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§129a

Buch-Titel VSA-Verlag, Stresemannstr. 384a, 2000 Hamburg 50, ISBN 3-87975-576-0


Die Offenkundigkeit von Vor-Urteilen

Gerichtliche Beweiskonstruktionen

Wir kommen noch einmal zurück auf den "Terrorismus"-Prozeß gegen die Journalistin Dr. Ingrid Strobl (1989): Ihr war von der Anklagebehörde Mitgliedschaft in einer "terroristischen Vereinigung" nach §129a Strafgesetzbuch und Beteiligung an einem Sprengstoff- Anschlag vorgeworfen worden. Die Anklagekonstruktion der Bundesanwaltschaft (BAW) ging damals, wie bereits im Eingangskapitel dargestellt, etwa folgendermaßen: Sie machte aus einem Weckerkauf eine Tatmittel- Beschaffung für besagten Anschlag und leitete dann aus der angeblichen Struktur und Arbeitsweise der "Revolutionären Zellen" (RZ), die sich zu dem Anschlag bekannt hatten, eine Mitgliedschaft in einer "terroristischen Vereinigung" ab - mit der Behauptung, die RZ seien eine solche "terroristische Vereinigung" gemäß §129a StGB und Tatmittel würden ausschließlich von RZ- Mitgliedern, nicht von Außenstehenden besorgt. 0-Ton Anklageschrift des Generalbundesanwalts vom 26. Mai 1988:

"Es ist mit den in vielen authentischen Schriften der 'Revolutionären Zellen' immer wieder betonten und meist auch erfolgreich praktizierten Arbeitsprinzipien der Abschottung und Klandestinität nicht vereinbar, Tatmittel für Anschläge dieser Vereinigung durch Außenstehende beschaffen zu lassen. Die Angeschuldigte muß daher Mitglied dieser Organisation sein" (S.55). Und daraus messerscharf geschlossen: "Muß aus der Tatsache, daß die Angeschuldigte ein wichtiges Tatmittel für einen Anschlag der 'Revolutionären Zellen' besorgt hat, gefolgert werden, daß sie selbst Mitglied dieser Vereinigung ist, muß sie auch gewußt haben, welche Ziele und Strategien diese Organisation verfolgt und welche Taten zu deren Durchsetzung von ihr verübt werden" (S.88). Das Prinzip dieser anklagenden Art von "Beweisführung": gewagte Schlußfolgerungen aus schlichten Vermutungen, Hypothesen und unbewiesenen Indizien. Beweise für die Mitgliedschaft Strobls lagen jedenfalls zu keinem Zeitpunkt vor, ebensowenig wie Beweise dafür, daß sie um die spätere Verwendung des von ihr gekauften Weckers überhaupt gewußt hat.

Beweisvereinfachung per Offenkundigkeitserklärung

Eine solche Situation bringt Anklagebehörden und Gerichte normalerweise in große (Beweis-) Schwierigkeiten. Nicht allerdings, oder doch in wesentlich geringerem Maße in politischen Strafverfahren, insbesondere in sog. Terrorismus- Prozessen: Im Rahmen des §129a kann einerseits, entgegen sonst geltender strafrechtlicher Prinzipien, der Nachweis einer konkreten Tatbeteiligung schon mal entbehrlich sein (über die sog. Kollektivitätsthese) - und zwar dann, wenn die "Mitgliedschaft" in einer "terroristischen Vereinigung" konstruierbar ist, die etwa die Verantwortung für eine inkriminierte Tat übernommen hat. Am "Nachweis" einer solchen Mitgliedschaft wurde im Strobl- Verfahren, wenn auch letztlich ohne Erfolg, von Anfang an fleißig gebastelt. Darüber hinaus wird in derartigen Verfahren schon längst gewohnheitsmäßig zu einer weiteren Strategie der Beweisvereinfachung gegriffen - nämlich zur sog. Offenkundigkeit. Auch hierfür ist der Strobl- Prozeß ein instruktives Beispiel.

Die Strafprozeßordnung verpflichtet das Gericht generell zur "Erforschung der Wahrheit" (sog. Inquisitionsmaxime). Hierzu ist die "Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind" (§244 Abs.2 StPO). So lautet der Grundsatz der Beweisregelung, von dem es allerdings etliche Ausnahmen gibt. So darf ein Beweisantrag der Verteidigung u.a. dann vom Gericht abgelehnt werden, "wenn eine Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist" (§244 Abs. 3 StPO). Tatsachen, die vom Gericht als offenkundig deklariert werden, bedürfen also keines Beweises mehr, auch keines entlastenden, es sei denn, sie betreffen unmittelbar die Tatbestandsmerkmale der aufzuklärenden Straftat selbst.

Wann können die Gerichte nun mit der "Offenkundigkeit von Tatsachen" argumentieren und jene Tatsachen auf diese Weise der Beweiserhebung im öffentlichen Verfahren entziehen?

"Offenkundigkeit" gilt in der juristischen Terminologie als Oberbegriff, der die Unterbegriffe "Allgemeinkundigkeit" und "Gerichtskundigkeit" umfaßt. Als allgemeinkundig gelten Tatsachen und Erfahrungssätze, so der Bundesgerichtshof, "von denen verständige Menschen regelmäßig Kenntnis haben, oder über die sie sich aus zuverlässigen Quellen ohne besondere Fachkunde sicher unterrichten können, wozu auch allgemeine wissenschaftlich gesicherte Erfahrungssätze gehören" - also etwa gesicherte historische und kalendarische Daten, einfachere physikalische Gesetze und Naturvorgänge sowie Tatsachen und Daten, die aus Lexika, Geschichtsbüchern, Landkarten, Stadtplänen, Kalendern, Fahrplänen, Kurszetteln, teilweise aus Funk, Fernsehen, Zeitungen etc., entnommen werden können. Noch nicht abgeschlossene zeitgeschichtliche bzw. politische Vorgänge fallen jedoch in aller Regel nicht unter diese Kategorie der Allgemeinkundigkeit, weil sie sich noch im Fluß befinden und je nach politischem Standpunkt unterschiedlich eingeschätzt werden. Insoweit ist also eine Beweisaufnahme im Verfahren erforderlich.

Als gerichtskundig gelten Tatsachen und Erfahrungssätze, so die allgemeine Definition, die "der Richter im Zusammenhang mit seiner amtlichen Funktion und Tätigkeit zuverlässig in Erfahrung gebracht hat"; dieses Wissen muß in die Verhandlung mitgebracht werden, darf also nicht erst im laufenden Verfahren erworben sein (sonst muß Beweis erhoben werden). Dabei können auch die Feststellungen anderer Richter, von denen das Gericht amtlich erfahren hat, gerichtskundig sein. Nach herrschender Auffassung erfordert die Gerichtskundigkeit bei Kollegialgerichten, also den Senaten bei den Oberlandesgerichten, durchaus nicht die Kenntnis aller Richter; es soll bereits die Kenntnis eines einzigen Gerichtsmitglieds oder aber der Mehrheit des Gremiums genügen.

Ausgerechnet im "Karlsruher Kommentar zur Strafprozeßordnung", herausgegeben vom Präsidenten des Bundesgerichtshofs Gerd Pfeiffer, ist die Erkenntnis nachzulesen, daß "in der Praxis der Strafgerichte ... die Gerichtskundigkeit keine große Rolle" spielt. Das ist durchaus richtig, doch bleibt dabei schamhaft verschwiegen, daß sie in der vom Karlsruher Generalbundesanwalt und den Oberlandesgerichten ausgehenden Praxis der politischen Strafjustiz eine umso größere Rolle spielt - was wiederum auf deren sonderjustitiellen Charakter verweist.

So verlasen etwa im Strobl- Verfahren des Jahres 1989, zum großen Erstaunen des Prozeß- Publikums, zwei Richter bereits in den ersten Verhandlungstagen immer wieder stundenlang Urteile sowie andere Dokumente aus grauer Vorzeit - was die ZuhörerInnen massenweise zum Gähnen und schließlich aus dem Saale drängte. Denn der Sinn dieser Vorlese- Prozedur blieb den meisten anfänglich verschlossen.

Vier Urteile aus den Jahren 1979, 1980 und 1982 sowie diverse RZ- Schriften (insbesondere der "Revolutionäre Zorn") aus den siebziger Jahren spielten dabei eine zentrale Rolle. Sie wurden auf Anordnung des Vorsitzenden Richters auszugsweise verlesen, wie es hieß "zur Verdeutlichung und Konkretisierung der vom Senat als allgemeinkundig und gerichtskundig bezeichneten Tatsachen ... hinsichtlich der Existenz der terroristischen Vereinigung 'Revolutionäre Zellen' und der von ihr begangenen Straftaten". Mit der Verlesung galten diese Dokumente als ins Verfahren gegen Ingrid Strobl eingeführt - obwohl die den Uralt- Urteilen zugrundeliegenden Sachverhalte offenkundig nichts mit dem aktuell zu verhandelnden Fall zu tun hatten; obwohl die seinerzeit getroffenen Feststellungen eigentlich längst überholt sein müßten und obwohl die Organisationsstruktur und Arbeitsweise der RZ zur Tatsachengrundlage des Schuldvorwurfs gehörten, über die grundsätzlich Beweis erhoben werden muß.

Das Gericht hatte gleich zu Beginn des Verfahrens am 21. Februar 1989 eine sog. Offenkundigkeitserklärung verfaßt. In ihr bezeichnete es bestimmte "Tatsachen" über Existenz, Organisation, Arbeitsweise und Zielsetzung der "Revolutionären Zellen" (RZ) als "allgemeinkundig", andere als "gerichtskundig". Im Wortlaut:

"Aus den ... allgemein zugänglichen zuverlässigen Informationsquellen wie Presse, Rundfunk und Fernsehen sind folgende Tatsachen allgemeinkundig und deshalb offenkundig:

Seit 1973 operiert in der Bundesrepublik Deutschland und in West-Berlin eine auf Dauer angelegte Organisation, die sich ... 'Revolutionäre Zellen' nennt. Zweck dieser Vereinigung ist, die bestehenden Herrschaftsverhältnisse mit dem Ziel des gewaltsamen Umsturzes der vorhandenen Gesellschaftsordnung zu bekämpfen. In Verfolgung dieses Ziels hat die Vereinigung zahlreiche schwere Straftaten wie Sprengstoff- und Brandanschläge insbesondere gegen Militäreinrichtungen und Wirtschaftsunternehmen begangen...

Durch die Bearbeitung anderer Strafsachen und durch das Studium der dem Senat dienstlich mitgeteilten rechtskräftigen Erkenntnisse anderer Strafgerichte sind dem Senat folgende Tatsachen gerichtskundig und deshalb offenkundig: Die Mitglieder der Organisation 'Revolutionäre Zellen' operieren in Gruppen, die nach außen streng abgeschlossen sind, jedoch untereinander in engem Kontakt stehen und die Zielrichtung ihrer Anschläge gemeinsam festlegen. Mitglieder der Vereinigung sind unter anderem folgende Personen gewesen: Gerhard Heinrich A., Enno S., Hermann F. ...

Über die vorstehend genannten offenkundigen Tatsachen wird der Senat keinen Beweis erheben (§ 244 Absatz 3 Satz 2 StPO)."

Solche gerichtlichen "Offenkundigkeitserklärungen" ziehen sich seit Jahren durch sämtliche sog. Terrorismus- Verfahren - ob es sich nun um RZ- oder RAF-Prozesse handelt. Sie bergen politisch, strafprozessual und verfassungsrechtlich brisanten Zündstoff in sich: Staatsanwaltschaft und Gerichte können nämlich mit der "Offenkundigkeit" von Tatsachen, die sie angeblich oder tatsächlich aus früheren Dokumenten bzw. Urteilen beziehen, das laufende Verfahren nachhaltig beeinflussen und manipulieren, da die derart deklarierten "Tatsachen", wie bereits erwähnt, prinzipiell nicht mehr beweisbedürftig sind. Entsprechende entlastende Beweisanträge der Verteidigung können nach § 244 Abs. 3 StPO ohne weiteres abgelehnt und damit der öffentlichen streitigen Verhandlung entzogen werden. Oder aber die Verteidigung wird darauf verwiesen, den Beweis des Gegenteils anzutreten. Dies bedeutet letztlich, daß nicht mehr das Gericht Tathandlung und Verstrickung der Angeklagten nachweisen muß, sondern diese ihre Unschuld - eine glatte Verkehrung rechtsstaatlichen Prinzipien. Der verfassungsgemäße Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz) und auf ein faires Verfahren (Art. 20 GG) wird drastisch beschnitten.

Zur dunklen Geschichte der "Notorietät"

Die sog. Notorietät, also die Gerichtskundigkeit, bildete bereits im späten Mittelalter ein wesentliches Fundament des Inquisitionsprozesses gegen "Ketzer" und "Hexen", "des schlimmsten von Menschen erfundenen Gerichtsverfahrens" (Lea) in der Geschichte der "Gerichtsbarkeit". So war es nur folgerichtig, daß das Bürgertum bei seiner Befreiung von den geistigen und materiellen Fesseln des Feudalismus und seinem Aufstieg zur Macht bemüht war, sich von dieser und anderen Prozeßmaximen der Inquisition scharf abzugrenzen; dem bürgerlichen Strafprozeßrecht galt der Inquisitionsprozeß stets als reine Barbarei. Als Wesenskern des modernen Strafprozesses wird denn auch die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im öffentlichen Verfahren angesehen. Erst diese eröffnet die Möglichkeit der Überprüfbarkeit, des Einflusses und Widerspruchs durch die Angeklagten und ihre Verteidigung.

Dementsprechend zögerte bereits das Reichsgericht in einer seiner ersten Entscheidungen zur Frage der Notorietät aus dem Jahre 1887, das Institut der Gerichtskundigkeit in vollem Umfang anzuerkennen, weil es jenen Grundsätzen der Unmittelbarkeit und des rechtlichen Gehörs weitgehend widerspreche: "Die sämtlichen Vorschriften der Strafprozeßordnung über die Beweiserhebung in der Hauptverhandlung beruhen darauf, daß alles, was auf der Wahrnehmung beruht, durch die Vernehmung des Wahrnehmenden, alles was beurkundet, durch Verlesung der Urkunde, alles was der Richter selbst gesehen hat, durch die richterliche Augenscheinseinnahme in der gesetzlich vorgeschriebenen Form festzustellen ist."

Mit dieser Begründung hob das Reichsgericht am 15. November 1887 ein Urteil des Landgerichts Potsdam aus dem selben Jahr auf: Dann war als "gerichtskundig" angesehen worden, daß innerhalb der sozialdemokratischen Partei eine Verbindung bestehe, die darauf hinarbeite, die Vollziehung des Sozialistengesetzes ("Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" vom 21. Oktober 1978) "durch Verbreitung verbotener Schriften zu verhindern oder zu entkräften"; dies sei "auch aus den bisher geführten Sozialistenprozessen ... zu entnehmen", hatte es in jenem Urteil geheißen, mit dem der Angeklagte in erster Instanz allein deswegen verurteilt worden war, weil er zu besagter "Verbindung" gehört habe.

Das Reichsgericht warnte demgegenüber in seiner Revisions- Entscheidung ausdrücklich vor einer Ausdehnung des Anwendungsbereiches von Gerichtskundigkeitserklärungen: So sollte nur Gerichtskundiges, das "auch zur allgemeinen Kenntnis gelangt" ist, den Beweis überflüssig machen. Insbesondere wies das Reichsgericht daraufhin, daß es dem bürgerlichen Strafverfahrensrecht widerspreche, das "angebliche Verbrechen selbst oder einzelne Tatsachen"‚ die zu den notwendigen "objektiven oder subjektiven Voraussetzungen" eines Verbrechens gehören, als offenkundig zu bezeichnen. Weiter wird in der Entscheidung ausgeführt:

"Daneben kennt das Gesetz keine Gerichtskundigkeit in bezug auf Thatsachen, welche die Existenz des Verbrechens in objektiver oder subjektiver Hinsicht bedingen. In bezug auf alle diese Thatsachen ist der Beweis in der gesetzlichen Form durch die Hauptverhandlung zu erbringen."

Daß dies insbesondere für die "strafrechtliche" (De-) Qualifizierung von Vereinigungen als gemeingefährlich, sozialdemokratisch, kommunistisch, kriminell, terroristisch, hochverrräterisch, verfassungswidrig etc. gelten muß, dürfte einsichtig sein, zumal dann, wenn den jeweils Angeklagten eine strafbare Zugehörigkeit oder Unterstützungshandlung in bezug auf eine jener Vereinigungen vorgeworfen wird. Zur Begründung des zitierten Grundsatzes formulierte das Reichsgericht in aller Deutlichkeit: "Die gegenteilige Annahme würde dahin führen, den Augeschuldigtenbeweis durch die Notorietät ersetzen zu lassen und der subjektiven Willkür Thür und Thor zu öffnen."

Das Reichsgericht blieb in der Folgezeit diesen hehren Grundsätzen jedoch nicht treu und öffnete der Willkür eigenhändig Thür und Thor. Insbesondere in der Weimarer Republik bediente es sich des ungeschriebenen Instituts der "Gerichtskundigkeit", und zwar vornehmlich bei seinem Kampf gegen Kommunisten und all jene, die dafür gehalten wurden. Es entwickelte im Laufe der Zeit insgesamt acht Gründe zur gerichtlichen Ablehnung von Beweisanträgen, die dann schließlich in der NS- Zeit mit der "Großen Strafprozeßreform" erstmals zum Gesetz erhoben wurden. Darunter findet sich auch die "Offenkundigkeit" - eine gesetzliche Nazi- "Errungenschaft" des Jahres 1935, die später unbesehen und kritiklos ins bundesdeutsche Strafprozeßrecht übernommen wurde.

Die Problematik der "Offenkundigkeit", mit deren Hilfe nach Belieben Beweisverhinderung betrieben werden kann, zeigte sich besonders deutlich in der Anwendungspraxis während der NS- Herrschaft. Die NS- Gerichte erklärten die faschistische Propaganda und die Lügen der Goebbels- Presse zu "offenkundigen Tatsachen", womit sie sich den Beweis insbesondere in Hoch- und Landesverrats Verfahren ersparten. Auf diese prozeßvereinfachende Weise konnten sie Oppositionelle und Regime- Gegner als Verbrecher verfolgen, ohne ihnen konkrete Straftaten nachweisen zu müssen.

Das Reichsgericht bezeichnete es bereits als "gerichtsnotorisch" und damit als ohne weiteres "bewiesen", daß "die Kommunistische Partei Deutschlands ... mit allen Mitteln bestrebt (ist), die bestehende Verfassung des Reichs und der Länder zu beseitigen und an ihrer Stelle auf dem Wege über die Diktatur des Proletariats eine Räteregierung nach russischem Muster zu errichten". Diese Floskel zieht sich später auch durch eine lange Reihe von NS- Gerichtsentscheidungen gegen angebliche oder tatsächliche Kommunisten. In der Diktion des Volksgerichtshofs lautet die entsprechende Offenkundigkeitserklärung folgendermaßen:

Alle von den Kommunisten in Deutschland verfolgten Ziele und Bestrebungen sind hochverräterischer Art, da die KPD von jeher darauf ausgegangen ist, einen Umsturz der in Deutschland herrschenden politischen Zustände, jetzt insbesondere den gewaltsamen Sturz der nationalsozialistischen Staatsform und die Errichtung einer Arbeiter- und Bauerndiktatur nach sowjetrussischem Muster herbeizuführen.

Auf dieser "offenkundigen" Grundlage wurden dann Menschen u.a. wegen "Beihilfe zur Vorbereitung zum Hochverrat" zu Gefängnis- und Zuchthausstrafen verurteilt, weil sie etwa eine der KPD gehörende Schreibmaschine besessen, für die "Rote Hilfe" bzw. für politische Gefangene Geld gesammelt oder illegale kommunistische Zeitungen gekauft oder weitergegeben haben sollen oder weil sie der "Niederlegung eines schlichten Kranzes" am Grabe von gefallenen Revolutionären überführt worden waren.

Schon bald wurde die gerichtsnotorische Behauptung vom "hochverräterischen Charakter" auf die SPD, die Gewerkschaften und alle anderen antifaschistischen oder links- demokratischen Vereinigungen ausgedehnt: Seit dem Verbot der SPD am 22. Juni 1933 hielt es das Reichsgericht für "offenkundig", daß die SPD "hochverräterische Ziele" verfolge - Beweis wurde darüber nie erhoben. Nach gleichem Muster wurden sämtliche Aktivitäten der "Sozialistischen Arbeiterpartei" (SAP) vom Reichsgericht für "offenkundig hochverrräterisch" erklärt: Hinsichtlich der Ziele dieser Partei, so Ingo Müller ("Furchtbare Juristen"), übernahm das Gericht einfach seine ursprünglich für die KPD entwickelte Routineformel. Insgesamt bezeichnet Müller diese gesetzliche und gerichtspraktische Entwicklung, mit der die Ablehnung eines Beweisantrages über das Institut der "Offenkundigkeit" und weitere Ablehnungsgründe ins freie Ermessen des Gerichts gestellt wurde, als einen neuen "Schritt zum 'modernen' Inquisitionsprozeß".

Fortsetzung folgt: in der Bundesrepublik Deutschland

Nach der legendenumwobenen "Stunde Null", dem sogenannten Neubeginn nach der Befreiung vom Hitler- Faschismus, schickte man sich alsbald an, wieder auf "Altbewährtes" zurückzugreifen. Schon mit dem Vereinheitlichungsgesetz von 1950 wurde in § 244 Strafprozeßordnung im wesentlichen die nationalsozialistische Beweisregelung aus dem Jahre 1935 übernommen - inclusive aller acht Ablehnungsgründe, also auch der Offenkundigkeitsregelung.

Auch in der Praxis übte sich die Politische Justiz auf der Grundlage eines restaurierten, weitgefaßten politischen Staatsschutz- Rechts in verhängnisvoller Kontinuität, und das hieß: exzessive Kommunistenverfolgung. Abermals bediente sich diese Justiz, die wiederum in politischen Sonder- Strafkammern und -Senaten organisiert war, hemmungslos der Offenkundigkeit, um sich der Beweiserhebung in öffentlichen Verfahren zu entledigen und einmal getroffene Feststellungen von Verfahren zu Verfahren weiterverwenden zu können - frei nach der Erkenntnis des Mephisto in Goethes Faust:

"Es erben sich Gesetz' und Recht
wie eine ew'ge Krankheit fort!"

Ausgangspunkt dieser Justiz- Ära der fünfziger und sechziger Jahre bildete das sog. Fünf- Broschüren- Urteil (StE 3/52) des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 8. April 1952, das in einer Art Gespenster- Verfahren ohne Angeklagte erging. Auf der Anklagebank "saßen" derweil 5 Broschüren, die mutmaßlich von der KPD bzw. SED (DDR) stammten und in denen insbesondere die revolutionären Verhältnisse in der UdSSR beschrieben wurden. Diese Schriften, die zuvor beschlagnahmt worden waren, zielten auf eine Beseitigung der freiheitlich- demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes - so die Begründung für dieses sog. objektive Verfahren.In den Gründen des abschließenden BGH- Beschlagnahme- Urteils wird ausgeführt, daß die SED und jede/r, die oder der mit ihr zusammenarbeitet oder in irgendeiner Abhängigkeit von ihr steht, "ein bestimmtes hochverräterisches Unternehmen vorbereitet". Als Nahziel jenes nicht näher definierten "Unternehmens" wird die "Errichtung der Diktatur des Proletariats in der Bundesrepublik", als Fernziel die "Herbeiführung der klassenlosen Gesellschaft" genannt.

Dieses Urteil, das entgegen der Vorschriften der Strafprozeßordnung ohne Gewährung rechtlichen Gehörs erging, ohne Hinzuziehung von Beschuldigten oder Zeugen, dieses Retorten- Urteil entpuppte sich rasch als richtungsweisend und machte beispiellose Justiz- Karriere: "Auf diese Weise haben ... Bundesanwaltschaft und Bundesgerichtshof bewirkt, daß praktisch die (west-) deutschen Gerichte sich an die Feststellung gebunden fühlen, daß jeder, der mit SED und KPD in irgendeinem politischen, persönlichen oder finanziellen Zusammenhang steht, als Hochverräter gilt", resümierte der liberale Publizist Müller- Meiningen in der "Süddeutschen Zeitung" vom 21./22. November 1953. Und er sprach in diesem Zusammenhang vom "Hexeneinmaleins der kollektiven Schuldvermutung", wonach jeder Kommunist in dieser seiner Eigenschaft automatisch Hochverräter sei; ein solches Verfahren - so der Publizist - sei nicht einmal in der NS-Zeit erfunden und angewandt worden.

Normalerweise werden grundsätzliche BGH-Entscheidungen schnellstens in juristischen Fachschriften oder Entscheidungssammlungen veröffentlicht. Doch mit dem "Fünf-Broschüren-Urteil" verfuhr man anders: Es wurde auf dem Dienstwege an alle Gerichte und Staatsanwaltschaften der Politischen Justiz versandt und gelangte auf diese Weise zwar nicht in den Rang der Allgemeinkundigkeit, aber doch in den der Gerichtskundigkeit - unter weitgehendem Ausschluß der Offentlichkeit. Es diente nunmehr, landauf, landab, von Flensburg bis München, als Grundlage für eine Vielzahl von Verfahren gegen Tausende mutmaßlicher Kommunisten, ihre Helfer und Helfershelfer. Zunächst hieß es in jeder einschlägigen Anklageschrift meist wortgleich:

"Nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 8. April 1952 beabsichtigt die KPD die Vorbereitung eines gewaltsamen Umsturzes der Verfassung. Der Angeklagte ist Kommunist bzw. gehört einer kommunistischen Tarnorganisation an. Er ist daher schuldig der Vorbereitung zum Hochverrat."

In den verfahrensabschließenden Urteilen wurden die Formulierungen des "Fünf- Broschüren- Urteils" sowie anderer Vor- Urteile meist wortgleich übernommen und lediglich um das Prädikat "zutreffend" oder "überzeugend" bereichert. In all diesen Urteilen wurde letztlich auf einen Schuldbeweis verzichtet; an die Stelle des Beweises trat die Berufung auf das "Fünf- Broschüren- Urteil" des BGH.

Nach mehrfachen Rügen durch die Verteidiger der Angeklagten in diversen Kommunisten-Verfahren ließ man, etwa ab 1954/55, den direkten Hinweis auf dieses "höchst fragwürdige Urteil" (Müller- Meiningen) fallen und erklärte mit Blick auf die bisherige Rechtsprechung, es sei "offenkundig" bzw. "gerichtsbekannt", daß die KPD einen gewaltsamen Umsturz in Westdeutschland vorbereite; daher seien die Angeklagten der Vorbereitung zum Hochverrat schuldig. Die Listen der gerichtlichen Offenkundigkeitserklärungen, die hinter verschlossenen Türen zusammengestellt worden waren, wurden von Verfahren zu Verfahren länger; in den Urteilsbegründungen der Gerichte nahmen sie zuweilen wesentlich mehr Raum ein als die Feststellungen über die Angeklagten selbst und ihre "Taten" sowie die Ausführungen über Beweise, rechtliche Würdigung und Strafzumessung.

Den textbausteinartig montierten Verurteilungen lagen in den fünfziger und sechziger Jahren hauptsächlich zwei Strafbestimmungen zugrunde:

  • der § 90a StGB, der die "Rädelsführerschaft" in einer "verfassungsfeindlichefl Vereinigung" unter Strafe stellt und
  • der § 129 StGB, der die Gründung, Mitgliedschaft, Unterstützung, Werbung bezüglich einer "kriminellen Vereinigung" unter Strafe stellt.

Im letzteren Fall war also die Existenz einer Vereinigung Voraussetzung, die zum Zweck oder Tätigkeitsziel die Begehung strafbarer Handlungen hatte. War in einem der früheren Musterurteile eine bestimmte Vereinigung zur verfassungsfeindlichen gemäß dem damaligen §90a StGB erklärt worden, dann galt es ohne weitere Untersuchung und Beweisführung als "offenkundig", daß diese Vereinigung auch kriminell gemäß §129 ist.

Die Beweisumgehung durch Offenkundigkeitserklärungen nahm in jenen Jahren gewaltige Ausmaße an. In nahezu allen Entscheidungen der Politischen Justiz in Sachen Kommunistenverfolgung wurde der Beweis für die behauptete Verfassungsfeindlichkeit einer nicht verbotenen Partei oder Organisation durch die behauptete Offenkundigkeit ersetzt und zur Grundlage der Verurteilung gemacht.

Mit dieser Prozedur konnten die herrschende antikommunistische Doktrin und die Propagandathesen des Kalten Krieges in der Politischen Justiz der Bundesrepublik etabliert und für unbestimmte Zeit festgeschrieben werden - ohne daß über diesen wesentlichen Verfahrenskomplex noch Beweis erhoben werden mußte, ohne daß die zwangsläufig immer älter werdenden Feststellungen einer Aktualisierung unterzogen worden wären. "Die Offenkundigkeit des Antikommunismus hat den Prozeß der Wahrheitsfmdung der Beweislast enthoben und auf die Frage reduziert, ob der Täter dem politischen Vorurteil subsumierbar ist oder nicht." Das politische Selbstverständnis der angeklagten Kommunisten und jener, die eine partielle Zusammenarbeit mit ihnen befürworteten, spielte jedenfalls keinerlei Rolle. Das grundgesetzlich garantierte rechtliche Gehör schrumpfte insoweit gegen Null.

Gleichwohl erwiesen sich die meisten der auf solchen Offenkundigkeitserklärungen beruhenden Urteile als revisionsfest: "Das ist für den Senat gerichtsbekannt", meinte lapidar etwa der 2. Strafsenat des BGH bei der Uberprüfung eines Urteils unterer Instanz: "Deshalb genügen die etwas knappen Ausführungen, mit denen die Strafkammer die Volksbefragung (zur bzw. gegen die Remilitarisierung der BRD; R.G.) als einen Angriff auf die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik kennzeichnet."

Gleichzeitig konnte mit der Verbannung der Beweiserhebung aus der öffentlichen Verhandlung die politische Auseinandersetzung im Gerichtssaal weitgehend unterbunden werden. Dieser Entpolitisierungseffekt wird schlaglichtartig ersichtlich aus der gerichtlichen Ablehnung von Beweisanträgen der Verteidigung. Der in Kommunistenprozessen erfahrene Heidelberger Strafverteidiger Walter Ammann faßte die entsprechende Ablehnungsbegründung einer Strafkammer so zusammen: "...es würde sich dabei nur um politische Thesen ... oder um Werturteile handeln; sie verfolgten darüber hinaus lediglich den Zweck, den politischen Kampf in den Gerichtssaal zu tragen, und würden die Verhältnisse der Bundesrepublik unter Anklage stellen. Sie dienten somit nicht der Verteidigung und seien damit verfahrensfremd."

"Aus einer derart exzessiven Verwendung des strafprozessualen Instituts der Offenkundigkeit folgte, daß über die zentrale Frage der Politischen Justiz, nämlich ob die Politik der Kommunisten tatsächlich verfassungswidrig sei, im Prozeß nicht mehr gestritten werden konnte... Für den Angeklagten bedeutete die Zugehörigkeit zu einer offenkundig verfassungswidrigen Vereinigung meist schon die Verurteilung." Denn was offenkundig ist, was sozusagen alle wissen, ja das muß doch auch oder erst recht dem Täter, insbesondere einem (getarnten) Kommunisten bekannt gewesen sein: "Dem Angeklagten kann dies (die "verfassungwidrige" Tätigkeit der "Freien Deutschen Jugend" FDJ; R.G.) als Funktionär der FDJ nicht verborgen geblieben sein", urteilte etwa der 2. Senat des Bundesgerichtshofs am 30. Januar 1953. Da hilft ihm auch kein Leugnen und kein "Gegenbeweis": "Die Einlassung eines Angeklagten, weder er noch die Organisation, in der er tätig war, habe z.B. die Übertragung der DDR- Verhältnisse auf die Bundesrepublik gewollt, weil dies wegen der sehr unterschiedlichen Entwicklung der beiden Teile Deutschlands gar nicht möglich sei, wird als bloße Schutzbehauptung abgetan" - so die Erfahrung des früheren Strafverteidigers in Kommunisten-Prozessen, Diether Posser.

Diese Methode der Beweisvereinfachung und willkürgleichen Schuldkonstruktion nahm teilweise geradezu groteske Formen an. Nur ein kleines Beispiel zur allgemeinkundigen Kontaktschuld aus dem musikalischen Bereich sei zitiert: "Es ist allgemein bekannt, daß die Schalmeienmusik nicht schlechthin die Arbeitermusik repräsentiert, sondern ausschließlich der KPD zugeordnet ist", so das Amtsgericht Kiel in seinem Beschluß vom 31. März 1957 - ungeachtet der biblischen Überlieferung von den schalmeienspielenden Hirten und Engeln.

Offenkundigkeit in RZ-Verfahren: Resultate finsterster Verhörmethoden

Die unrühmliche Tradition der Offenkundigkeit fand nach der bundesdeutschen Kommunistenverfolgung der fünziger und sechziger Jahre ihre Fortsetzung in den "Terrorismus"- Verfahren. Auf die beschriebene beweis- und prozeßvereinfachende Weise ziehen sich auch hier bestimmte einmal entwickelte Grundbehauptungen mehr oder weniger ungeprüft durch sämtliche einschlägigen Verfahren. Zumeist handelt es sich dabei um die herrschende Staatsschutz- Version über Existenz, Ziele, Strukturen und Arbeitsweisen sog. terroristischer Vereinigungen. Dadurch konnte im staatlichen "Anti- Terror- Kampf" eine in wesentlichen Punkten vereinheitlichte Linie der BKA- Ermittlungs-, BAW- Anklage- und OLG- Rechtsprechungspraxis durchgesetzt und immer wieder fortgepflanzt werden - voll zu Lasten der betroffenen Angeklagten.

Wie solche Staatsschutz-Behauptungen in ein Verfahren eingeführt werden, haben wir am Beispiel des Strobl-Prozesses gesehen. Mit der aufwendigen Vorleseprozedur sollten - so die Strafverteidigerin Edith Lunnebach (Köln) und der Verteidiger Hartmut Wächtler (München) - "bestehende unübersehbare Beweislücken durch Hypothesen über die angebliche Struktur der RZ geschlossen werden", aus der heraus die Anklage dann die Mitgliedschaft von Ingrid Strobl ableitete. Es gab wie gesagt keinerlei stichhaltigen Beweise für eine solche Mitgliedschaft, nur interessegeleitete Schlußfolgerungen, deren behauptete Prämissen apodiktisch in den Raum gestellt worden waren. Durch die Verlesung angeschimmelter Urteile der Jahre 1979 bis 1982 sowie sämtlicher Sprengstoffanschläge der RZ aus 15 Jahren wurden Fakten eingeführt, die nicht mehr hinterfragt werden sollten. Es wurde damit aber auch spürbar ein bestimmtes Prozeß- Klima geschaffen, ein Klima, dem sich die Beteiligten und die Offentlichkeit nicht sollten entziehen können: "Terrorismus" pur.

Um welche "Erkenntnisse" aus zweiter, dritter, vierter Hand, die da als "gerichtskundig" deklariert wurden, geht es nun bei den RZ-Verfahren?

Zunächst und in allererster Linie stützen sich die Gerichte regelmäßig auf das erste RZ-Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf gegen den Lehramtsanwärter Gerd A. und den Diplom-Soziologen Enno Sch. aus dem Jahre 1979. Diese Oldtimer- Entscheidung bildet die nicht versiegende Urquelle, aus der die Tatsachen- Erkenntnisse in Sachen "Revolutionäre Zellen" nach wie vor sprudeln - im wahrsten Sinne des Wortes: ein Ur-Teil, das Vorurteil des jeweils jüngsten Gerichts. Und dieses Urteil schöpft seinerseits insbesondere aus zwei Quellen: nämlich aus dem "Revolutionären Zorn", der "Verbandszeitschrift der Revolutionären Zellen" (so die Sprachregelung der befaßten Oberlandesgerichte) und den Aussagen von Hermann F..

Der ehemalige Heidelberger Student Hermann F. ist jedoch noch nicht mal ein klassischer Zeuge, denn in keinem der einschlägigen Verfahren ist er je persönlich vor Gericht vernommen worden. Der angebliche Inhalt seiner Aussagen ist vielmehr über bis heute unüberprüfte "sinngemäß zusammengefaßte" handschriftliche Protokolle und Tonband- Abschriften sowie über sog. "Zeugen vom Hörensagen", also Zeugenschaft aus zweiter Hand, in das Ausgangsverfahren sowie in die Folgeprozesse eingebracht worden.

F. wurde in der Zeit zwischen Juni und November 1978, also über fünf Monate lang, von Polizeibeamten, Staatsanwälten und einem Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof vernommen. Zunächst in der Universitätsklinik Heidelberg: Dorthin war er eingeliefert worden, nachdem er durch die Explosion eines selbstgebastelten Sprengsatzes am 23. Juni 1978 schwerste Verletzungen erlitten hatte: F. mußten beide Beine knapp unterhalb des Beckens amputiert und beide Augen entfernt werden; er erlitt außerdem schwere Verbrennungen zweiten Grades im Gesicht, eine Kieferhöhlen- und eine Hirnverletzung.

Der Sprengsatz war ursprünglich für das argentinische Konsulat in München bestimmt gewesen - als Protest gegen die politischen Zustände in Argentinien, wo eine Militärdiktatur das Volk unterdrückte. Im Sommer 1978 wurde in Argentinien die Fußball-Weltmeisterschaft ausgetragen; die bundesdeutsche Mannschaft kickte mit - ungeachtet der bekanntgewordenen Fälle von systematischer Folter. Zu seiner politischen Motivation schrieb Hermann F. in einer späteren Erklärung: "Argentinien ist EIN Beispiel für imperialistische Barbarei betrieben durch die reichen Länder des Westens. Die Bundesrepublik ist in diesem System eine Metropole und hier zu leben heißt für jeden, sowohl Opfer als auch Mitschuldiger zu sein in einem System, das jährlich Millionen Hungertote fordert. Denn wir leben auch von ihnen. Antiimperialistische Politik heißt ausbrechen aus diesem Status von halb Opfer, halb Mitschuldiger..." (September 1980)

Nach seinem schweren Unfall, so F. weiter, sei er "beim Widerstand gegen die Verhältnisse in Argentinien selbst quasi in argentinische Zustände geraten". Was er damit meinte, ist aus der weiteren Geschichte seiner Behandlung in der Heidelberger Klinik abzulesen.

F.'s akute Situation in der Klinik war gekennzeichnet durch die plötzliche Erblindung, den damit verbundenen, existentiellen Schock, durch Orientierungslosigkeit und einen tiefgreifenden Wandel des Umwelterlebens, des Kommunikationsverhaltens, verschärft durch den plötzlichen Wegfall der selbständigen Fortbewegungsfähigkeit und die Wirkungen der mehrfach verabreichten starken Schmerzmittel (morphinhaltiges Dipidolor und Valium). Und in dieser katastrophalen Lage eines Hilflosen, Orientierungslosen und Abhängigen, in der F. zunächst vollkommen auf andere angewiesen war, in dieser Lage wurde er von Ermittlungsbeamten systematisch ausgeforscht ("angehört", wie diese Form der Vernehmung eines lebensgefährlich Verletzten damals genannt wurde).

Schon unmittelbar nach Beendigung der künstlichen Beatmung, nämlich am ersten Tag nach dem Unfall, beginnen auf der Intensivstation der Chirurgischen Klinik F.'s Vernehmungen durch einen Staatsanwalt, der ihn - so ein Aktenvermerk - nicht über seine Rechte belehrt und den F., wie er später berichtet, für einen Rechtsanwalt hält. Die Verhöre werden an den folgenden Tagen durch bis zu vier Polizeibeamte des Landeskriminalamts Baden- Württemberg und des Bundeskriminalamtes fortgesetzt. Im Zustand akuter Lebensgefahr also wird Feiling in vier Tagen zusammen fast zehn Stunden lang verhört (Vermerk im Protokoll über die Vernehmung vom 28. Juni 1978 auf der Intensivstation: "Herr F. macht eine längere Pause und atmet sehr stark"; S.50). Der Inhalt der Verhöre kreiste um die Planung von Anschlägen, um personelle Beteiligung, um Gruppenstrukturen und Arbeitsweisen der "Revolutionären Zellen".

F. hatte unsägliche Angst davor, verlassen zu werden. Für ihn, den nunmehr Blinden und von epilleptischen Anfällen Geplagten, waren damals medizinisches Pflegepersonal und Polizeibeamte nicht unterscheidbar, zumal letztere ihn auch tatsächlich versorgten. Er befand sich zu den ihn umgebenden Personen in einem totalen, unentrinnbaren Abhängigkeitsverhältnis, abgeschirmt von sämtlichen Bekannten und Freunden. Nach F.'s Aussagen sei er zusätzlich in Angst und Schrecken versetzt worden, als man ihm bedeutet habe, sein Leben sei durch Dritte bedroht: Es gebe hier einige, so die Vernehmer, "die ihm gerne eine Spritze verpassen würden" (übrigens ähnlich, wie es dem schwerverletzten Karl-Heinz Roth 1975 im Krankenhaus widerfuhr).

Später wurden die Vernehmungen in verschiedenen Kliniken (Münster, Papenburg) sowie in der Höheren Landespolizeischule zu Münster fortgeführt, wo F. zwischen seinen Klinikaufenthalten, vollkommen abgeschottet von der Außenwelt, unter Polizeiaufsicht wohnte -' ohne einen Haftbefehl (weil offensichtlich haftunfähig), also in einer Art "Schutzhaft" ohne jegliche Rechtsgrundlage.

Erst allmählich, so F.'s verspätet beauftragter und mit erheblicher Verzögerung vorgelassener Anwalt Stephan Baier (Mannheim), als F. langsam wieder zu sich selbst fand, bemerkte er, daß seine vermeintlichen Beschützer und Pfleger in Wirklichkeit Bewacher waren, er sich quasi unter Kontaktsperre in unzulässiger polizeilicher Schutzhaft befand und daß seine Gesprächspartner zu Anklägern geworden waren. Rechtsanwalt Baier wörtlich:

"Es gibt keine andere Begründung dafür, warum F., der in diesen Tagen mit dem Tode noch um das Überleben kämpfte, verhört werden mußte, als die, daß es den Ermittlungsbehörden darauf ankam, für den Fall, daß F. nicht überleben würde, ihm wenigstens so viel wie möglich von seinem Wissen entreißen zu können. Es ging eben darum, wie es der Generalbundesanwalt Rebmann formulierte, 'seitens der Strafverfolgung in die Revolutionären Zellen einzudringen', auch wenn das Mittel zu diesem Zweck im Bewußtsein seiner Verstümmelung und unter den Operationsschmerzen leidend, im Sterben lag... Diese Situation der Hilflosigkeit, der Orientierungslosigkeit und der totalen Abhängigkeit haben die Ermittlungsbehörden in skrupelloser und barbarischer Weise genutzt. Von allen Freunden abgeschirmt, haben sie sich seiner wie eines Leibeigenen bedient. Sie haben sich, als er in seinem Wahrnehmungsapparat völlig zerstört und durcheinander geworfen und in seinem Persönlichkeitserlebnis völlig zerschmettert war, von ihm selbst und von seinem Wissen Besitz ergriffen, ihn wie ein Asservat behandelt und untersucht, ohne Rücksicht auf seine seelische Not in seinem Gehirn geblättert und sich daraus bedient wie in einem Selbstbedienungsladen. Das ist kein Rückfall in finsterste Inquisitionsmethoden des Mittelalters, das ist die Fortentwicklung modernster Verhörtaktik in finsterster Gegenwart."

Diese Vernehmungen sind, nimmt man Verfassung und Strafprozeßordnung als Maßstab noch ernst, unter grober Mißachtung der Menschenwürde (Art. 1 und 2 Grundgesetz) durchgeführt worden. Denn, so das Bundesverfassungsgericht in mehreren Urteilen: "Es widerspricht der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu machen" und einer Behandlung auszusetzen, "die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt" oder die "eine willkürliche Mißachtung der Würde des Menschen" darstellt. Es handelt sich darüber hinaus um verbotene Methoden der Vernehmung gemäß §136a Strafprozeßordnung, eine Norm, die "die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung des Beschuldigten" unter Schutz stellt. Deshalb unterliegen die auf solche Weise erlangten Aussagen von Gesetzes wegen einem absoluten Verwertungsverbot. Für F. selbst sind die "angeblichen Vernehmungsprotokolle... das Ergebnis einer Behandlung, die den Namen Folter verdient": "Ich halte es für aberwitzig, Angaben daraus zu verwenden."

Ein Teufelskreis von Vor-Urteilen: Das Zitierkartell in RZ- Verfahren

Doch dessen ungeachtet beruhen die Feststellungen des Ausgangsurteils in Sachen RZ gegen A./Sch. im wesentlichen auf diesen widerrechtlich erlangten Aussagen des "Kronzeugen" wider Willen, die F. indes längst widerrufen hat. Die fast 1300 Protokoll- Seiten der "Soko" (Sonderkommission) des Landeskriininalamtes Baden- Württemberg sind nämlich bis heute die einzige, wenn auch verständlicherweise reichlich verworrene und widersprüchliche Quelle zur Struktur und Arbeitsweise der RZ geblieben - streckenweise in bester Polizeidiktion verfaßt. Und gerade dieser Umstand macht sie für die Ermittlungsbehörden noch heute so überaus wertvoll. Aus diesen Protokollen haben sie, allen voran die Bundesanwaltschaft, versucht, etwas für sie ganz wesentliches herauszufiltern: daß es sich nämlich bei den so schlecht greifbaren, im Gegensatz zur militärisch straff gegliederten RAF nicht hierarchischen, nur lose organisierten "Feierabend-Terroristen" der verschiedenen autonomen "Revolutionären Zellen" gleichwohl um festgefügte, zentral organisierte und gesteuerte Gruppen handele. Diese Behauptung hat gleich mehrere ermittlungsstrategische, beweis- und prozeßvereinfachende Vorteile:

  • Die eigentlich "diffusen", schwer greifbaren RZ können damit ohne weiteres als "terroristische Vereinigungen" nach §129a Strafgesetzbuch verfolgt werden, der ja ein gewisses Maß der Organisiertheit voraussetzt;
  • ihre Struktur, Arbeitsweise und Ziele gelten ein für allemal als festgestellt;
  • über diese einmal (gerichtlich) festgestellten "Tatsachen" muß kein Beweis im Einzelfall mehr erhoben werden, sie werden stattdessen per Offenkundigkeit tradiert und dienen so als Grundlage für sämtliche Folgeprozesse;
  • damit können, mangels weiterer streitiger Erörterung in der Hauptverhandlung, die politischen RZ-Verfahren praktisch entpolitisiert werden;
  • das Unterstützer- und Sympathisanten-Umfeld kann auf die solchermaßen als "terroristisch" eingestuften Vereinigungen als Kristallisationspunkte bezogen und entsprechend problemlos verfolgt werden;
  • nicht zuletzt können die Ermittlungs-, Anklage- und Gerichtsbehörden im Falle von RZ-Verdacht aufgrund des Prädikats "terroristische Vereinigung" jene Sonderbefügnisse aktivieren, die ihnen die sog. "Anti-Terror-Gesetze" einräumen, um damit ihrerseits nun wirklich zentralistisch gesteuert verfahren und z.B. alle RZ-Verdächtigen auch ohne Haftgrund einsperren zu können.

Aus diesen Gründen war und ist es den Anklagebehörden und Gerichten auch so wichtig, ausgerechnet die dubiosen, nunmehr über zehn Jahre alten Feststellungen aus den erwähnten früheren Urteilen, die sich auf die F.- Protokolle stützten, in den nachfolgenden RZ-Anklagen und -Urteilen nach dem "Prinzip eines Zitierkartells" (Cobler) gebetsmühlenartig "wiederzukäuen" - möglichst ohne weitere Beweisaufnahme. Die zentral handelnde Bundesanwaltschaft liefert in ihren Anklagen jeweils die Vorlage, die von den Oberlandesgerichten in der Regel nur noch nachvollzogen wird: Ein Gericht schreibt dabei vom anderen ab, Zitate von Zitaten von Zitaten...

Dabei werden jene seltenen Urteile, die zu anderen, eher unerwünschten Ergebnissen gelangten, geflissentlich unberücksichtigt gelassen: etwa die Festellungen des Kammergerichts Berlin im seinem Urteil vom 12. Februar 1979 gegen Mitglieder des "Agit- Druckkollektivs", die immerhin in Kenntnis der F.- Protokolle und des Sch./A.- Urteils vom Januar 1979 getroffen wurden - allerdings ohne diese im Wege der Gerichtskundigkeit unbesehen zu übernehmen. Aufgrund einer tatsächlich durchgeführten Beweisaufnahme (u.a. Zeugenvernehmungen) zu der Frage, ob es sich bei den RZ um eine "terroristische Vereinigung" handele, kam dieses Gericht zu folgendem "ketzerischen", aber eigenständigen Urteil: "Die Organisationsstruktur dieser Gruppen ist bisher nicht bekannt. Es läßt sich deshalb nicht ausschließen, daß es sich bei ihnen um Gruppen handelt, die sich jeweils immer nur zu einer Tat zusammenschließen." Allein aus der Art der Delikte könne "nicht mit ausreichender Sicherheit auf eine auf die Dauer angelegte Personenvereinigung geschlossen werden". "Ein Organisationssystem, das mehreren solcher Gruppen übergeordnet ist und sie damit alle zu einer terroristischen Vereinigung zusammenschließen könnte, konnte nicht festgestellt werden."

Dieses Urteil blieb ein Einzelfall, denn es ist der Gnade der "Gerichtskundigkeit" nicht teilhaftig geworden.

Um ihre einmal gerichtsnotorisch herausdestillierte Staatsschutz- Version zur weiteren Verwendung aufrecht erhalten zu können, setzen sich Bundesanwaltschaft und die Mehrzahl der Oberlandesgerichte nicht nur über einzelne querliegende Urteile hinweg, sondern sie negierten auch entgegenstehende Erkenntnisse des Bundeskriminalarntes (BKA), das seit dem 14. März 1979 vom Generalbundesanwalt mit den zentralen Ermittlungen in Sachen RZ und mit der Auswertung aller RZ-Verfahren beauftragt ist. In einem 27-seitigen Bericht, Stand: 14. Dezember 1982, stellt das BKA zum damals bekannten Wissensstand - unter Berücksichtigung der "Aussagen" von F. und sämtlicher einschlägigen Gerichtsurteile - unmißverständlich fest: "Die genaue Struktur der RZ und die Anzahl ihrer Gruppen und Mitglieder haben sich bisher nicht ermitteln lassen" (S.11).

In gewissem Widerspruch zu dieser Erkenntnis wird enttäuscht hinzugefügt: "Dank ihrer Struktur, die nach dem Prinzip weitgehend unabhängig voneinander operierender und gegeneinander abgeschotteter Kleingruppen aufgebaut ist, konnte es ihnen bisher gelingen, sich, bis auf geringe Ausnahmen, dem polizeilichen Zugriff zu entziehen." (S.14).

Im wesentlichen ist dies bis Ende der achtziger Jahre so geblieben. Die Ermittlungsorgane fahnden nach wie vor nach einer verfestigten Organisation namens RZ, haben mittlerweile zwar eine Menge von Taten und Anschlägen aufgelistet, aber es mangelt ihnen an Tätern und Täterinnen. Insofern hat sich offenbar "bewährt", was in der im Juli 1981 erschienenen Untergrundzeitung "Guerilla Diffusa" gepriesen wurde und in dem erwähnten BKA-Bericht (S. 12) so zitiert steht:

"Uberall sind spontane 'Revolutionäre Zellen' entstanden, die es nicht mehr nötig hatten, sich so zu nennen... Jede Gruppe handelt selbstbestimmt, hat keinen Namen und tauscht in losem Kontakt zu anderen Erfahrungen aus.... Wenn wir es schaffen, unlogisch und unberechenbar zu bleiben, wird der perfektionistische BKA-Apparat weiterhin vor einem Berg von unaufgeklärten Kommandoerklärungen stehen."

Angesichts dieser Belegstellen, die eher gegen eine festgefügte Vereinigung im Sinne von §129a StGB sprechen (und hierfür gibt es noch wesentlich mehr Belege), ist es äußerst aufschlußreich, was die Ermittlungsbehörden und Gerichte aus dieser mißlichen Lage der offenkundigen Unkenntnis und Erfolglosigkeit -mithilfe von Offenkundigkeit und §129a StGB - zu entwickeln verstanden. Als Urquelle ihrer Sonder- Erkenntnisse dient den Gerichten in Sachen RZ, wie bereits erwähnt, das Urteil A des OLG Düsseldorf vom 19. Januar 1979: Verurteilt wurden damals zu mehrjährigen Freiheitsstrafen die Angeklagten A. und Sch. u.a. "wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung" und versuchtem Brandanschlag auf ein Kino, das den umstrittenen Film "Unternehmen Entebbe" zeigte. Die (vorbereitende) Tathandlung, die von beiden "Filmkritikern" bestritten worden sein soll, konnte ihnen indes nicht nachgewiesen werden. Eine "Revolutionäre Zelle" hatte die Verantwortung für den mißglückten Anschlag übernommen.

Es war das erste Verfahren nach dem neuen §129a, der 1976 ins Strafgesetzbuch eingeführt worden war - eine recht zweifelhafte Premiere, die den Charakter dieser Vorschrift sogleich offenbarte. Das Gericht ordnete die Angeklagten aufgrund diverser Indizien den "Revolutionären Zellen" zu. Es konnte damit aus dem ihnen zur Last gelegten Versuch einer Straftat ein Organisationsdelikt kreieren, obwohl doch nur zwei angebliche Mitglieder namhaft gemacht werden konnten, eine Vereinigung allerdings aus mindestens dreien bestehen muß. Im abschließenden Urteil gegen A./Sch. heißt es zu dieser ominösen "Vereinigung" lapidar:

"Die Revolutionäre Zelle/ Revolutionären Zellen ... sind eine auf längere Dauer angelegte terroristische Vereinigung mit organisierter Willensbildung, deren Mitglieder sich als einheitlicher Verband fühlen" (S.22).

Diese apodiktische, von keinem Nachweis getrübte Feststellung, die uns noch des öfteren begegnen wird, wurde getroffen, obwohl das Gericht schließlich auch eingestehen mußte, daß "die genaue Struktur" der RZ, "die Anzahl der Gruppen und Mitglieder" sich habe "nicht ermitteln lassen". Insbesondere, so heißt es weiter, "konnte nicht festgestellt werden, daß jeder einzelne Anschlag auf einer zentralen Planung und Steuerung beruht" (S.23) - was für eine Verurteilung nach §129a StGB allerdings Voraussetzung wäre. Doch dieses glaubhafte Eingeständnis zeitigte wenig Wirkung. Gleich im darauffolgenden Satz kriegte das Gericht wieder die Kurve in Richtung einheitliche Organisation, womit sich die Verurteilung nach §129a StGB dann doch begründen ließ: "Gleichwohl zielt die Organisationsform der RZ darauf ab, den gemeinsamen Zweck mit bewußt und absichtlich vereinten Kräften zu erreichen. Die verschiedenen Gruppen der Vereinigung existieren und operieren nach dem Prinzip strenger Abschottung. Nur so vermögen sie sich als illegale Vereinigung zu behaupten."

Diese rechtskräftig gewordenen Feststellungen habe das Gericht, so ist es im Urteil niedergelegt, u.a. aus der RZ-Zeitschrift "Revolutionärer Zorn" bezogen, die neben den Protokollen über die Aussagen von F. zu den wichtigsten Erkenntnisquellen des Gerichts gehört. Nicht in dieses erkenntnisleitende Muster passende Textpassagen wurden dabei allerdings kurzerhand umgedeutet:

"Trotz des erklärten Zieles, Gegenmacht in vielen kleinen, in den verschiedenen Bereichen 'autonom' arbeitenden 'Kernen' zu organisieren, und obwohl sie sich dabei als 'Teil einer Bewegung' sahen (Zorn 75, S.8)", haben sich die RZ "als eigenständiger und einheitlicher Verband" verstanden. Dem widerspreche auch nicht, daß die RZ "hierarchische Strukturen" und "autoritäre Fixierungen" stets abgelehnt und "aus diesem Grunde einen Vereinscharakter von sich gewiesen habe (Zorn April 78, S.3)", und daß alle Angehörigen eines autonomen Kerns dazu angehalten wurden, "bei der Vorbereitung und Durchführung jeder einzelnen Aktion 'gleichberechtigt, selbstbestimmt, absolut vertrauensvoll zusammenzuarbeiten und miteinander umzugehen' (Zorn 75, S.8)".

Auf dieses Urteil A und seine als "Feststellungen" ausgegebenen vagen Vermutungen stützt sich schon drei Monate später das Urteil B des OLG Düsseldorf vom 16. März 1981 gegen den Einzelhandelshandelskaufmann Burkhard M., die erwerbslosen Jürgen K. und Harald N. sowie den Schüler Vincenzo B. Sie wurden u.a. wegen "Werbung für eine terroristische Vereinigung" und Sachbeschädigung zu mehrmonatigen Freiheitsstrafen bzw. Jugendstrafen mit Bewährung verurteilt. Im Urteil scheuten sich die Richter nicht, wortwörtlich von Urteil A abzuschreiben: "Die Revolutionären Zellen sind eine auf längere Dauer angelegte terroristische Vereinigung mit organisierter Willensbildung, deren Mitglieder sich als einheitlicher Verband fühlen" (S.24). Und weiter: "Die Feststellungen zur terroristischen Vereinigung 'Revolutionäre Zellen' ('RZ'), ihrer Organisation und ihren Zielen, der von ihr herausgegebenen Zeitschrift 'Revolutionärer Zorn' sowie zu den von ihr in Verfolgung ihrer Ziele verübten Sprengstoffanschlägen beruhen auf der auszugsweisen Verlesung einer Ausfertigung des rechtskräftigen Urteils des 4. Strafsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 19. Januar 1979 in der Strafsache gegen A. und Sch.... Es bestehen keine Anhaltspunkte, die dem erkennenden Senat Anlaß geben könnten, an der Richtigkeit dieser Feststellungen zu zweifeln" (S.62). Ohne Zweifel also keine korrekte Beweisaufnahme über die beweiserhebliche, beweisbedürftige und beweisfähige Frage der Organisationsstruktur der RZ.

Urteil C des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 2. Juli 1981 gegen den erwerbslosen Joachim Sch., der wegen "Werbung für terroristische Vereinigungen" und Sachbeschädigung zu einer zehnmonatigen Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt wurde, setzte vier Monate später den Reigen fort. Seitenlange, textlich mit den Vor-Urteilen vollkommen identische Passagen finden sich auch in diesem Urteil (S.11ff.). Diese, so heißt es dort in schlichter Klarheit, seien "dienstlich den Mitgliedern des Senats bekannt geworden, somit gerichtsbekannt und damit offenkundig" (S.43). Wiederum wurde im Verfahren das Urteil A auszugsweise verlesen. Bestanden im Urteil B lediglich "keine Anhaltspunkte" zum Zweifel, so bestehen im Urteil C nunmehr "nicht die geringsten Anhaltspunkte, die dem erkennenden Senat Anlaß geben könnten, an der Richtigkeit dieser Feststellungen zu zweifeln." Mit zunehmendem zeitlichen Abstand verringern sich offenbar auch die Zweifel.

Das Urteil D des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 15. Februar 198262 erging gegen zwei Angeklagte, die aufgrund der zweifelhaft zustandegekommenen "Aussagen" Hermann F.'s in Verdacht geraten waren. Die Sekretärin Sylvia H. und die Verlobte F.'s, die Pädagogin Sibylle St., waren angeklagt wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" und wegen diverser Anschläge. Ursprünglich war auch Hermann F. in diesem Verfahren angeklagt; ihm wurde jedoch aufgrund seiner körperlichen und psychischen Verfassung Verhandlungsunfähigkeit bescheinigt, so daß das Verfahren gegen ihn vorläufig eingestellt wurde. Er blieb gleichwohl Mitbeschuldigter.

Der Prozeß verlief also ohne F.'s Anwesenheit, allerdings unter Verwendung der 1300 Protokollseiten, die seine skandalöse Vernehmung erbracht hatte. Er konnte, ja durfte zu seinen folgenschweren "Aussagen" aus jener Zeit keine Stellung nehmen, obwohl er sie längst widerrufen hatte. Es half nichts.

F. konnte noch nicht einmal von seinem zeugenschaftlichen Aussageverweigerungsrecht als Verlobter von Sibylle St. Gebrauch machen, weil er Mitbeschuldigter blieb und nicht als Zeuge geladen wurde. Wäre er Zeuge gewesen, so hätte dies nach der Strafprozeßordnung dazu führen müssen, daß das gesamte Aussagenmaterial der Ankläger auch aus diesem Grunde gesperrt worden wäre und seine früheren Vernehmungen nicht hätten verwertet werden dürfen. Das eben wußten Anklage und Gericht trickreich zu verhindern, indem sie ihn per Senatsbeschluß als Mitbeschuldigten weiterführten, statt ihn zum Zeugen zu machen. F.'s "Aussagen" wurden ihm auf diese Weise förmlich enteignet; sie wurden offiziell ins Verfahren eingeführt und führen seitdem ein justitiell konserviertes Eigenleben, auf das er keinerlei Einfluß mehr hat, das aber noch 1989 ff. unmittelbar mit seinem Namen verknüpft ist. Gerichtsnotorisch, unerschütterlich, (Gegen-) Beweisen weitgehend entzogen.

Gegen die beiden anderen Angeklagten wurde weiter verhandelt. Nach fast anderhalb Jahren Verhandlungsdauer und Untersuchungshaft unter Isolationshaft- Bedingungen mußte Sylvia H. allerdings freigesprochen werden. Die von der Anklage aus den F.chen Vernehmungsprotokollen herausgezogenen Beschuldigungen ließen sich nicht aufrechterhalten. Auch Sibylle St. wurde vom Vorwurf der Mitgliedschaft in einer "terroristischen Vereinigung", den RZ, freigesprochen, gleichwohl wegen "versuchter schwerer Brandstiftung" und "gemeinschädlicher Sachbeschädigung" zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten mit Bewährung verurteilt.

Urteil E: Ein weiteres "Blaupausen-Verfahren" stellt der Prozeß gegen Rudolf R. vor dem Oberlandesgericht Koblenz dar. Auch er wurde angeklagt wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung". Der Verdacht war auf ihn gefallen, weil die Ermittlungsbehörden aus den F.- Protokollen herausfiltern konnten, daß im Mai 1978 ein namentlich unbekannter Mann von Frankfurt nach Mainz gezogen sei, um dort eine neue RZ aufzubauen.

Dieser Rasterpunkt, so später die Anklage, habe auf R. zugetroffen. Der wird daraufhin pausenlos observiert, drei Monate lang, Tag und Nacht. Und tatsächlich hatte er doch früher Kontakt zu Personen, die später als angebliche Mitglieder der RZ polizeilich gesucht wurden. Dem schwer nierenkranken R. bleiben die systematischen, mitunter dreisten Observationen nicht verborgen. Er fühlt sich in Gefahr, verliert die Nerven und fährt, um der seelischen Belastung zu entgehen, Ende 1978 zu Freunden nach Irland, bei denen er vorübergehend lebt.

Dort wird er einige Monate später verhaftet, da jedoch kein Haftbefehl vorliegt, umgehend wieder freigelassen. Der Haftbefehl wird später vom Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof nachgereicht, nachdem R. zwischenzeitlich in einer öffentlichen Kampagne zum hochkarätigen internationalen Top-Terroristen, zu einem Carlos II, aufgebläht worden ist. Angeblich soll er mit der "Irisch Republikanischen Armee" (IRA) zusammengearbeitet und Mord- Anschläge vorbereitet haben: so etwa das IRA- Attentat auf Lord Mountbatten und eine geplante Entführung des Papstes.

Nach diesen schweren Vorwürfen meldet sich R. umgehend mit einer öffentlichen Erklärung, in der er die Anschuldigungen dementiert und seine freiwillige Rückkehr in die Bundesrepublik ankündigt, obwohl er wegen seiner Nierenkrankheit ans Bett gefesselt ist: In seinen Beinen haben sich bereits Wasserödeme gebildet, seine Füße sind stark angeschwollen, so daß er fast unfähig ist, sich fortzubewegen. Er schwebt seit jener Zeit in akuter Lebensgefahr. Die Antwort des BKA auf seine Rückkehr- Erklärung: erhöhter Fahndungsdruck.

Dennoch kehrt Rudolf R., ermutigt durch eine starke Solidaritätskampagne (u.a. für Haftverschonung), im Juni 1980 in die Bundesrepublik zurück, wo er sich in einem Karlsruher Krankenhaus in medizinische Behandlung begibt. Bis zum Urteil muß er fast unerträgliche Wechselbäder aus Haftbefehlen, Haftverschonung, Festnahmen und Entlassungen erleben.

Im September 1980 wird R. u.a. wegen Mitgliedschaft in einer "terroristischen Vereinigung" (der RZ), Rädelsführerschaft und Beteiligung an einem Sprengstoffanschlag angeklagt. Wider alle Erwartungen lehnt der Staatsschutzsenat des OLG Koblenz die Eröffnung des Hauptverfahrens jedoch mit der Begründung ab, der dazu erforderliche hinreichende Tatverdacht liege nicht vor. Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof muß das Hauptverfahren dann dennoch eröffnet werden, allerdings auf Grundlage einer reduzierten Anklage - im wesentlichen wegen Mitgliedschaft in einer "terroristischen Vereinigung", obwohl für diesen Vorwurf keine Beweise vorliegen.

Doch worauf es den Verfolgungsinstanzen in diesem Verfahren entscheidend ankommt, das ist offenbar die neuerliche Festschreibung der RZ als "terroristische Vereinigung" - nach Düsseldorf und Frankfurt nun durch ein drittes Oberlandesgericht. Deshalb die entsprechende Anklage. Parallel dazu fordert Generalbundesanwalt (GBA) Rebmann energisch mehr Kompetenzen für seine Behörde bei der Bekämpfung der RZ: Die Bundesanwaltschaft soll künftig auch dann die Ermittlungen zentral an sich ziehen können, wenn "terroristische" Straftaten begangen werden, ohne daß die Merkmale einer "terroristischen Vereinigung" vorliegen (1987 wurde sein Wunsch erfüllt).

Im Lauf des Verfahrens gegen Rudolf R. vor dem OLG Koblenz werden die vagen Indizien für seine angebliche Mitgliedschaft verhandelt: darunter Aschereste verbrannten Papiers, möglicherweise der RZ-Schrift "Revolutionärer Zorn". Im wesentlichen geht es dann aber um seine politische Gesinnung und Kontaktschuld: R. hat schließlich Personen gekannt, die als Mitglieder der RZ gesucht wurden ("Dunstkreis"). Auch die vagen "Aussagen" Hermann F.'s, die den Fall erst auslösten, spielen eine wesentliche Rolle. Eine konkrete "terroristische" Straftat wird dem Angeklagten aber nicht mehr vorgeworfen.

Ursprünglich sollte der groß geplante und angelegte, mittlerweile aber arg geschrumpfte Prozeß dazu dienen, die RZ- typischen Strukturen und die symptomatischen Lebens- und Verhaltensweisen von RZ- Mitgliedern, die sich bislang nie als solche zu erkennen gaben, genauer als bisher möglich zu erfassen. Damit hätten sie dann detaillierter per Offenkundigkeit fortgeschrieben und so eine einigermaßen reibungslose gerichtliche Bewältigung des Problems für die Zukunft sichern können (FR: "Musterprozeß"; taz: "Pilotverfahren gegen 'Revolutionäre Zellen'"). Die Staatsanwaltschaft forderte, trotz der mageren Verfahrensergebnisse, zwei Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe, anschließende Führungsaufsicht und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf drei Jahre. R.'s Verteidiger Hans- Joachim Weider fordert schlicht und einfach: Freispruch.

Die Rechnung der Staatsschützer von der ermittelnden und anklagenden Fraktion ging diesmal (wieder) nicht auf: Die Anklage brach jäh in sich zusammen, das Gericht weigerte sich, eine Verurteilung auf bloße Indizien zu gründen. Der Angeklagte mußte am 19. November 1982 vom Vorwurf der RZ- Mitgliedschaft freigesprochen werden. Sechseinhalb Jahre später ist Rudolf R. gestorben (am 11. Juli 1989).

Auch in diesem Urteil versäumten es die Oberrichter nicht, Feststellungen über die RZ festzuschreiben und sie der Nachwelt zitierfähig zu hinterlassen. Allerdings in erheblich vereinfachter Form: Die Feststellungen zum Fortbestand der RZ als Vereinigung im Sinne des §129a StGB beruhen, so das Gericht (S.5), auf "Tatsachen", die "zuletzt zusammengestellt" worden seien im Urteil des OLG Frankfurt vom Februar 1982 (Urteil D). Über vierzehn Seiten seines Urteils werden der Einfachheit halber wortwörtlich aus Urteil D zitiert, das seinerseits ja die Feststellungen des OLG Düsseldorf vom Januar 1979 (Urteil A) "zusammengestellt" hatte: ein wahrer Prozeß von "Erforschung der Wahrheit" - statt Beweiserhebung und -würdigung die Zusammenstellung von gerichtskundigen Tatsachen.

Die Macht des zum Urteil erhobenen Vorurteils

Zur vollen Anwendung des Zitierkartells, bestehend aus den Urteilen A bis E, kam es dann in den Jahren 1983/84 in der "Pressesache" gegen den Journalisten Benedikt Härlin und gegen den Studenten Michael Klöckner vor dem 3. Strafsenat des Kammergerichts Berlin. Sie waren angeklagt worden wegen "Werbung für eine terroristische Vereinigung", wegen Billigung von und Aufforderung zu Straftaten - begangen durch Verbreitung der Zeitschrift "radikal", in der u.a. "Bekennerbriefe" der RZ unkommentiert und unzensiert dokumentiert worden waren. Autorenschaft oder konkrete Handlungen konnten ihnen indes nicht vorgeworfen werden.

Das angeklagte Werben für eine "terroristische Vereinigung" ist ja nun logischerweise nur möglich, wenn diese Vereinigung wirklich existiert und als "terroristische" identifizierbar und nachweisbar ist - was sich im Fall der RZ ohne Offenkundigkeitserklärung wohl kaum machen läßt. Das Kammergericht allerdings schien zunächst von dieser Art der Beweisführung nicht viel zu halten. Am ersten und zweiten Verhandlungstag führte es in zwei Beschlüssen vollkommen korrekt aus, daß es hinsichtlich der entscheidungserheblichen Struktur der RZ als einer Vereinigung im Sinne des § 129a StGB noch keine sichere Überzeugung besitze, sondern lediglich einen entsprechenden Verdacht hege. Dies zu ergründen, so das Gericht, bleibe der Beweisaufnahme vorbehalten: "Die Angeklagten haben auch insoweit die Gelegenheit zu ausreichender Verteidigung."

Am 24. Hauptverhandlungstag verkündete das Gericht dann aber, ohne Erörterung, in einem neuen Beschluß: Der Senat "weist darauf hin, daß er Existenz, Aufbau, Tätigkeit und Ziele der 'Revolutionären Zellen' als gerichtskundig ansieht." Plötzlich wurde also auf unerfindliche Art und Weise, ohne Beweisaufnahme, als gerichtskundig und damit nicht beweisbedürftig deklariert, was vom selben Gericht noch in den ersten Verhandlungstagen als ungewiß und damit als unbedingt beweisbedürftig bezeichnet worden war. Damit wurde den überrumpelten Angeklagten der Boden für eine sinnvolle Verteidigung entzogen.

Am 1. März 1984 erkannte das Kammergericht Berlin wegen der angeklagten Delikte auf je zweieinhalb Jahre Freiheitsstrafe. Dieses horrende Urteil, wie überhaupt das gesamte Verfahren, provozierte heftige öffentliche Kritik ("Im Zweifel gegen die Angeklagten", Verurteilung "ohne zureichende Beweise", "Fehlurteil", "Angriff auf die Pressefreiheit"). Im Urteil heißt es zu den RZ lapidar und ohne jeglichen Quellenverweis: "Die festgestellten Tatsachen über Existenz, Aufbau, Tätigkeit und Ziele der 'Revolutionären Zellen' sind gerichtskundig" (S.206). Also konnte auch für sie im strafrechtlichen Sinne geworben werden.

In späteren RZ- Verfahren wurden demgegenüber, entsprechend der jeweiligen gerichtlichen Offenkundigkeitserklärungen, vier bis fünf der erwähnten Plagiats- Vor-Urteile auszugsweise verlesen. Auch wenn die Anklage - wie etwa im Strobl- Verfahren - mit dem Vorwurf der Mitgliedschaft Schiffbruch erlitt, so wurden auf diese Weise doch die gerichtsbekannten "Erkenntnisse" über die "terroristische Vereinigung 'Revolutionäre Zellen'" perpetuiert und für künftige Verfahren konserviert.

Die Ermittlungs- und Anklagebehörden können also trefflich weiter operieren mit jenen per gerichtlicher Offenkundigkeit zementierten Staatschutzlegenden aus grauer Vorzeit; sie können auf dieser von ihnen selbst vorstrukturierten, nunmehr gerichtlich festgeschriebenen Grundlage weiter großflächig kriminalisieren, ausgedehnt im "terroristischen Umfeld" ermitteln, stereotype Anklagen verfassen und politisch Mißliebige per Haftbefehl mit vorgestanzten "Begründungen" aus dem Verkehr ziehen.

Und die Gerichte können sich in künftigen "Terrorismus"-Verfahren weiterhin auf jene sondergerichtlich herausgebildeten "Wahrheits"-Konstrukte beziehen, indem sie die öffentliche Beweisaufnahme durch Offenkundigkeitserklärungen ersetzen und das "Beweisergebnis" auf diese Weise antizipieren. Die "Einheitlichkeit" der Politischen Justiz in Sachen "Terrorismus" und ihre Entpolitisierung bleiben somit gewährleistet: Das Zitierkartell bürgt für Kontinuität und dafür, daß der wesentliche Gehalt politischer Auseinandersetzungen nicht im Gerichtssaal ausgetragen wird. Die in Wahrheit stetem Wandel unterliegenden Tatsachen und Vorgänge der Zeitgeschichte, mit denen wir es in den sog. Terrorismus- Verfahren zu tun haben, werden konserviert. Der heftig umstrittene politische Konfliktstoff wird der Hauptverhandlung entzogen und nicht mehr hinterfragt. Das staatstragende Vorurteil wird zum Urteil, das seinerseits wiederum das gerichtliche wie außergerichtliche Vorurteil stärkt und zum neuen Vor-Urteil aufsteigt.

Den betroffenen Angeklagten und ihrer Verteidigung werden mit diesen Beweisumgehungen die Kontrollmöglichkeiten in bezug auf die gerichtliche Überzeugungs- und (Vor-) Urteilsbildung vorenthalten und das verfassungsrechtlich garantierte rechtliche Gehör verwehrt; die Grundsätze der Öffentlichkeit, Unmittelbarkeit und Mündlichkeit des Strafverfahrens sind dadurch schwer beeinträchtigt; von einem "fairen Prozeß", wie ihn die Verfassung proklamiert, kann auch insoweit keine Rede sein.

Offenkundigkeitserklärungen in RAF-Verfahren

Die schamlose Berufung auf die Entbehrlichkeit der Beweiserhebung wegen "Offenkundigkeit" (und seltener wegen "Wahrunterstellung") bestimmter "Tatsachen" ist ein entscheidendes Strukturelement Politischer Justiz und spielt eine zentrale Rolle in allen sog. Terrorismusverfahren. Auch in Verfahren gegen mutmaßliche Mitglieder und Unterstützer der "Rote Armee Fraktion" sowie gegen RAF-"Werber" kommt es regelmäßig zu seitenlangen Offenkundigkeitserklärungen der damit befaßten Gerichte, die sich auf "Erkenntnisse" zahlreicher früherer RAF-Urteile stützen. Diese beziehen sich im wesentlichen auf folgende, hier beispielhaft zitierten Festellungen (Auswahl):

1. RAF = "terroristische Vereinigung" nach §129a StGB

"Es ist offenkundig, daß die RAF eine terroristische Vereinigung ist, denn mehrere Personen sind wegen Mitgliedschaft in ihr, die damals allerdings noch eine kriminelle Vereinigung im Sinne des §129 StGB war, rechtskräftig verurteilt worden. Diese terroristische Vereinigung besteht auch fort." (Urteil des Kammergerichts Berlin vom 12. Februar 1979 gegen Mitglieder des "Agit-Druck-Kollektivs").

"Die 'RAF' ist eine terroristische Vereinigung im Sinne der genannten Vorschrift (§129a StGB). Die Vereinigung, ein seit längerer Zeit bestehender Zusammenschluß von mehr als zwei Personen, verfolgt bei Unterordnung ihrer Mitglieder unter den Willen der Gesamtheit den gemeinsamen Zweck, durch bewaffneten 'antiimperialistischen Kampf', durch 'Guerillakrieg' die bestehende Staats- und Gesellschaftsform ... zu zerstören. Die Mitglieder stehen untereinander derart in Beziehung, daß sie sich als einheitlicher Verband ... fühlen. Sie wollen ihre Zielvorstellungen gegebenenfalls unter rücksichtsloser Anwendung von Waffengewalt verwirklichen." (Urteil des OLG Stuttgart vom 2. April 1985 gegen Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar).

2. Zu Entstehung, Entwicklung und Ziele der RAF

"Geschichte, allgemeine Zielsetzung und Struktur der 'RAF' sind allgemein- und gerichts-kundig." (Urteil des OLG Stuttgart vom 6. Dezember 1985 gegen Claudia W. u.a.)

"Die Feststellungen zu Entstehung, ideologischem Hintergrund, Entwicklung und Zielen der 'RAF' sowie zu Aktivitäten ihrer Mitglieder bis in die Gegenwart sind als zeitgeschichtliche Vorgänge allgemeinkundig, in ihren Einzelheiten gerichtsbekannt. Insoweit gründen sie sich auf Erkenntnisse, die der Senat in vielen bereits verhandelten Strafsachen vorzugsweise gegen Angehörige oder Unterstützer der 'RAF' sowie durch Kenntnisnahme einer Fülle von Entscheidungen anderer Gerichte zuverlässig gewonnen hat." (Urteil des OLG Stuttgart vom 2. April 1985 gegen Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar)'

"Seit 1970 besteht ... eine von ihren Mitgliedern ....'RAF' genannte terroristische Vereinigung, die sich die Zerstörung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung unter anderem durch Gewalttaten wie vor allem Morde, Sprengstoffanschläge und Raubüberfälle zum Ziel gesetzt hat." (Ebda., S.13)

"Daß die terroristische Vereinigung 'RAF' auch gegenwärtig fortbesteht, ist allgemein-kundig: In den Monaten ab Dezember 1984 sind in ihrem Namen eine Reihe von Bombenanschlägen ausgeführt worden." (Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 21. Januar 1986 gegen Elizabeth M.).'

3. RAF -Verhaltensmaßregel: "Schießbefehl"

"Die Verhaltensmaßregeln für das Leben im Untergrund, nach Möglichkeit eine drohende polizeiliche Festnahme durch - notfalls auch tödlichen - Schußwaffengebrauch zu verhindern, werden von allen Mitgliedern getragen." (Gerichtliche Offenkundigkeitserklärung des OLG Stuttgart im Klar/ Mohnhaupt-Vetfahren, ähnlich u.a. im Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 21. Januar 1986 gegen Elizabeth M., 5. 8)

4. RAF - Organisation auf unterschiedlichen Ebenen

"Legale RAF": die in der Legalität operierenden (mutmaßlichen) Mitglieder der RAF. Die "Illegalen": die im Untergrund lebenden Mitglieder der 'RAF'. (s. dazu Offenkundigkeitserklärung des OLG Stuttgart in der Strafsache Ingrid J., S. 3)

"RAF im Knast": "Die terroristische Vereinigung RAF bestand auch in der Haft weiter fort. Die inhaftierten Mitglieder fühlten sich weiterhin als Angehörige der Organisation und kämpften für deren terroristische und revolutionäre Ziele" (u.a. mit Hungerstreik!Erklärungen). (Urteil des HansOLG Hamburg gegen Elizabeth M., 5. 12ff)

5. Zum Hungerstreik der Gefangenen aus der RAF

"Die hungerstreikenden Gefangenen ... sahen im Hungerstreik den Kampf für ihre Ziele, verstanden sich als Einheit mit der in Freiheit befindlichen 'RAF' und führten mit ihr den Kampf einheitlich 'drinnen und draußen'. Auch die in Freiheit befindlichen Mitglieder der 'RAF' faßten den Hungerstreik so auf und nutzten ihn im geschilderten Sinne für ihre Zwecke als Ausdruck und Form einheitlichen Kampfes."

"Die Feststellungen zum Hungerstreik 1981 beruhen auf gerichtskundigen Tatsachen. Die Mehrzahl der Mitglieder des Senats war bereits in der Vergangenheit mit Strafverfahren befaßt, die sich gegen Personen richteten, denen Straftaten nach §129a bzw. § 129 StGB vorgeworfen wurden, die mit jenem Hungerstreik zusammenhingen und dessen Orientierung wie Ziele erkennen und feststellen ließen. Darüber hinaus sind dem Senat Urteile anderer Oberlandesgerichte dienstlich bekannt geworden, die gleichartige Straftaten von Mitgliedern oder Unterstützern der 'RAF' betrafen und gleichermaßen zur Feststellung der auf Unterstützung der 'RAF' angelegten Zielsetzung des Hungerstreiks führten. Gerichtskundig ist es ebenso, daß die in den Vollzugsanstalten einsitzenden Angehörigen der 'RAF' ... den revolutionären Kampf auch im Gefängnis fortsetzten und ihn mit der Forderung nach Zusammenlegung nach draußen zu tragen beabsichtigen." (Urteil des HansOLG Hamburg gegen Elizabeth M., 5. 12f., 21f.)

6. "Freitod" von Gefangenen aus der RAF...

"... Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Gudrun Ensslin nahmen sich in der Nacht vom 17. auf 18. Oktober 1977 in ihren Zellen in der Vollzugsanstalt Stuttgart das Leben." (Offenkundigkeitserklärung des OLG Stuttgart im Klar/Mohnhaupt-Ve,fahren89 sowie Urteil des OLG Stuttgart vom 21. März 1989 - 6 0Js 47/78 -‚ bestätigt durch BGH- Beschluß vom 6. Juli 1981 - 3 StR 451/81)0

"Der Senat erachtet für allgemeinkundig, daß der Gefangene Sigurd Debus am 16. April 1981 an den Folgen seines Hungerstreiks (nicht etwa an der durchgeführten Zwangsernährung; R.G.) starb, mit dem er sich am Anfang Februar 1981 begonnenen kollektiven Hungerstreik der 'Gefangenen aus der RAF' beteiligt hatte." (Offenkundigkeitserklärung des OLG Stuttgart in der Strafsache J. u.a., S.3)

7. Kollektivitätsthese gegen links: Mitgegangen - mitgefangen

Auch diese sich ganz besonderer Beliebtheit erfreuende These erbt sich per Gerichtskundigkeit von Anklage zu Anklage, von Urteil zu Urteil weiter: Die RAF sei nach dem "Prinzip der Kollektivität" organisiert, alle Mitglieder seien gleichermaßen informiert und an allen Entscheidungen prinzipiell gleichrangig beteiligt. So u.a. zu lesen in den Anklagen und Urteilen gegen Angelika Speitel (1979), Stefan Wisniewski (1981), Sieglinde Hofmann (1982), Peter-Jürgen Boock (1984), Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar (1985), Rolf-Clemens Wagner und Adelheid Schulz (1987) usw.

"In ihr (der RAF; R.G.) herrschte und besteht Einigkeit darüber, die gesetzten Ziele kollektiv zu verwirklichen. Jeder einzelne soll hieran mitwirken; sein Handeln hat er an den gemeinsam zu fassenden Entschlüssen auszurichten." (Gerichtliche Offenkundigkeitserklärung des OLG Stuttgart im Klar/Mohnhaupt-Verfahren 1984)

"Ziele und Strategien werden ebenso wie die bewaffneten 'Aktionen' nach vorangegangener Diskussion vom Kollektiv für alle verbindlich festgelegt. Die Willensbildung selbst geschieht nach dem Grundsatz der Gleichberechtigung aller Mitglieder... 'Aktionen' werden von langer Hand geplant, sorgfältig vorbereitet und nach einer genau durchdachten, gemeinsam erarbeiteten Aufgabenteilung durchgeführt. Dabei sind alle Teilnehmer einer 'Aktion' an Planung, Vorbereitung und Ausführung gleichrangig beteiligt und hierfür verantwortlich..." (Urteil des OLG Stuttgart gegen KlarlMohnhaupt, S.15; sinngemäß auch etwa im Urteil des OLG Stuttgart vom 6. Dezember 1985 gegen Claudia W. und im Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 21. Januar 1986 gegen Elizabeth M.)

Diese "Erkenntnis", die der 'Realität in keiner Weise standhält', wurde Ende der siebziger Jahre unter ähnlich zweifelhaften Bedingungen gewonnenen wie die Gerichtsbekannten Glaubenssätze über die "Revolutionären Zellen" (u.a. Vernehmung der verletzten Angelika Speitel im Krankenhaus von Polizisten, die äußerlich nicht von medizinischem Personal zu unterscheiden waren). Gleichwohl basiert darauf eine Haftungskonstruktion, wonach alle Mitglieder der RAF- Kommandoebene für alle während ihrer Mitgliedschaft von der Gruppe begangenen Taten strafrechtlich zu haften haben - gleichgültig, ob sie nun im Einzelfall tatsächlich davon wußten bzw. diese billigten, an ihnen gar unmittelbar tatausführend beteiligt waren oder nicht (Beispiel: Urteil gegen Peter-Jürgen Boock).

"Aus dem bereits dargelegten Prinzip der Kollektivität folgt, daß seine Mitglieder diese Tat (hier Schleyer- Entführung und -Ermordung; R.G.) erst nach eingehender Diskussion unter Billigung aller beschlossen haben und daß auch die Aufgabenverteilung bei deren Vorbereitung und Durchführung bis zur Billigung durch alle erarbeitet worden ist." (Klar/ Mohnhaupt- Urteil, S.269; Hervorhebungen durch das Gericht).

Diese bisher nirgends normierte, systematisch praktizierte Beweisvereinfachung findet ihre Wurzel im Organisationstatbestand des §129a StGB; einmal vom Staatsschutz konstruiert, wird diese "Kollektivitätsthese" über die Gerichtskundigkeit, also ebenfalls per Beweisumgehung, seit über einem Jahrzehnt von RAF- Verfahren zu RAF- Verfahren weitertradiert. Wir haben es also hier mit einer doppelten Beweisumgehung zu tun, mit zwei sich ergänzenden und gegenseitig verschärfenden Strukturelementen der Politischen Justiz gegen "Terroristen".

Die behauptete Kollektivität der RAF erübrigt den Ermittlungsbehörden und Gerichten im konkreten Einzelfall einen individuellen Straftat- Nachweis gegen die Angeklagten und hilft ihnen so über die regelmäßig offen zu Tage tretenden Beweisnöte hinweg (wer war für was verantwortlich?). Es ist dann im wesentlichen nur noch erforderlich, die Mitgliedschaft nachzuweisen und eine Mittäterschaft indiziell zu konstruieren.

Allerdings gibt es auch hier - wie bei den RZ-Verfahren - durchaus widersprüchliche Urteils- Feststellungen und seltene Variationen des ansonsten feststehenden Prinzips.

So wird in einem Urteil des OLG Frankfurt vom 18.7.1985 gegen Gisela D. (1 StE 1/84, S. 298, 316) der Kollektivitätsthese (auch "Gruppentheorie" genannt) eine klare Absage erteilt; sie wird in diesem Verfahren konsequenterweise nicht per Gerichtskundigkeit übernommen.

Dieses Urteil blieb allerdings eine Ausnahme. Nach wie vor gilt das Kollektivitätsprinzip in RAF-Verfahren fast uneingeschränkt. Hatte "Der Spiegel" zum Urteil im großen Stammheimer Verfahren gegen Baader u.a. im Jahre 1977 noch das "'Stammheimer Landrecht', wie die Stuttgarter Art des eher großflächigen Schuldnachweises bespöttelt wurde" schaff kritisiert, hatte die "Stuttgarter Zeitung" damals noch konstatiert, daß "unser Recht... keine Kollektivschuld" kennt, also "jedem einzelnen ... seine Tatbeteiligung nachgewiesen werden" muß, so müssen wir nach anderthalb Jahrzehnten feststellen, daß sich dieser "Sonderfall Stammheim" ("Der Spiegel") bis heute gehalten hat und längst zum Normalfall "Modell Stammheim" geworden ist.

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