Strafsenat des Kammergerichts Berlin. Sie waren
angeklagt worden wegen "Werbung für eine terroristische
Vereinigung", wegen Billigung von und Aufforderung zu Straftaten -
begangen durch Verbreitung der Zeitschrift "radikal", in der u.a.
"Bekennerbriefe" der RZ unkommentiert und unzensiert dokumentiert
worden waren. Autorenschaft oder konkrete Handlungen konnten ihnen indes
nicht vorgeworfen werden.
Das angeklagte Werben für eine "terroristische
Vereinigung" ist ja nun logischerweise nur möglich, wenn diese
Vereinigung wirklich existiert und als "terroristische"
identifizierbar und nachweisbar ist - was sich im Fall der RZ ohne
Offenkundigkeitserklärung wohl kaum machen läßt. Das
Kammergericht allerdings schien zunächst von dieser Art der
Beweisführung nicht viel zu halten. Am ersten und zweiten
Verhandlungstag führte es in zwei Beschlüssen vollkommen korrekt
aus, daß es hinsichtlich der entscheidungserheblichen Struktur der RZ
als einer Vereinigung im Sinne des § 129a StGB noch keine sichere
Überzeugung besitze, sondern lediglich einen entsprechenden Verdacht
hege. Dies zu ergründen, so das Gericht, bleibe der Beweisaufnahme
vorbehalten: "Die Angeklagten haben auch insoweit die Gelegenheit zu
ausreichender Verteidigung."
Am 24. Hauptverhandlungstag verkündete das Gericht dann aber, ohne
Erörterung, in einem neuen Beschluß: Der Senat "weist
darauf hin, daß er Existenz, Aufbau, Tätigkeit und Ziele der
'Revolutionären Zellen' als gerichtskundig ansieht."
Plötzlich wurde also auf unerfindliche Art und Weise, ohne
Beweisaufnahme, als gerichtskundig und damit nicht beweisbedürftig
deklariert, was vom selben Gericht noch in den ersten Verhandlungstagen als
ungewiß und damit als unbedingt beweisbedürftig bezeichnet
worden war. Damit wurde den überrumpelten Angeklagten der Boden
für eine sinnvolle Verteidigung entzogen.
Am 1. März 1984 erkannte das Kammergericht Berlin wegen der
angeklagten Delikte auf je zweieinhalb Jahre Freiheitsstrafe. Dieses
horrende Urteil, wie überhaupt das gesamte Verfahren, provozierte
heftige öffentliche Kritik ("Im Zweifel gegen die
Angeklagten", Verurteilung "ohne zureichende Beweise",
"Fehlurteil", "Angriff auf die Pressefreiheit"). Im
Urteil heißt es zu den RZ lapidar und ohne jeglichen Quellenverweis:
"Die festgestellten Tatsachen über Existenz, Aufbau,
Tätigkeit und Ziele der 'Revolutionären Zellen' sind
gerichtskundig" (S.206). Also konnte auch für sie im
strafrechtlichen Sinne geworben werden.
In späteren RZ- Verfahren wurden demgegenüber, entsprechend
der jeweiligen gerichtlichen Offenkundigkeitserklärungen, vier bis
fünf der erwähnten Plagiats- Vor-Urteile auszugsweise verlesen.
Auch wenn die Anklage - wie etwa im Strobl- Verfahren - mit dem Vorwurf der
Mitgliedschaft Schiffbruch erlitt, so wurden auf diese Weise doch die
gerichtsbekannten "Erkenntnisse" über die
"terroristische Vereinigung 'Revolutionäre Zellen'"
perpetuiert und für künftige Verfahren konserviert.
Die Ermittlungs- und Anklagebehörden können also trefflich
weiter operieren mit jenen per gerichtlicher Offenkundigkeit zementierten
Staatschutzlegenden aus grauer Vorzeit; sie können auf dieser von
ihnen selbst vorstrukturierten, nunmehr gerichtlich festgeschriebenen
Grundlage weiter großflächig kriminalisieren, ausgedehnt im
"terroristischen Umfeld" ermitteln, stereotype Anklagen verfassen
und politisch Mißliebige per Haftbefehl mit vorgestanzten
"Begründungen" aus dem Verkehr ziehen.
Und die Gerichte können sich in künftigen
"Terrorismus"-Verfahren weiterhin auf jene sondergerichtlich
herausgebildeten "Wahrheits"-Konstrukte beziehen, indem sie die
öffentliche Beweisaufnahme durch Offenkundigkeitserklärungen
ersetzen und das "Beweisergebnis" auf diese Weise antizipieren.
Die "Einheitlichkeit" der Politischen Justiz in Sachen
"Terrorismus" und ihre Entpolitisierung bleiben somit
gewährleistet: Das Zitierkartell bürgt für Kontinuität
und dafür, daß der wesentliche Gehalt politischer
Auseinandersetzungen nicht im Gerichtssaal ausgetragen wird. Die in
Wahrheit stetem Wandel unterliegenden Tatsachen und Vorgänge der
Zeitgeschichte, mit denen wir es in den sog. Terrorismus- Verfahren zu tun
haben, werden konserviert. Der heftig umstrittene politische Konfliktstoff
wird der Hauptverhandlung entzogen und nicht mehr hinterfragt. Das
staatstragende Vorurteil wird zum Urteil, das seinerseits wiederum das
gerichtliche wie außergerichtliche Vorurteil stärkt und zum
neuen Vor-Urteil aufsteigt.
Den betroffenen Angeklagten und ihrer Verteidigung werden mit diesen
Beweisumgehungen die Kontrollmöglichkeiten in bezug auf die
gerichtliche Überzeugungs- und (Vor-) Urteilsbildung vorenthalten und
das verfassungsrechtlich garantierte rechtliche Gehör verwehrt; die
Grundsätze der Öffentlichkeit, Unmittelbarkeit und
Mündlichkeit des Strafverfahrens sind dadurch schwer
beeinträchtigt; von einem "fairen Prozeß", wie ihn die
Verfassung proklamiert, kann auch insoweit keine Rede sein.
Offenkundigkeitserklärungen in RAF-Verfahren
Die schamlose Berufung auf die Entbehrlichkeit der Beweiserhebung wegen
"Offenkundigkeit" (und seltener wegen
"Wahrunterstellung") bestimmter "Tatsachen" ist ein
entscheidendes Strukturelement Politischer Justiz und spielt eine zentrale
Rolle in allen sog. Terrorismusverfahren. Auch in Verfahren gegen
mutmaßliche Mitglieder und Unterstützer der "Rote Armee
Fraktion" sowie gegen RAF-"Werber" kommt es
regelmäßig zu seitenlangen Offenkundigkeitserklärungen der
damit befaßten Gerichte, die sich auf "Erkenntnisse"
zahlreicher früherer RAF-Urteile stützen. Diese beziehen sich im
wesentlichen auf folgende, hier beispielhaft zitierten Festellungen
(Auswahl):
1. RAF = "terroristische Vereinigung" nach §129a
StGB
"Es ist offenkundig, daß die RAF eine terroristische
Vereinigung ist, denn mehrere Personen sind wegen Mitgliedschaft in ihr,
die damals allerdings noch eine kriminelle Vereinigung im Sinne des
§129 StGB war, rechtskräftig verurteilt worden. Diese
terroristische Vereinigung besteht auch fort." (Urteil des
Kammergerichts Berlin vom 12. Februar 1979 gegen Mitglieder des
"Agit-Druck-Kollektivs").
"Die 'RAF' ist eine terroristische Vereinigung im Sinne der
genannten Vorschrift (§129a StGB). Die Vereinigung, ein seit
längerer Zeit bestehender Zusammenschluß von mehr als zwei
Personen, verfolgt bei Unterordnung ihrer Mitglieder unter den Willen der
Gesamtheit den gemeinsamen Zweck, durch bewaffneten
'antiimperialistischen Kampf', durch 'Guerillakrieg' die
bestehende Staats- und Gesellschaftsform ... zu zerstören. Die
Mitglieder stehen untereinander derart in Beziehung, daß sie sich als
einheitlicher Verband ... fühlen. Sie wollen ihre Zielvorstellungen
gegebenenfalls unter rücksichtsloser Anwendung von Waffengewalt
verwirklichen." (Urteil des OLG Stuttgart vom 2. April 1985 gegen
Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar).
2. Zu Entstehung, Entwicklung und Ziele der RAF
"Geschichte, allgemeine Zielsetzung und Struktur der 'RAF'
sind allgemein- und gerichts-kundig." (Urteil des OLG Stuttgart vom
6. Dezember 1985 gegen Claudia W. u.a.)
"Die Feststellungen zu Entstehung, ideologischem Hintergrund,
Entwicklung und Zielen der 'RAF' sowie zu Aktivitäten ihrer
Mitglieder bis in die Gegenwart sind als zeitgeschichtliche Vorgänge
allgemeinkundig, in ihren Einzelheiten gerichtsbekannt. Insoweit
gründen sie sich auf Erkenntnisse, die der Senat in vielen bereits
verhandelten Strafsachen vorzugsweise gegen Angehörige oder
Unterstützer der 'RAF' sowie durch Kenntnisnahme einer
Fülle von Entscheidungen anderer Gerichte zuverlässig gewonnen
hat." (Urteil des OLG Stuttgart vom 2. April 1985 gegen Brigitte
Mohnhaupt und Christian Klar)'
"Seit 1970 besteht ... eine von ihren Mitgliedern ....'RAF'
genannte terroristische Vereinigung, die sich die Zerstörung der
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung unter anderem durch
Gewalttaten wie vor allem Morde, Sprengstoffanschläge und
Raubüberfälle zum Ziel gesetzt hat." (Ebda.,
S.13)
"Daß die terroristische Vereinigung 'RAF' auch
gegenwärtig fortbesteht, ist allgemein-kundig: In den Monaten ab
Dezember 1984 sind in ihrem Namen eine Reihe von Bombenanschlägen
ausgeführt worden." (Urteil des Hanseatischen
Oberlandesgerichts Hamburg vom 21. Januar 1986 gegen Elizabeth
M.).'
3. RAF -Verhaltensmaßregel: "Schießbefehl"
"Die Verhaltensmaßregeln für das Leben im Untergrund,
nach Möglichkeit eine drohende polizeiliche Festnahme durch - notfalls
auch tödlichen - Schußwaffengebrauch zu verhindern, werden von
allen Mitgliedern getragen." (Gerichtliche
Offenkundigkeitserklärung des OLG Stuttgart im Klar/
Mohnhaupt-Vetfahren, ähnlich u.a. im Urteil des Hanseatischen
Oberlandesgerichts Hamburg vom 21. Januar 1986 gegen Elizabeth M., 5.
8)
4. RAF - Organisation auf unterschiedlichen Ebenen
"Legale RAF": die in der Legalität operierenden
(mutmaßlichen) Mitglieder der RAF. Die "Illegalen": die im
Untergrund lebenden Mitglieder der 'RAF'. (s. dazu
Offenkundigkeitserklärung des OLG Stuttgart in der Strafsache Ingrid
J., S. 3)
"RAF im Knast": "Die terroristische Vereinigung RAF
bestand auch in der Haft weiter fort. Die inhaftierten Mitglieder
fühlten sich weiterhin als Angehörige der Organisation und
kämpften für deren terroristische und revolutionäre
Ziele" (u.a. mit Hungerstreik!Erklärungen). (Urteil des
HansOLG Hamburg gegen Elizabeth M., 5. 12ff)
5. Zum Hungerstreik der Gefangenen aus der RAF
"Die hungerstreikenden Gefangenen ... sahen im Hungerstreik den
Kampf für ihre Ziele, verstanden sich als Einheit mit der in Freiheit
befindlichen 'RAF' und führten mit ihr den Kampf einheitlich
'drinnen und draußen'. Auch die in Freiheit befindlichen
Mitglieder der 'RAF' faßten den Hungerstreik so auf und
nutzten ihn im geschilderten Sinne für ihre Zwecke als Ausdruck und
Form einheitlichen Kampfes."
"Die Feststellungen zum Hungerstreik 1981 beruhen auf
gerichtskundigen Tatsachen. Die Mehrzahl der Mitglieder des Senats war
bereits in der Vergangenheit mit Strafverfahren befaßt, die sich
gegen Personen richteten, denen Straftaten nach §129a bzw. § 129
StGB vorgeworfen wurden, die mit jenem Hungerstreik zusammenhingen und
dessen Orientierung wie Ziele erkennen und feststellen ließen.
Darüber hinaus sind dem Senat Urteile anderer Oberlandesgerichte
dienstlich bekannt geworden, die gleichartige Straftaten von Mitgliedern
oder Unterstützern der 'RAF' betrafen und gleichermaßen
zur Feststellung der auf Unterstützung der 'RAF' angelegten
Zielsetzung des Hungerstreiks führten. Gerichtskundig ist es ebenso,
daß die in den Vollzugsanstalten einsitzenden Angehörigen der
'RAF' ... den revolutionären Kampf auch im Gefängnis
fortsetzten und ihn mit der Forderung nach Zusammenlegung nach
draußen zu tragen beabsichtigen." (Urteil des HansOLG Hamburg
gegen Elizabeth M., 5. 12f., 21f.)
6. "Freitod" von Gefangenen aus der RAF...
"... Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Gudrun Ensslin nahmen sich
in der Nacht vom 17. auf 18. Oktober 1977 in ihren Zellen in der
Vollzugsanstalt Stuttgart das Leben."
(Offenkundigkeitserklärung des OLG Stuttgart im
Klar/Mohnhaupt-Ve,fahren89 sowie Urteil des OLG Stuttgart vom 21. März
1989 - 6 0Js 47/78 -‚ bestätigt durch BGH-
Beschluß vom 6. Juli 1981 - 3 StR 451/81)0
"Der Senat erachtet für allgemeinkundig, daß der
Gefangene Sigurd Debus am 16. April 1981 an den Folgen seines Hungerstreiks
(nicht etwa an der durchgeführten Zwangsernährung; R.G.) starb,
mit dem er sich am Anfang Februar 1981 begonnenen kollektiven Hungerstreik
der 'Gefangenen aus der RAF' beteiligt hatte."
(Offenkundigkeitserklärung des OLG Stuttgart in der Strafsache J.
u.a., S.3)
7. Kollektivitätsthese gegen links: Mitgegangen - mitgefangen
Auch diese sich ganz besonderer Beliebtheit erfreuende These erbt sich
per Gerichtskundigkeit von Anklage zu Anklage, von Urteil zu Urteil weiter:
Die RAF sei nach dem "Prinzip der Kollektivität"
organisiert, alle Mitglieder seien gleichermaßen informiert und an
allen Entscheidungen prinzipiell gleichrangig beteiligt. So u.a. zu lesen
in den Anklagen und Urteilen gegen Angelika Speitel (1979), Stefan
Wisniewski (1981), Sieglinde Hofmann (1982), Peter-Jürgen Boock
(1984), Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar (1985), Rolf-Clemens Wagner
und Adelheid Schulz (1987) usw.
"In ihr (der RAF; R.G.) herrschte und besteht Einigkeit
darüber, die gesetzten Ziele kollektiv zu verwirklichen. Jeder
einzelne soll hieran mitwirken; sein Handeln hat er an den gemeinsam zu
fassenden Entschlüssen auszurichten." (Gerichtliche
Offenkundigkeitserklärung des OLG Stuttgart im
Klar/Mohnhaupt-Verfahren 1984)
"Ziele und Strategien werden ebenso wie die bewaffneten
'Aktionen' nach vorangegangener Diskussion vom Kollektiv für
alle verbindlich festgelegt. Die Willensbildung selbst geschieht nach dem
Grundsatz der Gleichberechtigung aller Mitglieder... 'Aktionen'
werden von langer Hand geplant, sorgfältig vorbereitet und nach einer
genau durchdachten, gemeinsam erarbeiteten Aufgabenteilung
durchgeführt. Dabei sind alle Teilnehmer einer 'Aktion' an
Planung, Vorbereitung und Ausführung gleichrangig beteiligt und
hierfür verantwortlich..." (Urteil des OLG Stuttgart gegen
KlarlMohnhaupt, S.15; sinngemäß auch etwa im Urteil des OLG
Stuttgart vom 6. Dezember 1985 gegen Claudia W. und im Urteil des
Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 21. Januar 1986 gegen
Elizabeth M.)
Diese "Erkenntnis", die der 'Realität in keiner Weise
standhält', wurde Ende der siebziger Jahre unter ähnlich
zweifelhaften Bedingungen gewonnenen wie die Gerichtsbekannten
Glaubenssätze über die "Revolutionären Zellen"
(u.a. Vernehmung der verletzten Angelika Speitel im Krankenhaus von
Polizisten, die äußerlich nicht von medizinischem Personal zu
unterscheiden waren). Gleichwohl basiert darauf eine Haftungskonstruktion,
wonach alle Mitglieder der RAF- Kommandoebene für alle während
ihrer Mitgliedschaft von der Gruppe begangenen Taten strafrechtlich zu
haften haben - gleichgültig, ob sie nun im Einzelfall tatsächlich
davon wußten bzw. diese billigten, an ihnen gar unmittelbar
tatausführend beteiligt waren oder nicht (Beispiel: Urteil gegen
Peter-Jürgen Boock).
"Aus dem bereits dargelegten Prinzip der Kollektivität
folgt, daß seine Mitglieder diese Tat (hier Schleyer- Entführung
und -Ermordung; R.G.) erst nach eingehender Diskussion unter Billigung
aller beschlossen haben und daß auch die Aufgabenverteilung bei
deren Vorbereitung und Durchführung bis zur Billigung durch
alle erarbeitet worden ist." (Klar/ Mohnhaupt- Urteil, S.269;
Hervorhebungen durch das Gericht).
Diese bisher nirgends normierte, systematisch praktizierte
Beweisvereinfachung findet ihre Wurzel im Organisationstatbestand des
§129a StGB; einmal vom Staatsschutz konstruiert, wird diese
"Kollektivitätsthese" über die Gerichtskundigkeit, also
ebenfalls per Beweisumgehung, seit über einem Jahrzehnt von RAF-
Verfahren zu RAF- Verfahren weitertradiert. Wir haben es also hier mit
einer doppelten Beweisumgehung zu tun, mit zwei sich ergänzenden und
gegenseitig verschärfenden Strukturelementen der Politischen Justiz
gegen "Terroristen".
Die behauptete Kollektivität der RAF erübrigt den
Ermittlungsbehörden und Gerichten im konkreten Einzelfall einen
individuellen Straftat- Nachweis gegen die Angeklagten und hilft ihnen so
über die regelmäßig offen zu Tage tretenden Beweisnöte
hinweg (wer war für was verantwortlich?). Es ist dann im wesentlichen
nur noch erforderlich, die Mitgliedschaft nachzuweisen und eine
Mittäterschaft indiziell zu konstruieren.
Allerdings gibt es auch hier - wie bei den RZ-Verfahren - durchaus
widersprüchliche Urteils- Feststellungen und seltene Variationen des
ansonsten feststehenden Prinzips.
So wird in einem Urteil des OLG Frankfurt vom 18.7.1985 gegen Gisela D.
(1 StE 1/84, S. 298, 316) der Kollektivitätsthese (auch
"Gruppentheorie" genannt) eine klare Absage erteilt; sie wird in
diesem Verfahren konsequenterweise nicht per Gerichtskundigkeit
übernommen.
Dieses Urteil blieb allerdings eine Ausnahme. Nach wie vor gilt das
Kollektivitätsprinzip in RAF-Verfahren fast uneingeschränkt.
Hatte "Der Spiegel" zum Urteil im großen Stammheimer
Verfahren gegen Baader u.a. im Jahre 1977 noch das "'Stammheimer
Landrecht', wie die Stuttgarter Art des eher großflächigen
Schuldnachweises bespöttelt wurde" schaff kritisiert, hatte die
"Stuttgarter Zeitung" damals noch konstatiert, daß
"unser Recht... keine Kollektivschuld" kennt, also "jedem
einzelnen ... seine Tatbeteiligung nachgewiesen werden" muß, so
müssen wir nach anderthalb Jahrzehnten feststellen, daß sich
dieser "Sonderfall Stammheim" ("Der Spiegel") bis heute
gehalten hat und längst zum Normalfall "Modell Stammheim"
geworden ist.
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