|
Ein Freund, ein guter Freund
BESONDERS, WENN LIEBE DRIN IST - Bücher im Knast
(aus Freitag 42)
Selten war ich so froh über ein mitgenommenes Buch wie nach meiner
Verhaftung. Ich hatte mir aus dem Regal von Lu Strauß- Ernst Nomadenleben
gegriffen. Die Frau des Malers Max Ernst schildert darin ihre Kindheit,
die ersten aufregenden und verliebten Jahre an seiner Seite, ihre
Verzweiflung an seinen Eskapaden und ihre eigenen Schritte, sich
und den Sohn durchzubringen, eine berufliche Karriere aufzubauen.
Vor den Nazis flieht sie nach Paris, rettet sich für einige Zeit
nach Südfrankreich, wo sie auf das Visum für die USA warten muss.
Dies erreicht sie nicht mehr, sie wird mit einem der letzten Transporte
in den Tod deportiert. Es war nicht allein dieses Leben, was dann
eigene Sorgen ziemlich bedeutungslos erscheinen lässt. Es hat mich
auch über die Zeit gebracht, die ich auf einer Holzpritsche, in
einer fensterlosen Zelle und bei künstlicher Dauerbeleuchtung rumbringen
musste. Und auch die drei verranzten Bücher, die auf dem Bett der
Zelle der Eingangsstation im Moabiter Knast lagen, hatten diese
Funktion: Zeit totschlagen. Etwas zu lesen, um das zermürbende Grübeln
der ersten Tage in den Griff zu bekommen. Mein leichter Hang zum
Aberglauben sah es als posivites Zeichen an, dass darunter ein Buch
mit Kurzgeschichten von Böll war. 16 Monate später ist diese Hoffnung
deutlich erschüttert.
Unter den Informationen, die einem als Gefangenem ausgehändigt
werden, ist auch ein Merkblatt zur Buchausleihe. Die Untersuchungshaftanstalt
Moabit hat die Bücherei als Bestellbücherei organisiert, erfährt
man. Es gibt zwei Kataloge: Belletristik und Sachbücher. Pro Woche
können drei Titel Belletristik und fünf Fachbücher ausgeliehen werden.
Die gewünschten Bücher meldet man schriftlich an, empfohlen wird
für Belletristik das Zusammenstellen einer Wunschliste. Der Belletristik-Katalog
ist alphabetisch nach Autoren geordnet. Er startet mit Karen Aaybe
Wir, die wir das Leben lieben und endet bei Cizia Zyke Oro.
Dazwischen sind 8.620 Titel verzeichnet. Die meisten Autorennamen
beginnen mit "S" (1.137), gefolgt von 811 B's. Ob diese
Namensverteilung typisch ist, weiß ich nicht. Dominanter Autor ist
Konsalik (200mal). Aber es findet sich eigentlich alles, was in
der Literatur, vorwiegend der deutschsprachigen, einen Namen hat.
Natürlich darf es nicht zu aktuell sein. Und das macht auch schon
das Dilemma des Katalogs deutlich. Man kann nur auswählen, was man
kennt. Oder man lässt sich durch einen Titel inspirieren und setzt
auf Breite bei der Wunschliste.
Der Sachbuchkatalog ist nach Rubriken unterteilt. 18 an der Zahl.
Von "Biographien" bis "Wirtschaft". Die meisten
Titel finden sich unter "Geschichte/Politik" (1.146),
umfangreich ist auch "Erdkunde/Reisen" bestückt (650).
Eher durchschnittlich die Menge der Bücher zum Gebiet "Recht"
(275). Und bis man unter den insgesamt 5.722 Büchern den Rat
für die Ratlosen (Rubrik Bewusstsein) gefunden hat, kann es
etwas dauern. Aber Zeit ist im Knast nicht das Problem.
Ein Problem ist es eben, dass mit diesen mageren Katalogangaben
kaum eine sinnvolle Wahl getroffen werden kann. Welche Suchstrategie
man auch anwendet, der Zufall wird eine große Rolle spielen.
Ob es Untersuchungen gibt, von wem welche Bücher mit welcher Absicht
ausgeliehen werden, weiß ich nicht. Neben offensichtlichen Gründen
(zum Beispiel zum Gebiet Recht) gibt es ein deutliches Bildungsbedürfnis,
allerdings eher allgemein gehalten. Ich habe mir zum Beispiel Bücher
zum Thema "Wetterkunde" ausgeliehen, was praktisch für einen Inhaftierten
nicht so eine große Rolle spielt, mich aber eben schon immer mal
interessiert hat. Viele starten ihren Zwangsaufenthalt auch mit
der Absicht, eine Sprache zu erlernen. Allerdings ist es mit dem
Durchhalten schwer, weil ergänzende Sprachkurse im Gruppenangebot
selten sind.
Bei der schönen Literatur gibt es die Genre-Spezialisten, die natürlich
ihre Autoren kennen oder sich gegenseitig weiterempfehlen. Schwerpunkt
dürften Science-Fiction und Krimis sein. Ich vermute aber, dass
das allgemeine Interesse an ablenkender Unterhaltung überwiegt.
Ein Kollege formulierte das einmal so: Ich mag historische Romane,
besonders wenn was mit Liebe drin ist. Ich kenne und teile diese
Vorliebe von langen Bahnfahrten. Meine diesbezügliche Lieblingsautorin
ist Tanja Kinkel, im Katalog leider nur mit einem Buch vertreten.
So eine Art Feuchtwanger für Arme. Es gibt keinen Grund, sich über
diese Vorlieben lustig zu machen. Gerade in den ersten Wochen der
Haft, bevor man es geschafft hat, sich mit einem Radio und einem
Fernseher zu versorgen, ist Lesen die einzige Ablenkung. Mir ging
es jedenfalls so, dass mich anspruchsvolle Lektüre nicht so in ihren
Bann ziehen konnte, als dass ich aus meinen eigenen Gedankenkreis-
und -irrläufen herausgekommen wäre. Was Konsalik und Simmel spielend
geschafft haben. Ich habe große Hochachtung vor den Kollegen, die
in der Belletristik das Bildungsprogramm absolvieren, was ich mir
mit manchem Sachbuch auferlegt hatte. Und sich durch die Palette
der Klassiker wühlen, die deutschsprachigen oder die epischen Russen.
Augenblicklich lese ich parallel. In Ruhe auf meiner Zelle bin
ich gerade ganz begeistert von Mankell Die weiße Löwin gewesen.
Eine Geschichte um ein Attentat auf Nelson Mandela, das in Schweden
vorbereitet wird. So dass es Elemente der schwedischen Krimis mit
Szenen in Südafrika verbindet. Und da ich während des Prozesses
immer in den Pausen und vor Beginn und zum Ende der Verhandlung
die Zeit in einem zwei Quadratmeter kleinen Loch verbringen muss,
lenke ich mich dort mit eher essayistischen Werken ab. Max Goldt
kam gut. Zur Zeit hilft mir Ryszard Kapuscinski mit Afrikanisches
Fieber. Sehr einfühlsame und detailgenaue Reportagen aus Afrika
von 1958 bis 1998 des polnischen Auslandskorrespondenten.
Ein besonderes Problem ist die völlig unzureichende Versorgung mit
nicht-deutschsprachigen Büchern. Gerade bei den Zahlenverhältnissen
in Moabit, wo zirca 60 Prozent ausländische Gefangene einsitzen.
Da dieser Gruppe auch der Bezug fremdsprachiger Zeitungen und Zeitschriften
aus "Sicherheitsgründen" erschwert wird, fremdsprachige Fernsehprogramme
über Antenne nicht empfangen werden können (Kabel- oder Satellitenfernsehen
gibt es derzeit nicht), bleibt ihnen zur Unterhaltung nur der Kurzwellenempfang
im Radio.
Neben der Möglichkeit, sich Bücher auszuleihen, kann man welche
käuflich erwerben. Im Versandbuchhandel. Aus Sicherheitsgründen
ist nämlich das viel praktischere Verfahren, sich gelesene Bücher
von Freunden schicken zu lassen, untersagt. So kursieren Prospekte
und Kataloge auch von Verramschern à la 2001. Und Listen
von Spezialanbietern. Für Comics beispielsweise, die in der Bücherei
nicht erhältlich sind. Oder für erotische Literatur. Wobei es für
mich so aussieht, als ob es kein literarisches Angebot gäbe. Was
ich bekommen habe, waren zusammengeschusterte Machwerke der "Fick-mich-tiefer/-fester/-schneller"-Sorte.
Eine wohltuende Ausnahme war Anäis Nin mit Delta der Venus.
Ähnlich steht es um erotische Darstellung der nicht geschriebenen
Art, üblicherweise Pornos genannt. Im Knastjargon heißt es "Schwingen".
Ich weiß nicht, ob es anspruchsvolle Pornographie gibt, weil mich
draußen diese Problematik nicht sehr interessiert hat. Hier wird
mit allem gehandelt, was auch sonst oberhalb und unterhalb der Ladentische
angeboten wird. Da die entsprechenden Publikationen frei erhältlich
sind, sind die Handelspreise ähnlich wie die offiziellen Ladenpreise.
Untersagt ist alles, was auch draußen verboten ist. Die Heftchen
folgen dem "viel-hilft-viel" des Volksmundes, bezogen auf Brust-
und Gliedumfang oder auch Anzahl derselben. Ungefähr so lustvoll
und phantasiereich wie gynäkologische Fachzeitschriften. Hauptsache
in Farbe. Jedenfalls kann man nicht sagen, dass die diesbezügliche
sexuelle Not erfinderisch machen würde, die Bilder sind nicht einmal
fototechnisch reizvoll. Dennoch liegt das Interesse daran auf der
Hand.
Auf andere Art handfest ist mein Interesse an Büchern geworden,
seit ich in der Buchbinderei arbeite. Im Knast gibt es ja eine ganze
Reihe von Arbeitsbetrieben, nicht nur zur Selbstversorgung. Für
Gefangene ist die Arbeit vorteilhaft, weil sie aus der Zelle raus
und unter Menschen kommen. Und ein paar Mark verdienen (ich im Juli
259,63 DM). Und wenn man Glück hat, macht die Arbeit sogar Spaß.
Ich hatte Glück. Natürlich ist die Moabiter Buchbinderei nicht mit
einer industriellen gleichzusetzen. Hier werden hauptsächlich Reparaturen
ausgeführt, weil ja alles in Handarbeit erfolgt. Kunde ist die eigene
Bücherei. Aber auch öffentliche Büchereien und Schulen. Und es werden
einzelne Bücher gefertigt. Meistens Jahrgangsbände von Fachzeitschriften.
Das geht folgendermaßen: Die Hefte werden ihrer Umschläge, Reklameseiten
oder Beiheftern und alten Heftklammern entledigt. Dann werden sie
geheftet (mit Nadel und Faden von Hand genäht) oder bei beschnittenen
Rücken werden sie geklebt. Es werden Vorsätze zurechtgeschnitten,
das sind die Seiten, mit denen das Buch an der Einbanddecke festgeklebt
wird, und die dann zwischen Deckel und Buch sind. Die Einbanddecke
wird aus Pappe zugeschnitten (wenn das eigentliche Buch fertig abgeleimt
und beschnitten ist, damit das Maß stimmt). Die Pappdeckel werden
miteinander verbunden und beklebt. Mit Papier, Stoff, Kunstleder
et cetera. Die fertige Einbanddecke wird dann geprägt. Die meisten
Kunden bevorzugen einen dunklen Einband und goldene Schrift, weil
beides das seriöse Image unterstreicht. Zum Schluss wird das Buch
in die Decke gehängt (geklebt). Fertig.
Da derzeit eine leichte, sommerlich typische produktive Flaute herrscht
- der 2000er Jahrgang ist gebunden, der 2001er reift noch im Regal
- darf ich mich mit den Vorarbeiten fürs Restaurieren alter Schätze
aus den Kellern des Kriminalgerichts beschäftigen. Zum Beispiel
den Blättern für Gefängniskunde, dem Vereinsorgan der Justizbeamten
der Jahre 1921 - 1943. Und ein schneller Blick auf das Inhaltsverzeichnis
lässt ahnen, dass die Strafrechtsreform in den Jahren nicht wirklich
vorangekommen ist. Zumindest gleichen sich die Themen.
Ich will einen Artikel über Bücher im Knast nicht ohne
Leseempfehlung beenden. Sie gilt Marge Piercy, Menschen im Krieg.
Ein lesenswertes Buch auch für Menschen, die ihre Zeit nicht
totschlagen müssen.
Matthias Borgmann, ehemals Leiter des Auslandsamtes der TU-Berlin
wurde am 18. 4. 2000 in Berlin verhaftet und sitzt seitdem in Untersuchungshaft.
Es wird gegen ihn und fünf weitere Personen, die alle ebenfalls
in Haft sitzen, wegen §129a "Mitgliedschaft in einer terroristischen
Vereinigung", unter anderem konkreter Beteiligung an zwei Sprengstoffanschlägen
(1987 Anschlag auf die Zentrale Sammelstelle für Asylbewerber
und 1991 auf die Siegessäule in Berlin) ermittelt. Die Beschuldigungen
stützen sich allein auf die Aussage eines Kronzeugen, der selber
dieser Anschläge, der Mitgliedschaft nach 129a und der Rädelsführerschaft
beschuldigt wird. Er hat sich als Kronzeuge zur Verfügung gestellt,
befindet sich mittlerweile auf freiem Fuß und kann mit Straffreiheit
neuer Identität und finanzieller Unterstützung durch die
staatlichen Behörden rechnen. Der Prozess findet derzeit vor
dem Berliner Kammergericht statt.
|